Groß ist das allgemeine Entsetzen darüber, wie schnell Afghanistans Regierung und die Armee kollabiert sind, wie schnell die Taliban auch die Kontrolle über Kabul zurückgewonnen haben. Doch die Islamisten haben ihre Macht schon seit Jahren kontinuierlich ausgedehnt, kontrollierten schon im vergangenen Jahr große Teile des Landes – mit Terror, mit Verhandlungen, aber auch mit Zusammenarbeit und Absprachen mit Verantwortlichen in den Provinzen.
Einen Einblick in das Regime der Taliban hat der Journalist und Afghanistan-Kenner Wolfgang Bauer erhalten. Mit Erlaubnis der Taliban-Führer durfte er in ihrem Herrschaftsbereich recherchieren. Darüber, wie die Islamisten nach der Konsolidierung ihrer Kontrolle über Kabul und weite Teile des Landes regieren werden, wagt er momentan keine Aussage. Es gebe einen moderaten Flügel, der überwiegend von den älteren Führern der Taliban repräsentiert werde, und einen radikalen, zu dem sehr viele junge Kommandeure und junge Kämpfer gehörten, die stark von der Ideologie des "Islamischen Staates" beeinflusst seien.
Aufgrund von Berichten aus den Provinzen von Exekutionen, massiven Übergriffen und Gewalt gegen Frauen müsse man allerdings das Schlimmste befürchten. Gleichwohl sei noch nicht das ganze Land in der Hand der Taliban, die zudem eigentlich auf die Hilfe von internationalen NGOs angewiesen seien, um die "eigentliche Katastrophe" des Landes zu bewältigen: eine furchtbare Dürre, in deren Folge in einigen Regionen ganze Dörfer aufgegeben würden. "Afghanistan wird in Zukunft noch sehr viel ärmer sein und diese Armut ist natürlich explosiv. Damit muss dann das Taliban-Regime umgehen und ich habe meine Zweifel, dass die dann imstande sind, auf Dauer die Leute mit religiösen Sprüchen zufriedenzustellen", sagte Bauer.
Nato-Experte Varwick:
Für Europa stellt sich nach dem Afghanistan-Debakel erneut die Frage nach dem Wert der US-Sicherheitsgarantien. Wieder habe sich gezeigt, dass Europa ohne die USA nicht handlungsfähig sei, sagte der Politikwissenschaftler Johannes Varwick im DLF.
Für Europa stellt sich nach dem Afghanistan-Debakel erneut die Frage nach dem Wert der US-Sicherheitsgarantien. Wieder habe sich gezeigt, dass Europa ohne die USA nicht handlungsfähig sei, sagte der Politikwissenschaftler Johannes Varwick im DLF.
Großen Sorgen macht er sich gerade aber über die Menschen, die ihn bei seinen Recherchen in Afghanistan immer unterstützt haben.
Das Interview im Wortlaut:
Wolfgang Bauer: Im Moment bin ich hauptsächlich damit beschäftigt, unser Team rauszubekommen, unseren Übersetzer, andere Mitarbeiter, die in den letzten Jahren für uns gearbeitet haben, und deren Familien, die sich im Moment in Kabul verstecken, sich zum Teil zusammengetan haben und deren Angst täglich größer wird. Die Gespräche werden auch täglich dramatischer, weil natürlich überall sich allmählich die Erkenntnis durchsetzt, dass der Weg über den Flughafen in Kabul kein Weg ist, sondern eine Sackgasse.
Jasper Barenberg: Und damit bestätigen Sie auch, was wir ja von vielen dieser Tage hören, von denen, die es geschafft haben und dann hierher zurückkommen. Das Problem, selbst wenn die Menschen in Kabul sind, ist, im Moment ganz zentral überhaupt an den Flughafen zu kommen, wo sie möglicherweise dann einen Flug bekommen können?
Bauer: Genau! Das Problem ist, die Flugzeuge mit Passagieren zu versehen. Die Taliban haben offenbar größtenteils diesen Flughafen abgeriegelt, lassen die Leute nicht durch. Und selbst wenn sie es bei den Taliban geschafft haben, höre ich, dass es große Probleme auch mit dem amerikanischen Militär gibt, die eine Zeit lang, so habe ich gehört, nur nichtafghanisches Personal durchgelassen haben – aus Gründen, die sich mir nicht erschließen. Das sind zumindest die Gerüchte. Tatsache ist, dass relativ wenig Leute zum Flughafen finden, und ich wüsste jetzt von unserer Liste niemanden, der es bereits geschafft hat.
Menschen auf Evakuierungslisten könnten zu Geiseln werden
Barenberg: Die Menschen, mit denen Sie Kontakt haben, da ist Ihre Wahrnehmung und Ihr Erleben der letzten Tage, dass da die Sorgen, dass da die Ängste eigentlich von Tag zu Tag noch schlimmer werden?
