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Nach der Europawahl
"Postmoderner Faschismus" und Systemausstieg als Chance

Wenn es um die Europawahl geht, dominiert vor allem ein Thema die politischen Blogs und Blätter: der Sieg der Rechtspopulisten und der Euroskeptiker. Die Analyse reicht von Marine Le Pen bis zur Frage nach den Schuldigen für den Rechtsruck.

Von Norbert Seitz |
    Wenn es um Europa geht, werden schnell Schablonen gezogen und wüste Legenden gestrickt. Sogar das Bundesverfassungsgericht musste sich für die umstrittene Aufhebung der Drei-Prozent-Klausel bei Europawahlen den Vorwurf eines "verfassungsrechtlich verkleideten Europaskeptizismus" gefallen lassen. So die Kritik des Soziologen Ulrich Beck. Die wiederum greift Bundestagspräsident Norbert Lammert in der CDU-nahen "Politischen Meinung" auf. Gleichsam von Verfassungsorgan zu Verfassungsorgan gibt er zu bedenken:
    "1979, als das Europäische Parlament fraglos noch nicht annähernd die heutige Bedeutung hatte, hielt es die Sperrklausel für zulässig. Warum das Gericht nun ausgerechnet in einer Zeit, in der das Europäische Parlament stark an Bedeutung gewonnen hat und nach verbreiteter Überzeugung und erklärter politischer Absicht weiter an Raum und Kompetenzen gewinnen soll, Bedenken nicht nur entdeckt, sondern in dieser Weise zum Ausdruck gebracht hat, erschließt sich jedenfalls nicht sofort."
    Hendryk M. Broder schlägt Alarm
    Selbst seriöse Euroskeptiker laufen häufig Gefahr, in die Nähe des Rechtspopulismus gerückt zu werden. Darüber schlägt Hendryk M. Broder auf allen Kanälen Alarm, so auch in dem liberalkonservativen Blog "Achse des Guten":
    "Nun gehört der Vorwurf des 'Rechtspopulismus' inzwischen zum festen Repertoire aller aktuellen Debatten. Man muss nur der Ansicht sein, Einwanderer hätten sich der Kultur des Landes, in dem sie leben wollen, anzupassen, und schon ist man ein Rechtspopulist. Für einen Anfangsverdacht reicht bereits die Frage, ob die Einführung des Euro wirklich eine so gute Idee war, wie es ihre Anhänger noch immer behaupten. Was übrig bleibt, ist der Begriff 'Rechtspopulist', der an die Stelle des 'Bolschewiken' aus den frühen Tagen der Bonner Republik getreten ist (...) Heute sind es die 'Rechtspopulisten', die den Frieden in Europa bedrohen. Weil sie 'europaskeptisch' sind, 'den Euro abschaffen' wollen und als Literaten 'zunehmend rechtes Gedankengut' verbreiten."
    "Marine Le Pen will den Hass ihrer Wähler gegen die Muslime richten"
    Doch der Rechtspopulismus, der sich aus allen Schichten rekrutiert, bedarf einer gründlicheren Analyse. Der Politologe Michel Eltchaninoff diskutiert zum Beispiel im "Philosophie-Magazin" die Frage, ob mit Marine Le Pen der Faschismus in jene Regionen zurückkehre, in denen er einst entstanden sei, wie beispielsweise in Frankreich als Reaktion auf den emanzipatorischen Geist der Aufklärung. Dabei stößt er auf einen neuen Typus – einen "postmodernen Faschismus mit einer neuen Sprachstrategie":
    "Natürlich ist Marine Le Pen nicht in dem Sinne faschistisch wie die Bewegungen der Dreißigerjahre, nicht einmal wie die extreme Rechte der Siebzigerjahre. Sie will die Nachwirkungen des Antisemitismus in ihrer Partei beseitigen und nunmehr den ganzen Hass ihrer Wähler gegen die Muslime richten. Sie vermeidet fremdenfeindliche Entgleisungen, die bei ihrem Vater üblich waren. Dennoch spielt sie mit faschistischen Ideologiebestandteilen. Dazu gehört die Geringschätzung und Kriminalisierung der Eliten, Verschwörungstheorien, Verteidigung der 'traditionellen' Werte, Angst vor 'Überfremdung' und Aufruf zur 'gesunden Reaktion' des französischen Volkes."
    Angela Merkel als Schuldige?
    Derweil ist man im linken Lager über den Schuldigen, pardon die Schuldige, für das Aufkommen des Rechtspopulismus in Europa rasch einig. Angela Merkel trage mit ihrem drakonischen Spardiktat als "hegemoniale Zuchtmeisterin" die Hauptverantwortung für den grassierenden rechten Rand. Demgemäß nimmt Redakteur Albrecht von Lucke in den "Blättern für deutsche und internationale Politik" die Kanzlerin in die Pflicht:
    "Angela Merkel wird sich in ihrer Form des intergouvernementalen Regierens in Europa nur allzu gern bestätigt sehen. Dabei kommt gerade Deutschland und speziell der Bundeskanzlerin eine besondere Verantwortung dafür zu, in der nächsten Legislaturperiode diesen Rechtstrend in Europa umzukehren."
    Systemausstieg als letzte Chance
    Wer ernsthaft nach sozialökonomischen Gründen für den Rechtspopulismus sucht, stößt auf zwei Krisenphänomene, die unter dem soziologischen Terminus Deprivation verhandelt werden. Und das heißt: Entbehrung, Verlust, Entzug, Abstieg, Isolation. Davon sind sogenannte Modernisierungsverlierer und Jugendarbeitslose betroffen. Letzteren rät die dänische Schriftstellerin Janne Teller reichlich kühn zu nichts weniger als einem Systemausstieg. Im Magazin "Cicero" antwortet sie auf die Frage nach "Europas goldener Zukunft":
    "Wir haben ihnen keinen Weg vorgegeben. Deswegen liegt es in ihrer Hand, ihn zu finden. Wenn die Jugend aufhört, zu oberflächlichen, leeren Idealen aufzuschauen, wird sie verstehen: Das Problem in unserem heutigen System liegt darin, dass man es nicht aufrechterhalten kann. Wenn sie begreifen, dass das Leben nicht nur aus kapitalistischem Wettbewerb besteht, werden sie einen sinnvolleren Weg finden."