Sarah Zerback: "Strong and stable" – so wollte Theresa May aus diesen Wahlen hervorgehen. Aber nachdem jetzt fast alle Wahlkreise ausgezählt sind, ist klar: Stark und stabil ist in Großbritannien erst mal gar nichts mehr. Theresa May und ihre Tories haben keine eigene Mehrheit mehr. Die britische Premierministerin hat sich verrechnet bei dem Versuch, sich Rückenwind für ihren harten Brexit-Kurs zu holen. Welche Konsequenzen sie daraus zieht, das entscheidet sich heute im Laufe des Tages.
Das möchten wir jetzt analysieren mit Nicolai von Ondarza, Großbritannien-Experte von der Berliner Denkfabrik SWP. Herr von Ondarza, in den ersten Reaktionen hören wir von einem Desaster, einer Katastrophenwahl. Theresa May will aber trotzdem im Amt bleiben. Überrascht Sie das?
Nicolai von Ondarza: Das überrascht mich schon. Es ist erst mal eine riesige Beschädigung für sie. Als sie die Wahl angekündigt hat, hatte sie einen Vorsprung von über 20 Prozent in den Wahlen und hat jetzt sogar ihre absolute Mehrheit verspielt. Und ich erwarte auch, dass es noch viel Kritik an ihrer Position gibt, jetzt trotzdem noch im Amt zu bleiben. Ich glaube, es ist noch abzuwarten, ob sie mit dieser knappen Mehrheit, die sie jetzt mit dieser DUP, einer nordirischen Partei hat, ob sie damit eigentlich als Premierministerin so angekratzt dauerhaft bestehen kann.
"Realistisch hat sie eigentlich nur eine einzige Option"
Zerback: Auf die Koalitionsoptionen können wir ja gleich noch mal schauen. Aber jetzt erinnern uns wir mal ein Jahr zurück. Nach dem gescheiterten EU-Referendum, da ist David Cameron zumindest direkt am nächsten Morgen zurückgetreten. Wäre das nicht nur konsequent? Warum tut sie das nicht?
von Ondarza: Das wäre in der Tat konsequent gewesen. Sie hat auch im Wahlkampf immer gesagt, wenn ich nur sechs Sitze verliere, dann wird Jeremy Corbyn Premierminister. Jetzt hat sie über zehn Sitze verloren und scheint, das wieder vergessen zu haben.
Ich glaube, sie macht das, weil sie tatsächlich auf der einen Seite am Stuhl klebt, nicht so schnell wieder vom Amt wegwill. Auf der anderen Seite ist zumindest ihr Argument, Großbritannien kann sich jetzt nicht eine lange Phase der Regierungsbildung leisten. Denn in der Tat: Die Verhandlungen mit der EU sollten möglichst bald beginnen.
Zerback: Das berühmte "Strong and Stable" von Theresa May, was wir ja jetzt schon persifliert immer wieder gehört haben. – Jetzt wissen wir auch, dass sie auf dem Weg zur Queen sein soll in diesen Minuten, um dort um Erlaubnis zu bitten für ihre neue Regierung. Welche Koalitionsoptionen hat sie denn?
von Ondarza: Realistisch hat sie eigentlich nur eine einzige Option. Normalerweise wären die Liberaldemokraten noch möglich, aber mit denen ist sie beim Brexit überhaupt nicht auf einer Linie. Die Liberaldemokraten wollen ja sogar ein zweites Referendum, um den Brexit wieder rückgängig zu machen.
Als einzige Option gibt es daher die DUP. Das ist eine nordirische protestantische Partei, die nicht nur in Brexit-Fragen, sondern auch was die Wertepolitik angeht relativ nahe an den Konservativen steht. Die haben zehn Sitze gewonnen und das würde reichen, um gerade die absolute Mehrheit, aber eben auch nur gerade zu erreichen.
Abhängigkeit von Splitterpartei würde "May sehr erpressbar machen"
Zerback: Jetzt haben ja Koalitionsregierungen in Großbritannien keine Tradition so wie bei uns. Kann man daraus schließen, dass das politische Milieu zunehmend fragmentiert ist?
von Ondarza: Eigentlich haben wir genau das Gegenteil erlebt. Was die absolute Stimmenzahl angeht, sind die beiden großen Parteien so groß wie seit den 70er-Jahren nicht mehr. Sie haben zusammen über 80 Prozent erreicht. Und es sind nur noch die Regionalparteien, die übrig bleiben. Die SNP, Plaid Cymru, eine walisische Partei, und die beiden nordirischen Parteien Sinn Féin und DUP. Wir sehen eher eine Zentralisierung auf Labour und die Konservativen und dann eine Spaltung in die einzelnen Regionalparteien von Wales, Schottland und Nordirland. Aber was das Besondere ist, ist, dass die Konservativen dann wirklich abhängig wären von einer Splitterpartei, was Theresa May sehr, sehr erpressbar machen würde, sowohl von den harten EU-Gegnern innerhalb ihrer eigenen Partei als auch der DUP, weil bei jeder Abstimmung dann jeder Abgeordnete zählen würde.
