Die Coronapandemie, aber auch die jüngsten Ereignisse wie Hitzewelle, Starkregen und Hochwasser haben gezeigt, dass sich Risiken und Gefahren weiter ungleich in der Gesellschaft verteilen. Von einer Refeudalisierung kann aber keine Rede sein, sagte der Soziologe Armin Nassehi im Dlf.
"Situation von Selbstüberforderung"
Vielmehr nähmen wir in der Coronapandemie und nach der Unwetter-Katastrophe wahr, dass das, was uns selbstverständlich erscheint, etwa gesundheitliche Versorgung oder die Vorsorge für Katatrophen, tatsächlich auf politischen Entscheidungen, gesellschaftlichen Strukturen und auf Routinen beruht. Von denen seien einige während der Krise weggebrochen, erklärte der Soziologe. Dadurch entstünde eine Situation von Selbstüberforderung.
Es stelle sich zudem die Frage, ob sich Unwetter-Katastrophen wie das Hochwasser weiterhin nach dem Prinzip der Individualversicherung versichern ließen, wenn sie künftig häufiger auftreten. Wie würde sich das auf die Versicherungsprämien auswirken? Fragen dieser Art weisen weit über das Ökonomische hinaus, sagte Nassehi. Er fordert, an den Errungenschaften einer modernen liberalen Gesellschaft festzuhalten, auch bei der Versicherung von Schadensverläufen.
Das Interview im Wortlaut:
Michael Köhler: Sind Sicherheit, Bildung, Gesundheit, ungehinderter gefahrenfreier Zugang zu Licht, Luft, Wasser künftig immer mehr nur wenigen vorbehalten sind. Erleben wir eine Art Refeudalisierung?
Armin Nassehi: Nein, das glaube ich ganz explizit nicht. Was zurzeit deutlich wird, ist, dass wir wahrnehmen, wie voraussetzungsreich das ist, was uns eigentlich selbstverständlich erscheint. Also, dass es so etwas wie Risikoabsicherungen zum Beispiel für Daseinsvorsorge aufgrund von Konjunkturschwankungen gibt oder dass gesundheitliche Versorgung bezahlt werden muss. Oder dass es so etwas wie eine Vorsorge für Katastrophen geben muss. Das ist ja nicht einfach so da, sondern das ist von starken Voraussetzungen abhängig, sowohl politischen Entscheidungen als auch gesellschaftlichen Strukturen, noch wichtiger aber von Routinen, die da sind. Und zurzeit bricht da einiges weg. Wir hatten jetzt einige Krisen hinter uns, bei denen man das beobachten kann. Und interessanterweise merken wir jetzt, dass all das gesellschaftlich hergestellt werden muss, was wir vorher für geradezu selbstverständlich gehalten haben und weil sich Dinge verschieben, haben wir es zum Teil mit anderen Konfliktfragen zu tun. Also, wir hätten immer gesagt, dass so etwas wie Wasser oder Luft etwas ist, was ohnehin da ist. Und jetzt kommen auf einmal Leute und sagen, wenn wir so weitermachen, wird das mit Wasser und Luft schwierig. Das eine zu viel, das andere zu wenig. Und wir müssen offenbar anders verteilen als vorher. Aber es wird deutlich, dass all das, was uns vorher quasi natürlich erschien, das auch nicht war.
Eine Selbstverständlichkeit, die wie Natur aussieht
Köhler: Dazu zählt, Sie sprechen von neuen Konfliktfragen oder Konfliktlagen, vielleicht eine neue Erfahrung. Natur und Umwelt sind kein – jetzt will ich anspruchsvoller – kein Rechtssubjekt. Also, Pilze, Esel, Wiesen und Flüsse klagen nicht und ziehen nicht vor Gericht. Da gibt es einen Repräsentanzmangel, oder?
Nassehi: Ja, aber den gibt es ja durchaus schon länger. Also wir haben ja schon früher auch, um ja die Gesellschaft am Laufen zu halten, Natur verwendet. Ja, denken Sie an die Rohstoffe. Bis wann sind Rohstoffe Natur? Und ab wann sind Sie eigentlich knappe Güter? Das macht ja einen riesengroßen Unterschied aus. Also, vorher ist es gewissermaßen da. Es gibt kein Nutznießer davon, also auch niemand, der davon profitieren kann oder dem es schaden kann. Und irgendwann muss man sie abbauen, dann werden sie knapp, dann werden sie zu einem wirtschaftlichen Gut. Dann muss man es umverteilen, dann müssen Preise festgelegt werden. Dann stellt man fest, dass die Preise, wenn man sie einfach lässt, in astronomische Höhen gehen, die dann die Verteilungsfragen wiederum schwierig machen. Also – muss man das in irgendeiner Weise regulieren und Regeln einführen und Routinen einführen. Also, ab wann ist es eigentlich keine Natur mehr? Und ich würde sagen, spätestens in dem Moment, wo wir aktiv damit umgehen müssen. Das gilt ja auch für unsere menschliche Natur. Also, wir garantieren rechtlich das Leben. Das ist ja eine geradezu, ja widersinnig würde ich nicht sagen. Aber, es ist eigentlich eine Form, bei der wir feststellen, dass das Leben sich gar nicht aus dem Leben selbst heraus sich erhalten kann, sondern offensichtlich kulturell und gesellschaftlich gestützt werden muss, damit man überhaupt so etwas wie ein Recht auf Leben - übrigens auch ein Recht auf Rechte - haben kann, wie das Hannah Arendt ja so schön formuliert hat. Nichts davon ist Natur, aber alles wollen wir gerne einer Selbstverständlichkeit zurechnen, die wie Natur aussieht.
