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Nach Erdogans Wahlsieg
"Nicht mehr nur nach seinem Kopf"

Die CDU-Integrationspolitikerin Cemile Giousouf hat im Deutschlandfunk vor überzogener Kritik am designierten türkischen Präsidenten Erdogan gewarnt. Erdogans Ankündigung, die Gesellschaft zusammenzuführen, müsse ernst genommen werden. Er dürfte insgesamt einen weicheren Kurs einschlagen, allerdings nicht ganz freiwillig.

Cemile Giousouf im Gespräch mit Christiane Kaess |
    CDU Mitglied Cemile Giousouf spricht am 16.03.2013 in Münster (Nordrhein-Westfalen) während der CDU Landesvertreterversammlung.
    CDU-Mitglied Cemile Giousouf kritisiert die Haltung ihrer Partei zur Türkei. (picture alliance / dpa / Caroline Seidel)
    Erdogan habe große Schwierigkeiten in seiner Partei, "die Banden zusammenzuhalten", sagte die Vizevorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe im Bundestag im DLF. "Deswegen glaube ich allein schon aus politisch-taktischen Gründen, dass er gegebenenfalls sogar einen weicheren Kurs fahren wird, als wir es bislang erwarten." So hätten die kritischen Stimmen in den eigenen Reihen zuletzt zugenommen; einige Minister seien zurückgetreten. "Und deswegen wird er jetzt nicht mehr (...) nur nach seinem Kopf regieren wollen."

    Es gebe aber durchaus auch Parallelen zwischen dem Präsidenten Russlands Wladimir Putin und seinem künftigen Amtskollegen in der Türkei. Putin wie Erdogan hätten starken Rückhalt in der Bevölkerung. Von Erdogan sei zu erwarten, dass er das Präsidentenamt mit mehr exekutiver Gewalt ausstatten werde. Giousouf sei jedoch hoffnungsvoll, dass es von Erdogan "etwas versöhnlichere Töne geben wird" als zuletzt, etwa in der Kurdenfrage. Der kurdische Präsidentschaftskandidat an der 10-Prozent-Hürde, die bei Parlamentswahlen gilt, gekratzt. Daran merke man, dass es in der Opposition Bewegung gebe.

    Giousuf kritisierte außerdem die Haltung ihrer eigenen Partei zur Türkei als falsch. Die Union habe zu lange daran festgehalten, dass eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU nicht in Frage komme. Deshalb sei die Stimmung in der türkischen Bevölkerung inzwischen gekippt und eine stärkere Abkehr von der EU erfolgt; Überdruss habe sich breitgemacht. Den Vorschlag der CSU, die Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei abzubrechen, wies Giousuf zurück.

