Noch ist überhaupt nicht klar, ob und falls ja, unter welchen Umständen Sami A. nach Deutschland zurückkehrt. Die Stadt Bochum und das Land Nordrhein-Westfalen versicherten zwar, die Entscheidung des Oberverwaltungsgericht Münster zu akzeptieren, dass der als Gefährder eingestufte Mann zurückgeholt werden müsse, sicherten zu, ihm einen Aufenthaltstitel zu besorgen und auch die Kosten für den Rückflug zu übernehmen, doch dazwischen steht noch die Frage, ob Tunesien seinen Staatsbürger überhaupt ausreisen lässt. Ungeachtet jedoch dieser konkreten Fragen, geht die grundsätzlich Debatte, die sich an diesem Fall entzündet hat weiter. Im Mittelpunkt steht dabei der nordrhein-westfälische Integrationsminister Joachim Stamp von der FDP, in dessen Verantwortungsbereich die nun als "offensichtlich rechtswidrig" eingestufte Abschiebung fällt. Der Fall werfe Fragen zu Demokratie und Gewaltenteilung auf, sagte Ricarda Brandts, die Präsidentin des Oberverwaltungsgerichts in Münster, dass gestern eben jene Rückholung-Entscheidung bestätigt hatte, in einem bemerkenswerten Interview mit der Deutschen Presse-Agentur.
Grenzen des Rechtsstaates ausgetestet?
Hier wurden offensichtlich die Grenzen des Rechtsstaates ausgetestet, so Brandts, dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen seien Informationen bewusst vorenthalten worden. So hätten die Behörden verhindern wollen, dass die Justiz rechtzeitig ein Abschiebeverbot verhängen konnte. Brandts riet ihren Kollegen deshalb, sich vorerst auf Zusagen von Behörden nicht mehr in jedem Fall zu verlassen. Ähnlich argumentierte auch Thomas Kutschaty, der SPD-Oppositionsführer im nordrhein-westfälischen Landtag:
"Die Behörden in Nordrhein-Westfalen genießen einen großen Vertrauensvorschuss bei Gericht. Wenn ein Richter in irgendeiner Behörde anruft, dann hat er sich bislang immer darauf verlassen können, auch die vollständigen Informationen zu bekommen, die vollständige Wahrheit zu hören. Das hat Minister Stamp verhindert, ganz bewusst ist sogar die Ausländerbehörde in Bochum, wie wir jetzt erfahren, angewiesen worden, dem Gericht nicht den Abschiebetermin mitzuteilen. Diese Anweisung kam aus dem Integrationsministerium, kam aus dem Hause Stamp und das ist ein gehöriger Skandal für mich."
So Kutschaty, selbst sieben Jahre Justizminister in NRW, heute Morgen im Deutschlandfunk. Während die Grünen in NRW bereits Stamps Rücktritt fordern, sagte Kutschaty:
"Ich rate Herrn Stamp, sich Gedanken zu machen, ob das alles so richtig gewesen ist, sein Verhältnis zum Rechtsstaat zu überdenken und sich zu entschuldigen. Diese Aufforderung geht auch den Ministerpräsidenten. Der Ministerpräsident hat noch vor einigen Wochen Herrn Stamp bescheinigt, dass alles nach Recht und Gesetz von statten gegangen ist. Jetzt ist letztinstanzlich, gerichtlich bestätigt worden: Das war eben nicht nach Recht und Gesetz. Ich glaube, auch da sollte Herr Laschet sich entschuldigen."
Doch ebenfalls im Deutschlandfunk bekräftigte eben Ministerpräsident Armin Laschet von der CDU, seine Haltung - und stellte sich vor seinen Minister:
"Nach meiner Auffassung und nach der Auffassung des Ministers hat er damals nach Recht und Gesetz entschieden. Aber jede Entscheidung des Staates kann auch von Gerichten überprüft werden und das hat das Oberverwaltungsgericht jetzt getan und das werden wir akzeptieren."
Kritik an Gerichtsentscheidung
Anders klang es dagegen bei NRW-Innenminister Herbert Reul, ebenfalls CDU. Dieser kritisierte die Gerichtsentscheidung: Die Unabhängigkeit von Gerichten sei ein hohes Gut, sagte Reul der "Rheinischen Post", aber Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entspreche. Und: Er bezweifele, dass das im Fall Sami A. geschehen sei. Auch Ministerpräsident Laschet wies die Kritik der Opposition zurück:
"Das sind aber parteipolitische Spiele."
Vielmehr müsse man sehen, wie ernsthaft Stamps Bemühungen seien, einen Gefährder außer Landes zu bekommen, so Laschet und kündigt an:
"Er wird sich dazu erklären, er wird seine Argumente zugrunde legen."
In einer ersten Stellungnahme gestern Abend, hatte sich das NRW-Integrationsministerium angesichts der Entscheidung - Zitat- "ratlos" gezeigt und bemängelt, dass sich die Richter gar nicht mit der aus Ministeriumsicht zentralen Frage auseinandergesetzt habe, ob Sami A. in Tunesien Folter drohe. Auch der Vorwurf, man habe mit halben Wahrheiten gearbeitet, bestritt man im NRW-Integrationsministerium und kündigte an, sich dahingehen zu äußern. Zudem wolle man die Entscheidung mit der gebotenen Sorgfalt auswerten und prüfen, welche Schlussfolgerungen daraus auch für künftige Fälle abgeleitet werden können. Den Kurs der konsequenten Abschiebung von Gefährdern werde man jedoch unverändert fortsetzen.