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Nach Freiburger Missbrauchsfall
"Wir nehmen den Schutz der Kinder nicht ernst genug"

Die SPD-Politikerin Christine Bergmann fordert die Einführung eines Kindesmissbrauch-Bekämpfungsgesetzes. Damit solle nicht vorrangig das Strafrecht verschärft werden, sondern vor allem Strukturen geschaffen werden, die Kinder wirksamer schützen, sagte sie im Dlf.

Christine Bergmann im Gespräch mit Jörg Münchenberg |
    Christine Bergmann bei der Vorstellung der Studie. Sie spricht in ein Mikrofon.
    Christine Bergmann (SPD) war von 1998 bis 2002 Bundesfamilienministerin und ist Mitglied in der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. (dpa-Zentralbild)
    Jörg Münchenberg: Der Fall hat bundesweit für Entsetzen und Empörung gesorgt. Ein neunjähriger Junge in Freiburg ist jahrelang missbraucht worden. Verantwortlich dafür die Mutter sowie ihr Lebensgefährte, die das Kind über das Internet an Männer im In- und Ausland für Vergewaltigungen praktisch verkauft hatten. Aber auch die Justiz sowie die Behörden stehen seither in der Kritik, denn es ist trotz gerichtlicher Auflagen nicht gelungen, das Kind wirksam zu schützen. Zugehört hat die ehemalige Familienministerin Christine Bergmann (SPD). Frau Bergmann, ich grüße Sie!
    Christine Bergmann: Ja, schönen guten Tag.
    Freiburg: "Hier sind massive Fehler gemacht worden"
    Münchenberg: Frau Bergmann, im vorliegenden Freiburger Fall schieben sich jetzt Gericht und Behörden den schwarzen Peter zu. Wer trägt aus Ihrer Sicht die Verantwortung, dass das betroffene Kind letztlich nicht geschützt werden konnte?
    Bergmann: Hier sind natürlich ganz massive Fehler gemacht worden. Das ist ganz klar. Und das mit den schrecklichen Folgen für dieses betroffene Kind. Und ich denke - Sie haben ja jetzt eine ganze Menge schon angesprochen -, dass es natürlich eine schwierige Situation ist, wenn ein Kind schon aus der Familie rausgenommen wird, weil in diesem Umfeld jedenfalls ein bestrafter Sexualtäter vorhanden ist und das Familiengericht dann das Kind trotz aller Bedenken, die es selbst hat, das Familiengericht hat ja selbst gesagt, es müssen bestimmte Auflagen beachtet werden, die Mutter muss sich darum kümmern, dass dieses Kind nicht mit dem früheren Straftäter, so muss man es ja sagen, Kontakt hat. Dass trotzdem dieses Kind in der Familie gelassen wurde und man nicht weiter geguckt hat. Das ist eigentlich der Vorwurf, den man wirklich jetzt machen muss dem Familiengericht, ohne es dabei bewenden zu lassen zu sagen, warum ist hier nicht weiter geprüft worden, ein Gutachten, hat die Mutter wirklich die entsprechenden Erziehungsmöglichkeiten, Ressourcen und so weiter, warum ist das Kind nicht angehört worden, warum gab es keinen Verfahrensbeistand. Hier hätte ja noch sehr viel mehr gemacht werden müssen. Die Frage ist natürlich immer, ob die Gerichte dann alle Möglichkeiten haben, und am Ende hat dann das Oberlandesgericht auch noch die Auflage, dass die Mutter sich erzieherische Hilfen holen muss, gestrichen. Hier ist einfach der Mutter geglaubt worden, ohne offensichtlich noch mal zu prüfen, kann man das eigentlich, kann man das Kind da hinsetzen. Das ist eigentlich ein Fehler, der gemacht wurde.
    "Es fehlt uns an einer vernünftigen Struktur"
    Münchenberg: Frau Bergmann, von der Arbeitsgemeinschaft deutscher Bewährungshelfer hieß es heute, ein Kontaktverbot, ausgesprochen zum Beispiel durch Gerichte, sei letztlich eine Beruhigungstablette für die Öffentlichkeit, sprich eigentlich gar nicht durchführbar. Sehen Sie das auch so?
    Bergmann: Das ist für mich schwer zu beurteilen. Aber wenn man schon liest, um wie viele Fälle sich so ein Bewährungshelfer kümmern muss, und wenn man weiß, was in diesen Fällen von sexueller Gewalt an Kindern eigentlich passiert, dann müsste man eine Rundum-Überwachung in der Situation haben, um das Kind nicht wirklich zu gefährden bei dieser Konstellation, ein Sexualstraftäter, ein Kind, eine alleinerziehende Mutter. Das ist wahrscheinlich schwer zu leisten und deswegen ist meine dringende Bitte eigentlich, sich jetzt nicht nur an dem Fall festzuhalten. Hier sind Fehler gemacht worden, das ist klar, aber jetzt auch mal zu sagen, im Grunde genommen, hier ist das Kindeswohl auf der Strecke geblieben, muss man schon so sagen. Aber im Grunde genommen fehlt es uns wirklich, wie der unabhängige Beauftragte gesagt hat, an einer wirklichen vernünftigen Struktur, die sehr viel mehr im Blick hat, Kinder zu schützen, Kinder auch vor sexueller Gewalt zu schützen, das dann auch rechtlich zu fixieren.
    "Wir nehmen den Schutz der Kinder nicht ernst genug"
    Münchenberg: Aber hieße das auch, um noch mal bei den Bewährungshelfern zu bleiben, dass die Zahl letztlich nicht ausreicht? Sie haben ja auch gesagt, man bräuchte eigentlich eine eins zu eins Betreuung, und das sei gar nicht zu leisten.