Zerback: Dass Labour jetzt dann doch so stark geworden ist – die haben das Blatt ja wirklich in den vergangenen Wochen noch mal drehen können -, das ist ja durchaus auch bemerkenswert, weil deren Chef Jeremy Corbyn in der Vergangenheit ja stark in der Kritik stand und auch als sehr unpopulär galt. Jetzt feiert Labour mit ihm seinen Aufschwung. Wie groß ist daran Corbyns Anteil? Was hat er da richtig gemacht?
von Ondarza: Ich glaube, sein wichtigster Schritt war, die Wahlen von dem Brexit wegzurücken. Er hat gesagt, Labour akzeptiert den Brexit, aber den Fokus immer auf die Sozialpolitik gesetzt: Kürzungen im Gesundheitssystem, Studiengebühren, Kürzungen bei den Sozialsystemen, auch Kürzungen bei der Polizei. Und das ist offensichtlich bei den Briten angekommen, die eigentlich nicht nur über den Brexit reden wollen, und damit hat er eigentlich die meisten Stimmen gewonnen.
Das Zweite ist: Was er geschafft hat, ist, wirklich die Jugend zu mobilisieren. Die Jugendlichen oder die 18 bis 25-jährigen haben laut ersten Umfragen zu fast 70 Prozent für Labour gestimmt und das waren die, die beim EU-Referendum zuhause geblieben sind. Ich glaube, die haben ihre Lektion gelernt und diesmal gesagt, wenn wir May verhindern wollen, müssen wir zur Wahl gehen, und die hat Labour mobilisiert.
"Es wird für sie sehr schwierig, die nächsten Tage zu überstehen"
Zerback: Sie haben den Brexit jetzt schon angesprochen. Kann man denn dieses Signal jetzt, diese Wahl, das Ergebnis auch verstehen als Abkehr der Briten gegenüber dem Ausstieg aus der EU?
von Ondarza: Das glaube ich nicht. Denn wie gesagt: Auch Labour hat sich für den Brexit ausgesprochen. Das heißt, die Parteien, die sich für den Brexit aussprechen, haben zusammen über 85 Prozent der Wählerstimmen gewonnen.
Wo es vielleicht ein bisschen ein Abrücken gibt, ist von dem ganz, ganz harten Brexit, den Theresa May befürwortet, mit Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion. Das haben zumindest die Mehrheit der Briten nicht getragen. Aber auch hier kommt wieder die Koalitionsdynamik ins Spiel. Wenn Theresa May tatsächlich eine Koalition mit der DUP eingeht, mit einer sehr, sehr knappen Mehrheit, dann bleibt sie enorm erpressbar von den harten EU-Gegnern in ihrer eigenen Partei. Und das bedeutet, dass ich erwarte, dass sie gerade mal bei dieser kleinen Mehrheit eher kompromissloser mit der EU verhandelt, als auf die EU zugehen wird.
Zerback: Kann man denn sagen, dass das für Brüssel tatsächlich eher besorgniserregend ist, oder kann man da auch aus der europäischen Hauptstadt so etwas wie Schadenfreude hören? Das ist ja ein Wort, das man durchaus auch im Englischen benutzt und kennt.
von Ondarza: Es gibt natürlich Schadenfreude. Theresa May persönlich ist sehr beschädigt. Aber eigentlich macht das die Verhandlungen schwieriger. Man hatte damit gerechnet, dass man jetzt einen klaren Partner mit einer klaren Position hat, mit dem man ab nächste Woche verhandeln kann. Jetzt haben wir eine schwierige Regierungsbildung, möglicherweise danach eine instabile Regierung, die sehr erpressbar ist und sehr abhängig von innenpolitischen Entwicklungen, und das macht Großbritannien für die EU eigentlich zu einem schwierigeren und wesentlich schwerer zu kalkulierbaren Verhandlungspartner. Ich glaube, dass diese Neuwahlen und das Ergebnis eher dazu führen, dass die Verhandlungen länger dauern und möglicherweise schwieriger werden.
Zerback: Was ist denn da Ihre vorsichtige Prognose? Wie lang wird denn die Verhandlungspartnerin dort tatsächlich Theresa May heißen? Wie lang wird sie sich im Amt halten können?
von Ondarza: Das ist schwer zu sagen. Meine Erwartung ist, dass es für sie sehr, sehr schwierig wird, die nächsten Tage zu überstehen. Das ist der Punkt, wo es Bewegung innerhalb der eigenen Partei geben muss. Denn am 19. Juni ist die sogenannte Queen Speach, wo die Regierung ihr Programm vorstellt und die Mehrheit im Parlament gewinnen muss. Gewinnt sie das, glaube ich, hat sie eine Chance, erst mal die Regierung zu führen. Aber da wäre ich noch vorsichtig, dass sie bis dahin tatsächlich durchhält, und da wird sicherlich von Personen wie Boris Johnson jetzt schon eruiert, ob es nicht vielleicht doch eine Möglichkeit in der Konservativen Partei gibt, sie jetzt noch zu stürzen.
Zerback: Die Einschätzungen von Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Besten Dank nach Berlin.
von Ondarza: Sehr gerne.
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