    Das Interview mit Cemile Giousouf in voller Länge:
    Christiane Kaess: Nicht einmal mehr in die Stichwahl musste er: Der bisherige türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hat die Präsidentenwahl am Sonntag mit fast 52 Prozent der Stimmen gewonnen. Auch wenn das nicht das Wunschergebnis von Erdogan war – er hatte nämlich ein 55 plus x angepeilt. Nach seinem Sieg hat er seinen Gegnern die Hand zur Versöhnung entgegengestreckt mit den Worten: Lasst uns alle gemeinsam einen gesellschaftlichen Aussöhnungsprozess beginnen!
    Er hat eine neue Türkei angekündigt und versprach, er werde Staatsoberhaupt aller 77 Millionen Türken sein. Klar ist aber auch, Erdogan wird sein Amt nutzen, um seine Macht zu erweitern. Am Telefon ist Cemile Giousouf, sie sitzt für die CDU im Bundestag und ist dort Mitglied der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe.
    Cemile Giousouf: Grüße Sie, guten Morgen, hallo!
    Kaess: Weil Erdogan nicht mehr als Ministerpräsident gewählt werden kann, dann wird er eben Präsident. Da fällt oft der Vergleich mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, der denselben Weg gegangen ist. Haben wir es mit einem türkischen Putin zu tun?
    Giousouf: Ich denke, es gibt tatsächlich Parallelen zwischen Erdogan und Putin, beispielsweise die Tatsache, dass beide sehr stark vom Volk unterstützt werden, und die Tatsache, dass wir tatsächlich auch bei Präsident Erdogan erwarten können, dass er seine Macht weiter ausbauen wird, indem er dem Amt des Präsidenten mehr Gewalt, mehr exekutive Gewalt beispielsweise wird versuchen einzuräumen.
    "Etwas früh, den Teufel an die Wand zu malen"
    Kaess: Das heißt, er wird noch autoritärer werden und seine Gegner werden noch weniger zu sagen haben?
    Giousouf: Ich denke, es ist tatsächlich jetzt im Moment noch etwas früh, den Teufel an die Wand zu malen. Die Zeichen stehen zwar so, wie Sie es beschreiben, aber diese Botschaft, dass er jetzt die Gesellschaft tatsächlich wieder zusammenbringen will, muss man tatsächlich erst mal auch ernst nehmen. Ich denke, er hat auch innerhalb seiner Partei mittlerweile große Schwierigkeiten, die Banden zusammenzuhalten, deswegen glaube ich allein schon aus politisch-taktischen Gründen, dass er gegebenenfalls sogar einen weicheren Kurs fahren wird, als wir es bislang erwarten.
    Kaess: Woran machen Sie diese Schwierigkeiten in seiner Partei fest?
    Giousouf: Er hat ja in der letzten Zeit unterschiedlich – durch die Korruptionsvorwürfe, auch durch, ich würde sagen, den Konflikt mit der Gülen-Bewegung schon gemerkt, dass seine Macht ja nicht auf Ewigkeit bestehen kann. Und da, denke ich, wird es ihm jetzt auch wichtig sein, in seinen eigenen Reihen die Banden zusammenzuhalten. Und es gibt ja durchaus auch kritische Stimmen in seinem eigenen Lager, es gab Minister, die auch zurückgetreten sind.
    Und deswegen wird er jetzt nicht mehr – glaube ich zumindest, wäre zu wünschen – nur nach seinem Kopf regieren wollen. Ich denke schon, dass er auch versöhnliche Schritte eingehen wird. Und vor allem glaube ich auch schon, dass er auch beispielsweise auf die kurdische Wählerschicht, die jetzt dem kurdischen Kandidaten sehr viel mehr Stimmen als erwartet gegeben hat, auf die zugehen wird.
    "Starke Polarisierung zwischen Erdogan-Befürwortern und -Gegnern"
    Kaess: Zu den Kurden können wir gleich noch ein bisschen mehr kommen. Aber die Konflikte, die Sie ansprechen, Frau Giousouf, wie passt das denn zusammen auf der anderen Seite mit dieser Versöhnung, die er anstrebt? Wie realistisch ist das denn nach allem, was passiert ist?
    Giousouf: Langfristig gesehen, natürlich hat er im Parlament die Mehrheit, was jetzt die Gesetze angeht et cetera. Langfristig gesehen kann er aber so eine gesellschaftliche Spaltung in einem Land tatsächlich nicht halten. Es ist hoch problematisch in der Türkei, wir haben eine starke Polarisierung zwischen Erdogan-Befürwortern und -Gegnern und das spürt er natürlich auch. Und ich glaube, er kann auch nicht davon ausgehen, dass er weiterhin auch bei den nächsten Parlamentswahlen die Ergebnisse einräumen wird, die AKP, wie bei den letzten.
    Und wir haben jetzt auch beispielsweise gesehen, Demirtas, der kurdische Kandidat, hat neun Prozent geholt. Wir haben ja in der Türkei eine Zehn-Prozent-Hürde und es könnte durchaus sein, dass zum Beispiel bei den nächsten Parlamentswahlen die kurdische Partei als Partei in das Parlament einziehen könnte. Das sind alles Entwicklungen, wo man merkt, in der Opposition gibt es Bewegung, es gibt eine Formierung, und das wird ihm nicht entgehen. Ich bin tatsächlich hoffnungsvoll, dass es hier etwas versöhnlichere Töne geben wird.
    "Erdogan hat die Hand der PKK gegenüber ausgetreckt"
    Kaess: Glauben Sie auch, dass das Verhältnis zu den Kurden unter den außenpolitischen Vorzeichen, die derzeit diese stark von Konflikten geprägte Region überschatten, dass auch unter diesem Aspekt das Verhältnis zu den Kurden überdacht werden muss und dass Erdogan das tatsächlich auch so sieht?
