Seine brisante geographische Lage macht Haiti immer wieder zum Schauplatz von zerstörerischen Naturkatastrophen. Der Karibikstaat liegt in einer der gefährlichsten Erdebenzonen des Globus – über das Land ziehen regelmäßig Tropenstürme hinweg und das Klimaphänomen El Nino führt immer wieder zu schweren Dürren. Eine Kombination von Risiken, die selbst ein robustes Staatswesen vor große Probleme stellen würde, doch in Haiti ist der Staat schwach – das Land taumelt von einer politischen Krise in die nächste. Auch mit UN-Hilfe ist es bislang nicht gelungen, eine stabile Demokratie aufzubauen.
Nach dem Jahrhundertbeben 2010 wurde Haiti nun erneut von einem schweren Erdbeben erschüttert. Mehr als 2.000 Tote zählten die Behörden bereits - ein Tropensturm, der kurz darauf über das Land fegte, hat die Lage zusätzlich verschärft. Nach der Kritik an der schleppend anlaufenden Nothilfe versprach Übergangspremier Ariel Henry Besserung.
Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk erläuterte der Landesdirektor der Welthungerhilfe für Haiti, Dirk Guenther, die Probleme, die es vor Ort gibt und wa
Das Interview im Wortlaut:
Andreas Noll: Herr Guenther, wie gut ist die Hilfe für die Menschen in diesem geschundenen Land mittlerweile angelaufen?
Dirk Guenther: Die Hilfe ist deutlich langsamer angelaufen, als es damals nach dem Erdbeben 2010 war. Das liegt einerseits daran, dass die Region relativ schlecht erreichbar ist. Inzwischen ist sie besser erreichbar. Aber natürlich auch, weil ein Erdbeben in der Hauptstadt auch schneller in der internationalen Presse bekannt geworden ist als in Provinzstädten. Aber die Hilfe läuft jetzt an und erreicht die Region, aber nicht alle Teile, vor allem nicht die abgelegenen, ländlichen Teile, die sind bisher noch sehr schlecht erreichbar.
Noll: Wie groß sind aus Ihrer Sicht die Zerstörungen?
Guenther: Die Zerstörungen sind qualitativ genauso groß wie damals beim Erdbeben in Port au Prince. Quantitativ deutlich geringer, weil es sich um zwei Provinzhauptstädte und ländliche Gemeinden handelt mit einer deutlich geringeren Bevölkerungsdichte und deutlich weniger Toten. Aber das Erdbeben war gleich stark und die Zerstörung war gleich.
Mitten in einer Regierungskrise getroffen
Noll: Das Land befindet sich auch in einer schweren innenpolitischen Krise derzeit, der gewählte Präsident wurde Anfang Juli ermordet, die Nachfrage ist bist heute umstritten, hat das Folgen für die Arbeit der Hilfsorganisationen oder operieren sie weitgehend unabhängig von der Führung des Landes?
Guenther: Das hat Auswirkungen, aber Haiti ist im Prinzip ein Land, was an solche Regierungskrisen – natürlich nicht die Ermordung des Präsidenten –, aber an solche Regierungskrisen gewöhnt ist. Das heißt, die lokalen Einheiten funktionieren auch weiter in dem Maße, in dem sie funktionieren können. Es gibt allerdings derzeit ein Problem, und zwar dass das Management dieser gesamten Katastrophenhilfe zwischen Haiti und den Vereinigten Staaten von Amerika durchaus diskutiert wird. Haiti möchte das über ihren Katastrophenschutz machen, und die Vereinigten Staaten bevorzugen die UN, das kann natürlich wieder zu Problemen führen, wie es damals auch bei der Clinton-Initiative auftauchte, wenn zwei Einheiten meinen, es müsste unterschiedlich gemanagt werden.
Noll: Im Vergleich zum Erdbeben 2010, Sie haben es ja gerade schon erwähnt, sind die Menschen dieses Mal, trotz der großen Zerstörungen, glimpflicher davongekommen. Damals gab es Zehntausende Tote, es gab dann milliardenschwere Hilfsprogramme aus dem Ausland, die aber am Ende wenig gebracht hätten. Haiti verharrt weiter im Elend. Was läuft hier aus Ihrer Sicht falsch?