Bauer: Ja, weil allen klar ist, dass nach der Zeit des Improvisierens, des sich Konsolidierens seitens der Taliban, die Zeit kommen wird, wenn sie dann stärker Kontrolle ausüben über die Einrichtungen in Kabul. Auch die Taliban sind jetzt, denke ich, überwiegend mit sich selber beschäftigt, um sich entsprechend aufzustellen. In ersten Tagen, wurde mir gesagt, waren erstaunlich wenig Taliban-Kämpfer in der Stadt. Eine Stadt, die geschützt wurde von vielen, würde ich sagen, 10.000 Bewaffneten seitens der Regierung, ist erobert wurden von wenig tausend Taliban, und die Taliban sind jetzt massiver auf den Straßen präsent. Es sieht ganz danach aus, als würden diese vielen 10.000 Menschen, die auf den Evakuierungslisten unterschiedlicher Nationen stehen, zu Geiseln.
Barenberg: Die Nachrichtenagentur Reuters zitiert einen Taliban-Vertreter in Kabul, der sagt, wir ermöglichen eine sichere Ausreise nicht nur für Ausländer, sondern auch für Afghanen, und es wird betont und bekräftigt, dass man versucht, Gewalt gegen jedermann zu verhindern. Klingt das in Ihren Ohren und nach dem, was Sie von Ihren Kontaktmenschen und von Ihren Mitarbeitenden hören, wie reiner Hohn?
Bauer: Das klingt nach der Führungsspitze der Taliban und so, wie sie sich gegenüber der Welt gerade präsentieren wollen. Aber die Szenen am Flughafen, die passen nicht zusammen mit diesen Aussagen. Die Taliban schießen, sie schlagen, sie jagen Leute vom Flughafen weg. Der Aussage müssen Taten folgen.
"Das wahre Gesicht der Taliban muss sich erst noch zeigen"
Barenberg: Der Triumph der Taliban war absehbar. Das haben Sie noch vor dem Fall Kabuls bei "Zeit Online" geschrieben. Steht für Sie jetzt schon fest, dass es die Schreckensherrschaft von damals wieder sein wird, die jetzt zurückkehren wird?
Bauer: Ich wage im Moment noch keine Voraussagen. Das wahre Gesicht der Taliban muss sich jetzt erst noch mal zeigen. Ich war ja letztes Jahr mit den Taliban für mehrere Tage unterwegs. Trotzdem könnte ich jetzt nicht sagen, so sind die Taliban. Es gibt einen moderaten Flügel, der überwiegend von den älteren Führern der Taliban repräsentiert wird, und dann gibt es einen radikalen Flügel auch, zu dem sehr viele junge Kommandeure und junge Kämpfer gehören. Ich habe den Eindruck, dass diese jüngeren Leute in den letzten Jahren stark von der Ideologie auch des "Islamischen Staates" beeinflusst wurden.
Die bekämpfen sich zwar in Afghanistan. Der "Islamische Staat" ist auch in Afghanistan in mehreren Provinzen aktiv. Aber mein Eindruck ist, diese Strahlkraft, die der IS eine Zeit lang hatte, hat auch die jüngeren Kommandeure beeinflusst, und ich habe schon auch Stimmen gehört von wichtigen Taliban, die gesagt haben, der Dschihad endet nicht an den Grenzen von Afghanistan. Der Dschihad endet dann, wenn die ganze Welt islamisiert worden ist.
Noch ist das Land aber auch nicht völlig in Hand der Taliban. Die nächsten Wochen werden auch zeigen, inwieweit sich der Vizepräsident Afghanistans, der ja laut Verfassung nun auch offiziell der Präsident ist, mit anderen Führern in einem Gebiet nördlich von Kabul in den Bergen verschanzt hat, der aufgerufen hat, ihm zu folgen, sich mit Waffen anzuschließen, die internationale Gemeinschaft schon aufgerufen hat um Militärhilfe, inwieweit er mit seinen Anhängern eine Front gegen die Taliban im Land selber aufbauen kann. Und dann müssen wir alle wissen: Die Taliban waren ja nur sehr kurz an der Macht in den 90er-Jahren. Das waren ja nur ein paar Jahre. Sind die dauerhaft in der Lage, überhaupt ein Land zu regieren, und sind die als Bewegung dauerhaft so stabil, dass sie da zentral ihre Ideologie über Afghanistan umsetzen können.
