Nach der Thüringen-Wahl
Standpunkte der Parteien und Einschätzungen von Experten

Die umstrittene Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD hat bundesweit politische Turbulenzen ausgelöst - in den Parteien werden die Konsequenzen heiß diskutiert. Politikwissenschaftler sehen vor allem einen Schaden für die Demokratie.

07.02.2020
    Björn Höcke, AfD Thüringen (rechts) gratuliert dem neuen Ministerpräsidenten Thomas L. Kemmerich (FDP).
    Björn Höcke, AfD Thüringen (rechts) gratuliert dem neuen Ministerpräsidenten Thomas L. Kemmerich (FDP). (Bodo Schackow/dpa-Zentralbild/dpa)
    Ursprünglich hatte der bis vergangenen Dienstag (04.02.2020) amtierende Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) geplant, eine Minderheitsregierung aus Die Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen anzuführen. Die drei Parteien kamen nach der Landtagswahl nur noch auf 42 von 90 Sitzen.
    Die Wahl des Ministerpräsidenten im Thüringer Landtag am 05.02.2020 ging bis in den dritten Wahlgang, weil Ramelow in den ersten beiden vorangegangenen Wahlgängen nicht die absolute Mehrheit erreicht hatte. Für den dritten Wahlgang, in dem Ramelow eine einfache Mehrheit gereicht hätte, stellte die FDP mit Thomas Kemmerich einen eigenen Kandidaten auf. Diesem gab dann die AfD-Fraktion geschlossen ihre Stimme, nachdem sie in den ersten beiden Abstimmungen noch ihren eigenen Kandidaten Christoph Kindvater unterstützt hatte.
    AfD überrumpelt FDP und CDU
    Kemmerich erhielt 45 von 90 Stimmen - eine mehr als Ramelow - und war damit zum Ministerpräsidenten gewählt. Dabei hatte seine FDP bei der Landtagswahl mit gerade einmal 5,0 Prozent nur knapp den Einzug ins Parlament geschafft. Als noch problematischer und politischen Tabubruch empfanden viele Beobachter jedoch die Tatsache, das erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ein bürgerlicher Kandidat mit den Stimmen einer rechtsnationalen Partei zum Ministerpräsidenten gewählt wurde.
    Verwirrung und Aufregung waren groß: Nachdem Kemmerich zunächst die Wahl angenommen hatte und Spitzenpolitiker der FDP dies auch unterstützten, kündigte er am darauffolgenden Tag (Donnerstag, 06.02.20) nach erheblichem politischen Druck seinen Rückzug an. Zuvor war FDP-Chef Christian Lindner nach Thüringen gereist. Einen Tag später stellte Lindner im FDP-Parteivorstand die Vertrauensfrage - und erhielt dessen Rückendeckung. Der 41-Jährige war unter Druck geraten, weil er Kemmerich bei seinem Plänen im Vorfeld der Wahl unterstützt haben soll.
    CDU-Chefin und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer läuft in einem Gebäude einen Flur entlang. Sie trägt einen roten Hosenanzug.
    CDU in der Krise - Nach Kramp-Karrenbauers angekündigtem Rückzug droht Richtungsstreit
    Der politische Tsunami nach dem Erdbeben von Erfurt hat die CDU überrollt. Die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen offenbarte, dass die Union tief gespalten ist – und dass der Vorsitzenden die Autorität fehlt.
    Auch die CDU-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer suchte das Gespräch mit den Thüringer Landespolitikern ihrer Partei. Kramp-Karrenbauer drängte dabei auf Neuwahlen, konnte sich aber in Erfurt nicht durchsetzen. Ein augenscheinlicher Autoritätsverlust, aus dem die CDU-Chefin am 10.02.2020 die Konsequenzen zog: Gegenüber dem Parteipräsidium küdigte sie ihren Verzicht auf die Kanzlerkandidatur und den Rückzug vom Parteivorsitz an.
    CDU: Neuwahl oder nicht?
    In der CDU gehen die Meinungen über den Umgang mit der Situation in Thüringen weit auseinander. Neben der Forderung von Neuwahlen, die auch Parteichefin Kramp-Karrenbauer unterstützt, gibt es auch Stimmen, die sich eine Minderheitsregierung unter Kemmerich vorstellen können - geduldet von der AfD.
    Auch die Wahl eines neuen Ministerpräsidenten durch den bestehenden Landtag wird als Option gesehen. Daneben gelten die Einberufung einer Expertenregierung oder die Duldung einer rot-rot-grüne Minderheitsregierung als möglich. Die Forderung Kramp-Karrenbauers nach einem Alternativkandidaten zu Ramelow haben die Linkspartei, SPD und Grüne bereits abgelehnt.
    Porträt von Prien.
    CDU-Politikerin Prien: "Ramelow ist das kleinere Übel im Vergleich zu Höcke"
    Nach der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen müsse die CDU dringend ihr Verhältnis zur Linkspartei und zur AfD klären, sagte die CDU-Politikerin Karin Prien. Sie forderte einen pragmatischen Umgang mit der Linken.
