Der Leiter des Instituts für Ethik in der Medizin an der Universität Tübingen sieht keinen rechtlichen Nachbesserungsbedarf bei der ärztlichen Schweigepflicht. Eher könnte er sich vorstellen, dass die regelmäßigen Gesundheitschecks von Piloten geändert würden. Wenn ein Pilot beispielsweise an Epilepsie oder Schwindel leide, dann müsse das weitergesagt werden. Das sei aber kein Bruch der Schweigepflicht, weil man als Pilot vorher zustimmen müsste, dass es Untersuchungen gibt.
Der Pilot, der die Germanwingsmaschine zum Absturz gebracht hat, litt an Depressionen. Wiesing sagte, Depressionen seien eine Volkskrankheit, "die einmal zu bekommen, ist höchstwahrscheinlich". Er warnte davor, diese große Gruppe von Menschen unter Generalverdacht zu stellen und den Arzt zum Spitzel zu machen. "Wir rütteln am Vertrauensverhältnis zwichen Arzt und Patient", gab er zu bedenken. Es sei noch schlimmer, wenn sich Menschen mit Depressionen aus Angst vor einer Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht nicht mehr behandeln lassen würden. Außerdem sei eine Einschätzung auch für Ärzte schwierig. "Kein Mensch geht dahin und sagt, ich werde jetzt in den nächsten Tagen eine Maschine zum Absturz bringen", ergänzte Wiesing.
Das Interview in voller Länge:
Bettina Klein: Übermorgen spätestens, am Donnerstag gedenken vor allem wohl Deutschland und Frankreich des willentlich herbeigeführten German Wings Unglücks vor einem Jahr. Eine der vielen Fragen, die sich seither aufdrängen, lautet: Muss die ärztliche Schweigepflicht möglicherweise in bestimmten Situationen eingeschränkt oder gar aufgehoben werden, wenn zu befürchten ist, dass jemand aufgrund seiner psychischen Verfassung möglicherweise Unheil anrichten kann und die Allgemeinheit davor bewahrt werden könnte.
Heute beginnt außerdem ein Prozess zu einem ganz anderen Fall, der aber dieser Debatte ebenfalls Nahrung geben könnte. Der Vater jenes Todesschützen, der vor fast genau sieben Jahren in Winnenden in Baden-Württemberg 15 Jugendliche und anschließend sich selbst tötete, er, der Vater, verklagt die Psychiatrie, in der sein Sohn in Behandlung war. Man hätte ihm sagen müssen, wie schlimm es um seinen Sohn steht, so eine der Begründungen.
Über all diese Fragen können wir jetzt sprechen mit Urban Wiesing. Er ist Leiter des Instituts für Ethik in der Medizin an der Uni Tübingen. Guten Morgen, Herr Wiesing.
Urban Wiesing: Guten Morgen, Frau Klein.
Klein: Gibt es angesichts dieser Vorfälle für Sie zwingende Argumente, die es plausibel machen, diese ärztliche Schweigepflicht in bestimmten Situationen einzuschränken?
Wiesing: Nein! Ich glaube, man muss dort sehr genau hinschauen, was es bereits gibt und was es für andere Möglichkeiten gibt, diese Verbrechen oder diese Tragödien zu vermeiden. Zunächst einmal: Was gibt es bereits? In der Berufsordnung für Ärztinnen und Ärzte steht drin, dass der Arzt befugt ist, die Schweigepflicht zu brechen, wenn ein höherwertiges Rechtsgut betroffen ist.
Klein: Das ist im Fall German Wings aber nicht passiert.
Wiesing: Nein, weil der Pilot den Ärzten auch nicht gesagt hat, ich möchte jetzt eine Maschine mit 150 Menschen zum Absturz bringen. Das hat er ja mit Sicherheit nicht gesagt. Das heißt aber, dass bereits jetzt die Ärzte die Möglichkeit haben, wenn es große Tragödien gibt, die man verhindern kann, die Schweigepflicht zu brechen. Sie sind befugt. Sie sind nicht verpflichtet, aber sie können das. Und ich glaube, dass man an dieser Formulierung nichts ändern sollte.
Klein: Aber was könnte denn Ärzte dazu bringen, diese Fälle doch genauer einzuschätzen und möglicherweise dann doch zu der Analyse zu kommen - es sind ja nun keine Hellseher -, wir können und müssen jetzt auch die Schweigepflicht brechen, was wie gesagt im vorliegenden Fall ja nicht passiert ist?
Wiesing: Ich glaube, dass das einfach sehr schwer einzuschätzen ist, weil kein Mensch da hingeht und sagt, ich werde jetzt in den nächsten Tagen eine Maschine zum Absturz bringen, sondern das sind immer sehr, sehr schwierige Abschätzungen, was in Zukunft geschieht. Was man aber meiner Meinung nach machen kann, ist bei Piloten, die ohnehin regelmäßig untersucht werden und die ja bereits mit Antritt des Pilotenberufes sagen, für diese Untersuchung gilt nicht die Schweigepflicht. Die werden ja regelmäßig jedes Jahr untersucht und angenommen, da kommt heraus, diese Piloten leiden an Epilepsie oder sie leiden an Schwindel, dann muss das ja automatisch der Airline gesagt werden und sie werden dann ja automatisch nicht weiter als Piloten arbeiten können. Das ist aber kein Bruch der Schweigepflicht, weil man als Pilot ja schon von vornherein gesagt hat, wenn ich diesbezüglich untersucht werde, muss ich die Schweigepflicht abgeben, weil das natürlich wichtig für den Beruf ist. Und wenn man in diesen Untersuchungen weitere Untersuchungen einbezieht, beispielsweise im Hinblick auf Depressionen oder psychiatrische Erkrankungen, das kann man machen. Dann hat man aber nicht die Schweigepflicht gebrochen, weil man vorab als Pilot zustimmen muss, diese Sachen gehören nun mal zu den Gesundheitsuntersuchungen, die Piloten sowieso schon haben.