Guenther: Es gibt ganz einfach generelle Probleme, das heißt, der schwache Staat in Haiti. Dann haben sehr viele Organisationen nach der letzten Katastrophe – auch die Welthungerhilfe – erfolgreich die Katastrophenhilfe und so weiter aufgebaut. Es ist ein generelles Problem, dass diese Unterstützung immer punktuell sind durch Projekte und nicht dauerhaft durch Budgethilfen beziehungsweise ins Budget eingesetzt. Katastrophenhilfe muss üben, auch wenn es keine Katastrophe gibt.
Koordination mit den haitianischen Behörden notwendig
Noll: Was wäre aus Ihrer Sicht jetzt für das Land am drängendsten, was müsste am schnellsten geändert werden, welche Hilfe wäre jetzt am nötigsten?
Guenther: Die Hilfe ist im Moment das, was bei einer Soforthilfe bei einer Katastrophe erforderlich ist, Trinkwasserversorgung, das machen wir bereits. Das heißt, die Trinkwassersysteme der Region sind weitgehend kaputt und wir reparieren diese Trinkwassersysteme. Und es müssen weiterhin zuerst Zelte und Planen wieder neu verteilt werden. Die ersten Sachen, die dort verteilt worden sind, sind durch den Tropensturm zerstört worden.
Die Bevölkerung muss mit Nahrungsmitteln versorgt werden, das heißt, die ganz normale Ersthilfe muss anlaufen und sie muss aus meiner Sicht – das ist auch in Haiti vorgesehen – koordiniert werden mit den hiesigen Behörden. Das ist inzwischen auch vorgeschrieben aufgrund der schlechten Erfahrungen des anderen Erdbebens 2010. Die Behörden legen Wert darauf, dass sie grundsätzlich vor Ort eingebunden sind zur Koordinierung dieser Hilfe, da mit diese Hilfe besser funktioniert. Beim letzten Tropensturm, der deutlich weniger Schaden angerichtet hat als dieses Erdbeben, hat dies auch einigermaßen funktioniert. Also, es ist unbedingt Hilfe erforderlich, aber – wie gesagt – eine Hilfe, die koordiniert ist mit den haitianischen Behörden, auch wenn die sehr schwach sind, aber es muss mit ihnen koordiniert werden.
Organisationen aus dem Ausland in der Kritik
Noll: Stichwort schlechte Erfahrungen: Nach dem Scheitern des Westens in Afghanistan sind wir vielleicht gerade besonders sensibilisiert, was die Segnungen der westlichen Hilfe, wenn man das so sagen will, anbelangt. Jedenfalls gibt es Kritik unter anderem von dem US-Anthropologen Mark Schaller, der sagt, die internationale Hilfe nach dem Erdbeben 2010 habe vorhandene soziale Netzwerke und soziale Institutionen und den Zusammenhalt der Familien in Haiti zerstört. Ist an dieser Kritik aus Ihrer Sicht etwas dran?
Guenther: Ich bin der Meinung, dass Institutionen durchaus, ich will nicht sagen, zerstört worden sind, aber beschädigt. Das liegt daran, dass Organisationen aus dem Ausland denken, sie könnten an den haitianischen Einheiten vorbei arbeiten. Es gab da heftige Kritik, dass irgendwelche Organisationen plötzlich anfangen, irgendeine Hilfe irgendwo zu geben, die nicht abgestimmt ist und die auch nicht sinnvoll ist und die durchaus Strukturen vor Ort zerstört hat. Zum Beispiel: Wenn es schon Trinkwasserkomitees gibt, sollten sie eingebunden werden – und nicht einfach parallel neue Trinkwasserfassungen gebaut werden.
Trinkwasserverteilung, wie sie im Moment stattfindet, ist davon nicht betroffen. Diese Ersthilfe, die ist in jedem Fall sinnvoll. Aber wenn Nothilfe zu lange gemacht wird, dann besteht eine große Gefahr, dass eben auch Strukturen des Landes nicht berücksichtigt werden und damit zerstört werden. Wir achten auch sehr auf solche Sachen, aber es gibt leider Organisationen, die dies nicht tun.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.