"Die Konfliktlinie liegt innerhalb der Taliban-Fraktion"
Barenberg: Das ist ja auch ein Argument, was man die Tage häufiger hört. Damit Afghanistan im Alltag auf Dauer funktionieren könne, seien die Taliban auf internationale Unterstützung angewiesen, und von daher müsste man annehmen, dass es Zugeständnisse geben könnte, was jetzt die Art des Regimes, was die Art der Herrschaft anbetrifft, die die Taliban ausüben werden in Afghanistan. Halten Sie das für wahrscheinlich, dass es so ist?
Bauer: Ich weiß es nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass genau da die Konfliktlinie liegt innerhalb der Taliban-Fraktion, dass die Moderaten so argumentieren, wie Sie das eben skizziert haben, dass aber die jungen sagen: Ihr wollt euch schon wieder vom Westen korrumpieren lassen, euch schon wieder, wie sie sagen, verhuren lassen vom Westen und vom Kapitalismus und jetzt nicht dem klaren Pfad des Islams folgen, sondern schon wieder faule Kompromisse machen, wofür haben wir gekämpft.
Ich war sehr schockiert, als ich letztes Jahr diese Zeit mit diesen Leuten verbracht habe und auf meine Frage, wie sie denn, wenn sie den Krieg gewinnen sollten, den Frieden gewinnen wollen, nur die Antwort kam, wir bauen noch eine Madrasa Koran-Schule, noch eine Moschee, und dann fiel den meisten Kommandeuren nicht viel mehr ein, außer der Verweis auf internationale NGOs, um die sie aber nicht betteln würden, wie sie betont haben.
Sie müssen wissen, dass im Moment Afghanistan noch unter einer ganz anderen Katastrophe leidet, der eigentlichen Katastrophe im Prinzip, nämlich einer furchtbaren Dürre. Afghanistan gehört zu den Ländern auf der Welt, die am meisten unter der Klimaveränderung zu leiden haben. Ich war noch vor ein paar Wochen in Kandahar gewesen, mittlerweile auch in Taliban-Hand, und dort hatte es seit Wochen und Monaten nicht mehr geregnet. Ganze Dörfer waren verlassen und deren Einwohner sind in die größeren Orte gezogen, weil die Felder brachlagen, alles trocken war, es kein Wasser mehr gab. Afghanistan wird in Zukunft noch sehr viel ärmer sein und diese Armut ist natürlich explosiv. Damit muss dann das Taliban-Regime umgehen und ich habe meine Zweifel, dass die dann imstande sind, auf Dauer die Leute mit religiösen Sprüchen zufriedenzustellen. Irgendwann muss sich auch wirtschaftlich was in diesem Land bewegen und da sehe ich im Moment keine Perspektive.
"Ich befürchte das Schlimmste"
Barenberg: Vielleicht ist das ja auch ein Motiv zumindest oder ein Anlass für die Anführer der Taliban in Kabul, die wir bisher gehört haben und die sich ja jedenfalls in ihren Verlautbarungen relativ milde gegeben haben. Sie haben die Bereitschaft signalisiert, die Macht mit anderen Kräften im Land zu teilen. Jedenfalls verhandeln sie noch darüber. Sie haben eine Amnestie angekündigt für alle, die mit westlichen Staaten zusammengearbeitet haben. Wir haben das schon angeschnitten. Ist das für Sie vertrauenswürdig, oder sind das leere Worte, weil Sie damit rechnen, sobald die Taliban ihre Macht konsolidiert haben, in den nächsten Wochen, in den nächsten Monaten, dann wird es ein striktes und das bekannte Regime geben, was wir im Großen und Ganzen aus der Zeit der 90er noch kennen?
Bauer: Im Moment ist das eine Kakophonie an Eindrücken. Da ist diese Pressekonferenz, die Verlautbarungen, die moderat klingen, die Sie eben zitiert haben, und dann sind die vielen Berichte von Leuten aus der Provinz, die es noch gibt, diese Berichte, die aber bald wahrscheinlich zum Schweigen gebracht werden, von doch auch massiven Übergriffen. Vorhin hat mir eine junge Frau erzählt von einer Freundin in Dschalalabad, die alleine durch die Stadt gegangen ist, weil es was Wichtiges zu erledigen gab, ohne männliche Begleitung, die von den Taliban aufgegriffen worden ist und getötet wurde. Und diese Frau ist glaubwürdig, die kenne ich schon seit vielen Jahren.
Es gibt Berichte von Exekutionen in Kandahar, von Masar-e Scharif, von vielen massiven Übergriffen, und dann ist die Frage, ist das jetzt von Taliban-Provinzfürsten gesteuert, ist das Übereifer, wieviel Macht hat denn die Führungsspitze der Taliban, die jetzt aus Katar eingeflogen wurde, wie sehr sind die überhaupt noch verlinkt mit den Kräften am Boden und wieviel Einfluss haben die jetzt dann noch. All das wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Aber annehmen muss man bislang noch, ich befürchte das Schlimmste.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.