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Nach Flüchtlingsgipfel
Brüssel kratzt am türkischen Ego

Auch wenn sich der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in Brüssel glücklich darüber zeigte, dass die EU endlich die Türkei braucht, fürchten seine Landsleute einen "dreckigen Deal" mit der EU. Wie schon so oft kratzt Brüssels Verhalten am Selbstwertgefühl der Türken.

Von Luise Sammann |
    EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu (15.01.2015).
    EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu. (dpa / picture-alliance / Olivier Hoslet)
    Ein bisschen Stolz, ein bisschen Genugtuung, ein bisschen Schadenfreude. Der türkische Ministerpräsident war sichtlich zufrieden, als er gestern beim außerordentlichen EU-Türkei-Gipfel in Brüssel das Wort ergreifen durfte. Lange genug hatte die Türkei auf den Moment gewartet, in dem endlich einmal die EU sie braucht, und nicht umgekehrt. Das Vorgehen im Kurdenkonflikt? Die Tatsache, dass zwei der wichtigsten regierungskritischen Journalisten des Landes seit vergangener Woche in Haft sitzen? Davutoglu musste sich nicht vor Kritik durch seine EU-Kollegen fürchten. Im Gegenteil:
    "Morgen werde ich in Ankara meine Regierungserklärung halten. Und ich werde dabei Ihre Grüße übermitteln und Ihren starken politischen Willen für die Zusammenkunft der Türkei mit der EU. Dieses ist ein neuer Beginn für die Türkei-EU-Beziehungen und ich danke dafür all meinen Kollegen."
    Doch so gelegen es der AKP-Regierung auch kommt, wenn die EU sie zur Bewältigung der Flüchtlingskrise plötzlich so offen umgarnt. Ihre Bürger halten wenig von der neuen Anbandlung mit Brüssel: Vor einem "dreckigen Deal" oder der "Flüchtlingsfalle der EU" warnen türkische Journalisten bereits seit Tagen. Und auch Twitter-Nutzer schimpfen: Ihr Land dürfe sich "nicht zum bezahlten Gefängnis der EU machen lassen".
    Drei Milliarden Euro Finanzhilfen, Visafreiheit ab Oktober 2016 und Fortschritte bei den Beitrittsverhandlungen sollen den Türken die Aussicht auf mehrere Millionen zusätzlicher Flüchtlinge im Land eigentlich schmackhaft machen. Doch nach Begeisterung sucht man in den Straßen Istanbuls vergeblich. Im Gegenteil: Der Plan, Flüchtlinge gegen Visaerleichterungen aufzuwiegen, sei "ayip" – eine Schande, meint ein Ladenbesitzer empört.
    Harte Kritik von der türkischen Landsleuten
    "Natürlich würde ich mich darüber freuen, wenn ich als Türke ohne Visum nach Europa reisen könnte. Aber die Verhandlungen darüber an Hunderttausende syrische Menschenleben zu knüpfen, widerspricht jeder Ethik!"
    Kritik gibt es, wie zu erwarten, auch von der türkischen Opposition. Deren Enttäuschung über die Kursänderung der EU gegenüber der AKP-Regierung ist ohnehin groß. Früher konnte man sich auf scharfe Kritik aus Brüssel verlassen, wenn zum Beispiel die Pressefreiheit verletzt wurde. Seit man die Türkei beim Flüchtlingsthema braucht, sei der Ton deutlich milder geworden, schimpfte Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu schon mehrfach. Auch im Hinblick auf das Flüchtlingsabkommen fand er klare Worte:
    "Schon jetzt leben mehr als 2,2 Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei. Nun sagen sie: Nehmt noch mehr auf und wir geben euch dafür Geld. Soll die Türkei vielleicht zu deren Konzentrationslager werden?"
    Doch nicht nur in der Opposition. Auch in der sonst so geschlossen auftretenden AKP gibt es Zweifel. Wie sich die EU nun plötzlich an die Türkei erinnert, die man vorher jahrelang mit mehr als zwei Millionen Flüchtlingen allein gelassen habe, stört nicht nur den AKP-Abgeordneten Ömer Celik.
    Türkei und EU sind aufeinander angewiesen
    "Dass man die Türkei als ein Instrument zur Friedenssicherheit in Europa und nicht als einen gleichwertigen Partner sieht, ist absolut inakzeptabel. Die Türkei kann niemals nur eine Pufferzone für andere sein. Und so ist es eine ganz und gar falsche Herangehensweise, die Wiederbelebung der Beziehungen mit der EU auf das Flüchtlingsthema zu reduzieren."
    Pufferzone, Gefängnis, Konzentrationslager der EU - wie schon so oft in den vergangenen Jahren kratzt das Verhalten Brüssels am Selbstwertgefühl der Türken – egal, welcher Partei sie angehören. Dass Premier Amet Davutoglu gestern in Brüssel voller Begeisterung eine enge Zusammenarbeit versprach, mag da überraschen. Tatsächlich aber, so der Istanbuler Politikwissenschaftler Fuat Keyman, bleibt ihr angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen, kaum noch eine andere Wahl.
    "Besonders der aktuelle Streit mit Russland und die russischen Attacken in Syrien lassen die Türkei wieder näher an Europa heranrücken. Sie braucht in dieser Situation eine starke Schulter, an die sie sich anlehnen kann, um nicht völlig isoliert dazustehen. Unter diesen Bedingungen, erscheint die Wiederbelebung der Türkei-EU-Beziehungen in einem anderen Licht."