    Bergmann: Ja, das ist eigentlich nicht zu leisten. Das sagt jeder Mensch, der in diesem Bereich tätig ist, und ich habe ja sehr viel Erfahrung auch mit vertraulichen Anhörungen von Betroffenen, was alles in Familien passiert, und das muss man sich eigentlich immer vor Augen halten. Das müssen auch Richter wissen, das müssen alle wissen, die in diesem Bereich arbeiten. Deswegen ist auch dringend notwendig, dass in all diesen Bereichen auch eine verbindliche Fortbildung erfolgen muss, damit man weiß, man kann nicht einfach einer Mutter glauben und man kann sich nicht einfach darauf verlassen, dass einmal im Monat so ein Sexualstraftäter beim Bewährungshelfer auftaucht. Hier braucht man noch mal ganz andere Überwachungs- und Hilfestrukturen. Und da ist das, was der unabhängige Beauftragte vorschlägt, so ein Kindesmissbrauchs-Bekämpfungsgesetz, wo auch die innerdisziplinäre Zusammenarbeit drinsteht, wo Strukturen festgeschrieben sind, notwendig, damit wir uns alle damit zufrieden geben, dass wir sagen, das war hier mal so ein Fall, der war ganz schrecklich, und das kann man vielleicht noch anders machen. Nein, wir haben hier ein großes Problem, dass wir den Kinderschutz, den Schutz der Kinder vor sexueller Gewalt nicht ernst genug nehmen, dass wir das nicht in der Gesellschaft so verantworten, wie es sein müsste.
    Münchenberg: Aber die Frage stellt sich ja schon. Freiburg ist eben kein Einzelfall. Warum gibt es so etwas schon längst nicht?
    Bergmann: Ja! Ich war ja nun auch lange genug unabhängige Beauftragte. Wir wissen, wie schwierig es ist, dieses Thema.
    Münchenberg: Sie waren auch Familienministerin einmal.
    Bergmann: Familienministerin auch und dann war ich auch mal unabhängige Beauftragte 2010. Wir wissen, wie schwer es ist, dieses Thema so in der Gesellschaft zu verankern, wie viele Widerstände es an allen Ecken und Enden gibt. Es ist auch schwierig, die schlimmsten Fälle passieren in der Familie. Das sehen wir gerade hier wieder. Die Frage, welche Hilfen notwendig sind, damit alle wirklich an einem Strang ziehen, damit auch alle wissen, dass diese Dinge passieren, und man nicht einer Mutter einfach glaubt, und auch in dem Umfeld, wo vielleicht mal was aufgefallen wäre bei dem Kind, auch nicht gewusst hat, wie handelt man dann? Das ist wirklich die Frage, wie sensibel sind wir alle für dieses Geschehen und wie schnell vergisst man es nicht wieder nach diesem Fall, sondern werden Konsequenzen gezogen.
    "Es geht nicht darum, das Strafrecht zu verstärken"
    Münchenberg: Aber wäre eine Gesetzesverschärfung tatsächlich ein wirksames Mittel, um sexuellen Missbrauch auch von Kindern zu unterbinden? Oder liegt das nicht tatsächlich auch an Strukturen, dass zum Beispiel bei den Bewährungshelfern zu wenig Personal vorhanden ist?
    Bergmann: Ja! Natürlich liegt das an den Strukturen. Wenn es um ein Kindesmissbrauchs-Bekämpfungsgesetz geht, dann geht es nicht darum, das Strafrecht zu verstärken, sondern es geht darum, Strukturen zu schaffen, die Kinder wirksamer schützen, zu sagen, was für Ressourcen brauchen wir eigentlich bei den Jugendämtern, bei den Familiengerichten, welche Fortbildung brauchen wir, welche Überwachungsmöglichkeiten haben wir, die wir ausbauen können, was muss eigentlich gelernt werden und was ist eigentlich alles notwendig, um möglichst das Kindeswohl in diesem Fall zu stärken. Da hoffe ich, das ist ein so skandalöser und ein so bitterer Fall, wenn man sich diesen Jungen vorstellt, da hoffe ich, dass wir das nicht schnell wieder vergessen, sondern - es ist ja eine gute Zeit jetzt; es wird sehr viel besprochen und verhandelt -, dass man jetzt hier die richtigen Konsequenzen zieht. Da reicht es eben nicht, wenn man nur das eine oder andere tut, sondern hier muss grundsätzlich rangegangen werden.
    Münchenberg: Frau Bergmann, noch eine Frage mit der Bitte um eine kurze Antwort. Es wird ja immer über die elektronische Fußfessel diskutiert in diesem Zusammenhang. Hilft das was aus Ihrer Sicht?
    Bergmann: Das kann ich schwer beurteilen. Das weiß ich nicht, ob in diesem Fall das möglich gewesen wäre. Mit Sicherheit nicht in vollem Umfang, weil diese Eltern zum Beispiel ja auch dieses Kind verkauft haben quasi an Fremdtäter für sexuelle Gewalt, für Vergewaltigung. Das hätten Sie damit schon überhaupt nicht verhindern können. – Kann man alles wahrscheinlich in dem einen oder anderen Fall mit überlegen, aber das ist nicht das Grundthema. Man darf sich nicht damit beruhigen, dass man sagt, dann kommt die elektronische Fußfessel und dann passiert nichts mehr. Nein, hier muss grundsätzlich rangegangen werden.
    Münchenberg: … sagt Christine Bergmann, ehemalige Familienministerin und Mitglied der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Frau Bergmann, vielen Dank für das Gespräch.
    Bergmann: Ja, ich danke auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.