Nach der verehrenden Explosion im Hafen von Beirut ist die Sorge um die politische Stabilität im Libanon groß. Der Libanon stehe nicht vor dem Zusammenbruch, sondern befinde sich in einer Phase der Wiedergeburt, sagte Rami Khouri, der an der Amerikanischen Universität in Beirut und als Senior Fellow an der Harvard Kennedy School in den USA lehrt, im Deutschlandfunk. Das wünsche sich zumindest die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. Die gesamte politische Klasse sei korrupt, träge und müsse gehen. "Wir haben es zu tun mit einem autoritären, durch und durch oligarchischen, auf Konfessionen ausgerichteten, hochkorrupten, diskreditierten und ineffizienten Wrack eines politischen Systems." Khouri erwartet für die kommenden Wochen ernsthafte Verhandlungen und eine Übergangsregierung, die für wirtschaftliche Stabilität sorgen soll.
Das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Steht der Libanon vor einem Zusammenbruch?
Rami Khouri: Die Wirtschaft ist bereits zusammengebrochen. Das gilt auch für die Strom- und beinahe die gesamte Wasserversorgung, ebenso das Bildungssystem und die Möglichkeit der Mittelschicht, irgendwie über die Runden zu kommen. Also vieles, was zur Grundstruktur eines normalen Lebens gehört, ist bereits zusammengebrochen. Das Land als Ganzes befindet sich allerdings in einer Phase der Wiedergeburt, jedenfalls wenn man sich anhört, was die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger wünscht, und was sie während der außergewöhnlichen öffentlichen Proteste zum Ausdruck bringt.
"Die besten Leute sind nie in die Politik gegangen"
Heinemann: Wie kann man erklären, dass mehr als 2.000 Tonnen Ammonium-Nitrat in einem Lagerhaus unter unzureichenden Bedingungen liegen?
Khouri: Das ist sehr einfach zu erklären. Denn es entspricht der Haltung der libanesischen Regierungen der vergangenen, ich würde sagen, 20 Jahre. Die Regierung kümmert sich nicht um die Dinge, die die Sicherheit, das Wohlergehen oder gar die Rechte der meisten Bürgerinnen und Bürger betreffen. Deshalb waren Hunderttausende auf den Straßen, weil sie das ganze System loswerden wollen. Man sollte beachten, was die Protestierenden gesagt und getan haben: Sie haben nicht gesagt, wir möchten dieses Gesetz, oder dieser Minister solle ausgewechselt werden. Seit Oktober sagen sie: Die gesamte politische Klasse ist korrupt, träge und muss gehen. Sie zerstört das Land, hat dafür gesorgt, dass die Wirtschaft am Boden liegt und das Leben der Menschen zugrunde gerichtet wird.
Bei den Demonstrationen in der vergangenen Woche in der Stadt haben sie Bilder aller politischen Führer an Galgen aufgehängt. Ein ziemlich dramatischer Ausdruck ihrer Wut und dessen, was sie Rache nennen, was man aber am besten durch die Justiz erreicht. Die Frage lautet: Wird es das politische System fachlich geeigneten Personen gestatten, Macht zu übernehmen. Und wird es ein anständiges und glaubwürdiges Parlament geben, dass das Volk repräsentiert und die notwendigen Gesetze beschließt? Wird der Präsident dies unterstützen, und werden alle politischen Gruppen, darunter Hisbollah als die stärkste, hinter dieser Wende stehen? Libanon verfügt über die qualifiziertesten Menschen in der ganzen arabischen Welt. Die Menschen konnten ihre Talente im Land frei entfalten. Nur sind die besten Leute nie in die Politik gegangen. Das ist ein Teil der Probleme.
Heinemann: Was erwarten Sie?
Khouri: Für die kommenden Wochen erwarte ich ernsthafte Verhandlungen. Ergebnis sollte eine auf kurze Zeit befristete Übergangsregierung sein. Diese müsste die Wirtschaft stabilisieren, mit dem Internationalen Währungsfonds handelseinig werden, die Investitionen in die Wirtschaft und Wachstum ankurbeln, für mehr Arbeitsplätze und Einkommen sorgen, Armut verringern und normalen Menschen wieder mehr Hoffnung geben. Und sie müsste weitere kritische Punkte anpacken: Der wichtigste ist die Stromversorgung. Die gegenwärtige Lage entzieht dem Land in jedem Jahr Milliarden Dollar, das meiste davon wanderte in korrupte Taschen. Das muss jetzt gemacht werden. Außerdem muss sie sich um die Bedürfnisse der am meisten gefährdeten und armen Menschen im Libanon kümmern, zu denen inzwischen weit mehr als 50 Prozent der Bevölkerung gehören.