"Keinen rechtlichen Nachbesserungsbedarf für die ärztliche Schweigepflicht"
Klein: Sehen Sie da keinerlei rechtlichen Nachbesserungsbedarf, um möglicherweise die Lücken, die es doch noch gibt, zu schließen? Es werden ja jetzt wohl mehr Untersuchungen durchgeführt auch für Piloten. Ist da genug geschehen im Augenblick Ihrer Meinung nach?
Wiesing: Ich sehe keinen rechtlichen Nachbesserungsbedarf für die ärztliche Schweigepflicht. Wie Gesagt, die Berufsordnung ist meiner Meinung nach dort klug genug aufgestellt. Ich kann es mir sehr gut vorstellen, dass es sinnvoll ist, dass man die regelmäßigen Gesundheitschecks von Piloten verändert und dass man dort guckt, können wir dort noch genauer schauen, ob eine bestimmte Erkrankung vorliegt.
Klein: Wo zieht man dann die Grenze? Auf welche anderen Berufsgruppen müsste das möglicherweise ausgeweitet werden? Wer alles muss sich psychologisch untersuchen lassen, kann man ja auch fragen? Jeder, der das Leben anderer gefährden kann? Und wären dann vielleicht sogar beispielsweise normale Ärzte darunter?
Wiesing: Ich wäre dort sehr, sehr vorsichtig. Wenn Sie bedenken, wie viele Menschen es gibt, die an einer Depression leiden. Das ist eine Volkskrankheit und eine solche Erkrankung, die einmal im Laufe seines Lebens zu bekommen, ist höchst wahrscheinlich. Und wenn man diese Gruppe, wenn man diese große Zahl von Menschen schon unter Generalverdacht stellt und sie auch noch gleich in ihrem Beruf behindern will, da hätte ich ganz, ganz große Bedenken. Ich hätte auch ganz, ganz große Bedenken, wenn wir den Arzt zum Spitzel machen wollen oder den Arzt zu jemandem, der nachguckt, der ein Spion ist oder so etwas. Ich glaube, wir rütteln da an einem ganz, ganz hohen Gut, nämlich dem Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient.
"Die Ärztliche Schweigepflicht ist ein so hohes Gut"
Klein: Manche sagen ja, nur so aber hätte man ein solches Unglück verhindern können, könnte man auch in Zukunft solche Katastrophen verhindern. Weshalb wiegt das für Sie nicht schwerer? Was ist das zentrale Argument für Sie, an der ärztlichen Schweigepflicht, so wie sie jetzt ist, auch in diesen kritischen Fällen festzuhalten?
Wiesing: Erstens bin ich mir nicht ganz sicher, ob wir mit einer noch weiter gelockerten ärztlichen Schweigepflicht den Absturz der German Wings Maschine hätten verhindern können. Da bin ich mir nicht sicher. Auf der anderen Seite: Die Ärztliche Schweigepflicht ist ein so hohes Gut, weil sonst die Menschen nicht mehr zum Arzt gehen und sich behandeln lassen, und das wäre ja noch fataler, weil dann beispielsweise Menschen, die an einer Depression leiden, nicht behandelt werden, und was diese Menschen dann anrichten, kann ja noch viel mehr sein. Das heißt, wir müssen schon klug abwägen bei dieser schwierigen Frage.
Klein: Und Sie würden auch sagen, das gilt jetzt auch für den Fall - ich habe es angesprochen - des Vaters, der ab heute klagt, der gerne gewusst hätte, wie schlimm es um seinen Sohn steht. Das heißt: Schweigepflicht auch nicht aufheben, was die nächsten Angehörigen angeht?
Wiesing: In der Regel in der Psychiatrie, wenn man einvernehmlich mit seinem Sohn dort hingeht und der Sohn sagt, es ist gut, dass wir auch meine Familie mit einbeziehen, kann man in der Regel sehr, sehr gut sich austauschen. Auch in dem Fall von Winnenden gehe ich davon aus, dass der Sohn nicht zu den Ärzten gesagt hat, ich werde hingehen und ein Massaker in der Schule anrichten, und dass dort, davon gehe ich aus, auch eine Lockerung der Schweigepflicht das nicht verhindert hätte. Und ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, dass wir alle Schüler jetzt sozusagen unter Psychiatrie-Generalverdacht stellen und dann auch noch ein Testwesen einführen. Ich glaube, wir müssen hier das Maß wahren.
Klein: Herr Wiesing, abschließend: Haben Sie Gelegenheit, Ihre Vorstellung da einzubringen? Werden Sie da im Augenblick gehört von der Politik?
Wiesing: Von der Politik konkret nicht, aber wir haben hier beispielsweise an der Universität unmittelbar nach dem Unfall eine Podiumsdiskussion gemacht und über diese Problematik gesprochen.
Klein: Urban Wiesing war das, der Leiter des Instituts für Ethik in der Medizin an der Universität Tübingen, zur Frage Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht für Psychiatrie-Patienten. Herr Wiesing, herzlichen Dank für Ihre Meinung heute Morgen und für Ihre Zeit heute für das Interview im Deutschlandfunk.
Wiesing: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.