"Wir leben in einer stochastischen Welt"
Köhler: Einfach gesagt, Kultur heißt über weite Strecken ja, Dinge in die Hand zunehmen buchstäblich, im übertragenen Sinne zu kontrollieren. Jetzt merken wir, dass uns die Dinge aus der Hand gleiten und wir die Kontrolle verlieren. Das System Gesellschaft passt sich nicht an Umwelt an. Wozu führt das, zu Abweichungsverstärkungen, wie wir sie gerade erleben?
Nassehi: Ja, wir erleben zurzeit sehr starke Abweichungen. Die wollen wir im Moment nicht verstärken, weil sie natürlich wehtun. Aber, wir stellen fest, dass unser gesamtes Paradigma von Kontrolle, das ja sehr stark auf so etwas wie Kausalität setzen würde - wenn wir dies tun, wird es jenen Effekt haben - wenn es zu Abweichungen kommt, tatsächlich in Frage gestellt wird. Und, was wir gelernt haben, jetzt im Laufe übrigens der letzten Krisen; das gilt sowohl für das Hochwasser als auch für die Pandemie, das ist, dass wir eigentlich nicht in einer kausalen sollen, in einer stochastischen Welt leben. Also, wir können eigentlich nur noch beschreiben, unter welchen Bedingungen eigentlich so etwas wie Abweichungsformen wahrscheinlicher oder weniger wahrscheinlich werden. Was ja immer bedeutet, dass wir nicht genau wissen, was denn da eigentlich passiert. Weswegen es so schwierig ist, eindeutige Routinen zu formulieren, bei denen man ja eigentlich sagen müsste - wie ein Konditionalprogramm - wenn dies ist, müsst ihr das machen. Aber das ist außer Kraft gesetzt.
"Eine Gesellschaft, die sich selber überfordert"
Köhler: Wer rechnet denn mit so was? Eine vielgehörte Frage in diesen Tagen.
Nassehi: Ja. Also, wir haben ja diese wundervolle Figur des Futur zwei, also, wofür sozusagen uns in die Zukunft versetzen und dann zurückschauen. Wir bräuchten so was eigentlich auch als eine Art von Vergangenheitsform, in der wir ja sehr oft die Dinge diskutieren. Also, wenn etwas passiert, dann gibt es genug Leute, die immer gesagt haben, das wussten wir ja damals schon, aber niemand wollte es hören. Man hätte alle kausalen Mittel gehabt. Das ist ja nur ein Hinweis darauf, wieviel wir in der Gesellschaft wissen und wie viel Unterschiedliches wir wissen. Dass wir aber in den jeweiligen vergangenen Gegenwarten eigentlich mit stochastischen Modellen zu tun hatten und nicht mit der Eindeutigkeit: Es wird übermorgen hier oder dort knallen. Und das ist eine Gesellschaft, die sich natürlich selber damit überfordert, weil wir eigentlich gerne Kausalitäten haben möchten. Kausalität ist das wundervollste Schema, um Sicherheit herzustellen. Aber wir stellen fest, wir können diese Kausalität nicht herstellen, sondern wir müssen mit - ich wiederhole es noch mal - Wahrscheinlichkeiten arbeiten, die aber in bestimmten Situationen da nicht so einfach zu kalkulieren sind. Was ist denn eigentlich eine problematische Wahrscheinlichkeit? Dass ein Schaden mit 15 Prozent, mit 30 Prozent, mit 40 Prozent, mit 60 Prozent, mit 70 Prozent Wahrscheinlichkeit eintritt? Das kann man wiederum gar nicht so genau kausal beschreiben, ab wann das Konditionalprogramm eigentlich losgehen muss. Und wieder haben wir eine Situation von Eigen-Überforderung, von Selbstüberforderung und das ist nicht Natur, selbst wenn das natürliche Dinge sind, die dort stattfinden.
"Können die, die in Gefahr sind, die Prämien noch bezahlen?"
Köhler: Ist die Gesellschaft selber quasi noch die beste Versicherung für uns selber? Gesellschaften leben von dem, was Niklas Luhmann mal ungefähr so gesagt hat, dass sie die Paradoxie der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen managen. Also, isoliert überleben können Sie und ich nicht. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass wir besser gemeinsam in Gesellschaften leben, also strukturell organisiert ist es jedenfalls weniger unwahrscheinlich, dass uns was zustößt. Also, ist Gesellschaft die beste Versicherung nach wie vor?