    Wolfgang Fiedler, ehemaliger Abgeordneter der CDU im Thüringer Landtag in Erfurt
    Wolfgang Fiedler (CDU): "Es gibt für mich nur eins: Neuwahlen"
    Der ehemalige Landtagsabgeordnete Wolfgang Fiedler (CDU) hält Neuwahlen für die einzig mögliche Option in Thüringen. Die AfD habe in der ganzen Sache ein "mieses Spiel" gespielt, sagte Fiedler.
    Ruprecht Polenz, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde
    Ruprecht Polenz (CDU): "Erheblicher Aufräumbedarf" in der CDU
    Ruprecht Polenz fordert, dass sich die Bundespartei mit der Werte-Union auseinandersetzt. Diese "Partei in der Partei" habe das "Desaster" in Thüringen vorab als Option heraufbeschworen.
    07.04.2018, Baden-Württemberg, Schwetzingen: Alexander Mitsch, Bundesvorsitzender der "WerteUnion", steht vor der Jahrestagung des konservativen CDU-Flügels "WerteUnion" am Palais Hirsch. 
    Mitsch: "FDP-Ministerpräsident sollte uns lieber sein als einer der Linken"
    Der CDU-Politiker Alexander Mitsch hält die Wahl von Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsident für richtig. Die CDU müsse daran interessiert sein, dass es keinen linken Ministerpräsidenten gebe, sagte Mitsch.
    Bernhard Vogel (CDU), ehemaliger Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Thüringen, gestikuliert während eines Gesprächs im Wohnzimmer seines Hauses.
    Vogel: "Gestimmt haben wir für einen Mann der Mitte"
    Bernhard Vogel (CDU) sieht keinen Tabubruch in der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen. Der CDU sei nicht zu verübeln, dass sie den einzigen wählbaren Kandidaten gewählt habe, sagte er im Dlf.
    Johann David Wadephul (CDU) spricht im Bundestag.
    Wadephul: "Wir werden mit dieser AfD niemals zusammenarbeiten"
    Nach der Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen fordert CDU-Fraktions-Vizechef Johann Wadephul zügige Entscheidungen. Vollkommen klar sei, dass die CDU nicht mit der AfD zusammenarbeite.
    FDP: Diskussion um das weitere Vorgehen
    Die FDP-Parteiführung begrüßte zunächst die Wahl ihres Politikers Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten, ruderte dann aber in Anbetracht bundesweiter Empörung zurück - und fordert mittlerweile Neuwahlen.
    27.04.2019, Berlin: Ria Schröder, Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen, spricht auf dem 70. FDP-Bundesparteitag. Foto: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
    JuLi-Chefin: "Diese Klarheit hatten wir am Mittwoch leider nicht"
    "Auf einen solchen Fall waren wir nicht vorbereitet", sagte die Vorsitzende der Jungen Liberalen Ria Schröder nach der Ministerpräsidentenwahl in Erfurt. Die FDP müsse ihre Richtlinien zum Umgang mit der AfD überarbeiten.
    Anna von Treuenfels-Frowein, FDP-Spitzenkandidatin für die Hamburger Bürgerschaftswahl 2020 spricht während einer Veranstaltung zum Auftakt des Wahlkampfes.
    Von Treuenfels-Frowein: "Schwierig, dass die Parteiführung nicht so sofort reagiert hat"
    Thomas Kemmerich hätte die Wahl zum Ministerpräsidenten ablehnen müssen, sagte Anna von Treuenfels-Frowein, FDP-Spitzenkandidatin in Hamburg. Sie hätte sich eine schnellere Abgrenzung der FDP-Parteiführung gewünscht.
    Früherer Bundesinnenminister Baum: "Ein Hauch von Weimar liegt über der Republik"
    Thomas Kemmerich habe sich die AfD zum Steigbügelhalter gemacht – er müsse sein Amt als Ministerpräsident Thüringens räumen, forderte der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP).
    Der Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff (FDP)
    Graf Lambsdorff: "FDP in Thüringen hat sich verführen lassen"
    Nach der Wahl von Thomas Kemmerich in Erfurt "wäre es falsch, die FDP insgesamt verhaften zu wollen", sagte Alexander Graf Lambsdorff. Die Möglichkeit einer stillschweigenden Koalition mit der AfD lehne seine Partei ab.
    Die Linke: Erneuter Ministerpräsident Bodo Ramelow?
    Die Linke zeigte sich schockiert über den Ausgang der Wahl zum Thüringer Ministerpräsidenten. Sowohl bei einer erneuten Abstimmung im Landtag als auch nach einer Neuwahl könnte Ramelow wieder kandidieren. Forderungen der CDU nach einem Verzicht Ramelows zu Gunsten eines alternativen Kandidaten lehnt die Linke kategorisch ab.