Heinemann: Was die Explosion betrifft: Sie haben Hisbollah eben erwähnt: Die Organisation übt im Hafen einen bedeutenden Einfluss auf. Sollten die Finger auf Hisbollah zeigen?
Khouri: Solange es keine Untersuchung gab, sollten die Finger auf niemanden zeigen, außer auf die in den vergangenen sechs Jahren Verantwortlichen in der Regierung, und zwar ganz oben und ganz unten. Sie wussten Bescheid. Wir haben Berichte über Briefe, Dokumente und Zeugenaussagen gesehen von Leuten, die im Hafen gearbeitet haben. Wir haben in den vergangenen drei oder vier Tagen viele Beweise dafür gesehen, dass die Regierung auf allen Ebenen davon wusste und nichts unternommen hat. Ich glaube nicht, dass man jetzt schon mit dem Finger auf Hisbollah oder sonst jemanden zeigen kann. Ich persönlich glaube nicht, dass Hisbollah so dumm wäre, zuzulassen, dass sie mit dieser Entwicklung in Verbindung gebracht werden könnte. Aber man weiß nie. Man muss sich die Fakten anschauen, die ermittelt werden.
"Unabhängige Untersuchung kann nicht von Behörden des Staates durchgeführt werden"
Heinemann: Glauben Sie, dass eine unabhängige Untersuchung innerstaatlich durchgeführt werden kann?
Khouri: Nein. Eine unabhängige Untersuchung kann nicht innerhalb des Landes stattfinden, wenn sie von Behörden des Staates durchgeführt wird. Das haben wir jahrelang sehr deutlich gesehen. Es kann eine Ermittlung im Land geben, wenn daran Personen aus unterschiedlichen Bereichen beteiligt werden: aus der Privatwirtschaft, der Zivilgesellschaft, den Universitäten, Nichtregierungs-Organisationen, technische und wissenschaftliche Expertinnen und Experten, Forensiker, Kriminalisten und Juristen. Das würde gehen. Glaubhafte Fachleute, die, soweit notwendig, internationale Expertise einbringen könnten. Sie müssten dann einem unabhängigen übergeordneten Gremium Bericht erstatten. Nicht dem Premierminister oder dem Präsidenten. Die Menschen glauben denen nicht mehr.
Heinemann: Rechnen Sie damit, dass vor allem gut ausgebildete junge Leute jetzt das Land verlassen werden?
Khouri: Die jungen gut ausgebildeten Libanesinnen und Libanesen haben das Land während der vergangenen 15 Jahre in großer Zahl verlassen. Ich habe neulich noch die Zahl von 40 oder 50 Prozent derjenigen mit den besten Abschlüssen der besten libanesischen Universitäten gelesen, von denen es einige gibt. Sie gehen unmittelbar nach dem Examen, weil es keine Arbeitsplätze gibt. Aber sie wollen gar nicht weggehen. Sie möchten hier bleiben. Übrigens: hinter der Bühne gibt es bereits große Anstrengungen dieser jungen und auch älterer und erfahrenerer Leute, die in zivilgesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten. Sie entwickeln die politische und rechtliche Software für ein neu definiertes politisches System im Libanon.
"Hisbollah benötigt den Libanon, um stabil zu bleiben"
Heinemann: Besteht das Risiko, dass nach der Explosion der vergangenen Woche alles so weitergeht, als wäre nichts passiert?
Khouri: Dieses Risiko besteht immer. Wir haben es zu tun mit einem autoritären, durch und durch oligarchischen, auf Konfessionen ausgerichteten, hochkorrupten, diskreditierten und ineffizienten Wrack eines politischen Systems. Allerdings wird das deshalb nicht passieren, weil Hisbollah, die stärkste Gruppe im Land, nicht möchte, dass das Land zusammenbricht. Hisbollah benötigt den Libanon, um stabil zu bleiben.
Um ihre Mission des Widerstandes fortsetzen zu können gegen Israel, die USA und wie sie sagen, hegemoniale, imperialistische Bedrohungen - und so weiter. Also: Der Libanon steht nicht vor dem Zusammenbruch. Im Gegenteil: Bei den Menschen bricht gerade eine unglaubliche Energie aus mit der Botschaft: Wir sind kein gescheiterter Staat. Wir haben eine gescheiterte Regierung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.