Nassehi: Naja, es ist schon deshalb die beste Versicherung, weil es sonst gar keine geben kann. Am Ende müssen wir uns natürlich durch gesellschaftliche Routinen, durch gesellschaftliche Institutionen, durch gesellschaftliche Regeln versichern. Die spannende Frage ist: Wo setzt Versicherung eigentlich an? Also, man kann sagen, die klassische industriegesellschaftliche Moderne hat ja das Versicherungsprinzip eingeführt, weil man vergleichsweise genau berechnen konnte, wie das Verhältnis der Wahrscheinlichkeit eines allgemeinen Schadenseintritts und der individuellen Gefahr im Hinblick auf diesen Schadenseintritt zu berechnen ist. Also, wir haben Konjunkturkrisen versichert, indem sich einzelne Personen gegen etwas versichern, ja, also gegen den Ausfall von Lohnfortzahlung. Oder, wir haben einzelne Personen versichert im Hinblick auf zum Beispiel Naturkatastrophen oder auf technische Ausfälle und Ähnliches. Und dieses Prinzip war ja sehr, sehr, sehr leistungsfähig. Ja, wenn wir uns jetzt das Hochwasser angucken, ist tatsächlich die Frage: Kann man sich in Zukunft - sollte so etwas öfter auftreten, wie ja die Gelehrten uns sagen - kann man das noch nach diesem Prinzip der Individualversicherung im Hinblick sozusagen auf eine Sozialisierung des Risikos, noch so versichern? Also, wie würde sich das auf die Prämien auswirken, können eigentlich die, die wirklich in Gefahr sind, diese Prämien dann noch bezahlen? Ab wann fängt man eigentlich an, das für ein kollektives Gut zu halten, diese Sicherheit einzuführen? Ab wann ist es eines, das womöglich nur regional für bestimmte Gruppen oder für diejenigen, die es sich leisten können, gilt? Und wenn man das für eine abstrakte Diskussion hält, dann muss man sich klarmachen, dass die Frage, was wir eigentlich versichern, etwas ist, das durchaus gesellschaftlich auch festgelegt wird. Also, wenn man mehr zahlen kann, kann man sich auch besser versichern. Aber manche Versicherungen werden als kollektive Pflichtversicherungen - böse Zungen sagen Zwangsversicherungen - eingeführt, damit die Prämien so sind, dass das Kollektiv das bezahlen kann. Das ist zunächst mal eine ökonomische Diskussion, die aber übers Ökonomische hinausgeht, weil es um die Definition dessen geht, wogegen sich die Gesellschaft eigentlich schützen möchte, nämlich gegen die Gefahr, dass solche Dinge, die da entstehen, wie zum Beispiel Hochwasser, als Risiko besser zu händeln sind. Und das Verrückte ist, an dem Grund, dass die Dinge entstehen, hat man damit noch gar nichts verändert.
Weiterhin ein normatives Ziel: die moderne liberale Gesellschaft
Köhler: Die Soziologie entsteht am Ende des neunzehnten Jahrhunderts unter anderem mit einem ihrer Gründungsväter, Ferdinand Tönnies, der eine berühmte Schrift verfasst hat, die heißt "Gemeinschaft und Gesellschaft". Erleben wir gerade die große Stunde der Gemeinschaften?
Nassehi: Ich fürchte, ja. Also, Tönnies hat ja diese Gegenüberstellung gemacht, indem er geschrieben hat, wie denn eigentlich so etwas wie gesellschaftliche Kohäsion entsteht. Also, die Gesellschaft wäre das - er hat das mit der Metapher des Kaufmanns verglichen, bei dem wir sozusagen immer nur in Teilaspekten unserer Persönlichkeit miteinander verbunden sind, während Gemeinschaft sozusagen die ganze Person mit hineinnimmt. Und heute würde ich ja sagen, je mehr Gemeinschaft wir haben wollen - ich übertreibe jetzt den Gedanken vielleicht - umso problematischer sind wahrscheinlich die Lösungen, weil man ja so etwas wie all die Errungenschaften, die zu einer modernen liberalen Gesellschaft gehören, nämlich dass wir schon Leben führen, die wir uns weitgehend selber zurechnen können sollen - ich formuliere es extra so, ob das immer gelingt, ist ja die Frage, aber das ist das Ziel - in Frage stellen müssen. Also, starke Zurechnungen auf Kollektive, die bedeuten übrigens immer, dass man definieren muss, wer zum Kollektiv dazugehört und wer nicht dazugehört. Staatliche Solidarität ist die…
Köhler: Auch die Formen sozialer Kontrolle sind hoch.
Nassehi: Riesengroß sind die natürlich genau, also, abweichendes Verhalten wird dann eher nicht prämiert. Und wir brauchen viel abweichendes Verhalten, um innovativ zu sein. Hauke Brunkhorst hat das mal in die wundervolle Formulierung gebracht, dass eine Solidarität unter Fremden, also Menschen, die keine Brüder und Schwestern sein müssen, sondern als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aufeinander bezogen sind, andere Formen der Solidarität braucht als diese stark gemeinschaftliche. Und ich glaube, dass das nach wie vor ein normatives Ziel ist, an dem wir doch festhalten sollten, selbst wenn es um die Frage der kollektiven Bearbeitung von Schadensverläufen geht.
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