    Bernd Riexinger, Parteivorsitzender Die Linke
    Bernd Riexinger (Die Linke): "Es geht darum, die AfD wieder zurückzudrängen"
    Die Linke stelle sich nicht gegen Neuwahlen in Thüringen, sagte ihr Co-Vorsitzender Bernd Riexinger. Bodo Ramelow würde allerdings als Ministerpräsident nicht antreten, wenn er von den Stimmen der AfD abhängig wäre.
    Bodo Ramelow im Thüringer Landtag, zahlreiche Fotografen machen Aufnahmen von ihm.
    Politische Krise: Thüringer CDU erwägt Duldung von Rot-Rot-Grün
    In Thüringen erwägt die CDU, eine Wahl des Linken-Politikers Ramelow zum Ministerpräsidenten zu ermöglichen und eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung zu dulden. Das bestätigte CDU-Landesgeneralsekretär Walk dem MDR.
    AfD: Coup oder gescheiterte Strategie?
    Die AfD überumpelte mit ihren Stimmen für den FDP-Politiker die anderen Parteien. Ihr sei damit ein Coup gelungen, sagte der Politologe Uwe Jun.
    Dagegen schätzte der Extremismusforscher Hajo Funke die Taktik des AfD-Fraktionsvorsitzenden im Thüringer Landtag, Björn Höcke, als vorerst gescheitert ein. Höcke habe auf Machtbeteiligung gezielt, er habe die AfD zuerst in einzelnen Bundesländern und danach in der Bundespolitik an der Macht beteiligen wollen. Durch die Vorgänge in Thüringen sei ihm diese Möglichkeit aus den Händen geglitten. Das sei eine Niederlage.
    Björn Höcke, Fraktionsvorsitzender der Thüringer AfD, spricht im Thüringer Landtag
    AfD und der Verfassungsschutz: Unter Beobachtung
    Seit Mitte Januar ist die AfD ein Prüffall für den Bundesverfassungsschutz. Damit rückt die Partei weiter ins Blickfeld der Sicherheitsbehörden. Eine große Rolle spielt dabei vor allem eine Gruppierung um den Thüringer Landesvorsitzenden Björn Höcke.
    Hintergrund: Wie die Entwicklung beurteilt wird
    Die Meinungen über die Vorgänge sind in den Bewertungen verschiedener Politologen einhellig: Sie seien schädlich für die Demokratie. Es wird unter anderem von einem Damm- oder Tabubruch gesprochen.
    Der Politikwissenschaftler Oskar Niedermayer
    Parteienforscher: "Es ist noch schlimmer als vorher"
    Die CDU stehe in Thüringen vor einem Dilemma, sagte der Parteienforscher Oskar Niedermayer: Käme es zu einer Wahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten, liefe sie Gefahr, sich in ihrem Abgrenzungsbeschluss zu verstricken.
    Das Theaterhaus Jena hat die Aufschrift "Thüringen - kein Problem" zu "Thüringen - ein Problem" geändert.
    Politologin Kropp: "Der Schaden ist enorm"
    Wählerinnen und Wählern hätten den Eindruck vermittelt bekommen, es gebe eine Riege von Politikern, denen es nur darauf ankomme, die eigene Macht zu sichern und in Ämter zu kommen, sagte Politologin Sabine Kropp.
    Politologe von Lucke: "Ein Desaster für Kramp-Karrenbauer"
    Die CDU-Spitze um Anegret Kramp-Karrenbauer habe das vermeintliche Regionalproblem in Thüringen falsch eingeschätzt, sagte der Politologe Albrecht von Lucke. Dies sei ein grundsätzliches Problem mit der Frage, wie bürgerlich die AfD sei.
    Herfried Münkler, Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität, 2018.
    Politologe Münkler: "Eine Krise des politischen Personals"
    Der Politologe Herfried Münkler rügt die Skrupellosigkeit und handwerkliche Unfähigkeit der Politiker in Thüringen. Das liege auch daran, dass es heute nicht mehr attraktiv sei, als Politiker zu arbeiten, sagte Münkler.
    Der Autor Claus Leggewie auf der Frankfurter Buchmesse.
    Leggewie: "Die bürgerliche Mitte hat sich blamiert"
    Das konservativ-liberale Lager habe sich in Thüringen aufs Glatteis gestellt, sagte der Politologe Claus Leggewie im Dlf. "Es ist ein Angriff von rechts auf die Republik im Gange." Dieser müsse von der bürgerlichen Mitte als solcher auch erkannt und benannt werden.
    Thomas Kemmerich (FDP), neuer Ministerpräsident von Thüringen, betritt nach der Wahl die Thüringer Staatskanzlei.
    Politologe Oppelland: "Abgekartertes Spiel eher unwahrscheinlich"
    War die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten Thüringens eine Absprache zwischen AfD und Teilen der CDU? Das halte er für eher unwahrscheinlich, sagte Politologe Torsten Oppelland.