    Giousouf: Der Friedensprozess mit den Kurden, mit der PKK, wurde schon früher eingeläutet, wie Sie wissen. Es war zum ersten Mal tatsächlich Erdogan, der die Hand der PKK gegenüber ausgestreckt hat, es wurde ein Friedensprozess eingeläutet. Auch was die Rechte der Kurden in der Türkei angeht, beispielsweise die kurdische Sprache an Schulen, wurde durch die AKP-Regierung eingeläutet. Das heißt, dieser Friedensprozess, das Aufeinander-Zugehen auf die AKP und auf die kurdische Bevölkerung hat schon früher begonnen, auch wenn sie nicht bis zuletzt, bis zur größten Zufriedenheit aller Kurden stattfindet. Aber es wurde tatsächlich noch nie so stark mit denen gesprochen wie unter der AKP-Regierung. Aber Sie haben natürlich recht, die ISIS, die gegenwärtige Gefahr, macht jetzt noch mal ganz stark andere Allianzen in der Türkei möglich und auch nötig.
    Kaess: Frau Giousouf, eine andere Sorge des Westens ist eine weitere Islamisierung der Türkei. Sie sind selbst Muslimin. Entspricht denn die Islamisierung der Türkei bisher Ihren Vorstellungen des Islam?
    Giousouf: Ich glaube, man muss ein bisschen aufpassen, wenn man über Islamisierung spricht, weil, de facto zeigt sich das nicht in Gesetzen. Aber es zeigt sich tatsächlich in einer gesellschaftlichen Stimmung. Wir lesen oder hören, dass es halt einen starken gesellschaftlichen Druck gibt gesellschaftlichen Gruppen gegenüber, die keine Muslime sind. Es gibt beispielsweise Konflikte, wenn im Ramadan in manchen Bereichen in Istanbul, in manchen Gebieten Menschen nicht fasten, dass es eine gesellschaftliche Stimmung gibt, die sehr stark spaltet zwischen Muslimen und Nichtmuslimen.
    "Religiöse Rhetorik belastet die Menschen"
    In manchen Teilen der Türkei, muss man natürlich sagen, das gilt nicht für die gesamte Türkei. Wir haben dann auch eine Rhetorik beispielsweise vom Vize vom damaligen Ministerpräsidenten Erdogan, von Bülent Arinc, gehört, wo er beispielsweise gesagt hat, wie sich Männer und Frauen in der Öffentlichkeit zu verhalten hätten. Es gibt also schon eine religiöse Rhetorik, die die Menschen belastet, es gibt Alkoholverbote zum Teil beziehungsweise höhere Steuern für Alkohol. Und das sind natürlich Sachen, das ist keine schöne Entwicklung, weil es Menschen ausgrenzt, und ich glaube, das ist auch das, was den meisten Menschen zu schaffen macht.
    Kaess: Und diese ausgrenzende Entwicklung, ist es die, die die Oberhand gewinnen wird, wenn Sie das einschätzen müssten?
    Giousouf: Ich vermute, dass es eine Tendenz dazu gibt, weil die Zustimmung dafür relativ hoch ist, viele empfinden das auch als positiv, dass nach langen Jahren, wo der Islam durch die kemalistische Regierung sehr stark unterdrückt wurde – Sie wissen, dass Frauen mit Kopftuch noch nicht mal studieren konnten –, gibt es jetzt sozusagen eine Gegenbewegung, die aber leider – leider, muss man sagen – den gleichen Fehler macht, dass sie nämlich die andere Gruppe versucht kleinzuhalten. Und das ist tatsächlich ein Fehler, der sich, hoffe ich, jetzt nicht noch stärker wiederholen wird, sondern dass man tatsächlich versucht, demokratische Lösungen zu finden, dass alle Gruppen in der Türkei ihren Frieden finden und demokratisch leben.
    "EU hat die Türkei zu lange warten lassen"
    Kaess: Frau Giousouf, die CDU, Ihre Partei, hat sich immer gegen einen EU-Beitritt der Türkei gewehrt oder ist dem Ganzen zumindest äußerst skeptisch gegenübergestanden. Der CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer fordert jetzt, den EU-Beitritt der Türkei oder die Möglichkeit dazu endgültig zu den Akten zu legen. Hat er recht?
    Giousouf: Das sehe ich überhaupt nicht so, im Gegenteil. Wir argumentieren beispielsweise bei der Ukraine, dass wir sagen, wir möchten Länder, die in die EU möchten, die einen großen gesellschaftlichen Anteil haben, der nach der EU ruft, unterstützen. Ich sehe nicht, warum es bei der Türkei nicht genauso gilt.
    Kaess: Aber ist das in der Türkei überhaupt noch so?
    Giousouf: Da haben Sie allerdings recht, wir haben leider, muss man sagen, eine stärkere Abkehr von der EU. Aber nicht, weil die Menschen sagen, wir wollen nicht in die EU und wir wollen keine europäischen Werte teilen, sondern weil sie sagen, die Türkei wurde einfach zu lange auf die lange Wartebank gesetzt, andere Staaten, die weniger demokratisch waren, sind in die EU gekommen, und wir mussten jetzt schon so lange warten. Ich glaube tatsächlich, dass dieser Überdruss sehr stark daher kam, dass die EU die Türkei hat so lange warten lassen.
    "Ich wünsche mir, dass die Türkei zur EU zurückkommen kann"
    Kaess: Eine Abkehr und ein Überdruss, den die CDU auch mit befördert hat!
    Giousouf: Ich würde sagen, dass es tatsächlich - also, bei der CDU war es tatsächlich immer so, dass sie immer sehr klar gesagt hat, dass sie keinen vollen Beitritt möchte, die CDU war da eigentlich immer relativ klar. Sie hat nie versprochen, eine volle Mitgliedschaft zu unterstützen. Ich persönlich hätte mir das sehr gewünscht und wünsche mir das auch weiterhin, dass zumindest keine Abkehr von der EU passiert.
    Weil – auch das ist Teil der Wahrheit –, noch nie wurden so viele EU-Reformen durchgesetzt auch wiederum wie bei der AKP-Regierung, und dann aber in der letzten Legislatur gab es tatsächlich eine stärkere Zuwendung in Richtung der islamischen Staaten, in Richtung der sogenannten arabischen Welt, was erst mal per se auch nicht unbedingt verkehrt ist. Aber ich würde mir tatsächlich wünschen, dass die Türkei wieder zur EU zurückkommen könnte.
    Kaess: Cemile Giousouf, sie ist für die CDU im Bundestag und ist dort Mitglied der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe. Danke für das Gespräch heute Morgen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.