Bei der Entwicklung der Hartz IV-Regelung durch die damalige rot-grüne Bundesregierung habe man Fehler gemacht, sagtder sozialpolitische Sprecher von Bündnis 90/ Die Grünen. Gerade deshalb sei man bei der Neuregelung zu besonderer Sorgfalt verpflichtet und könne kein weiteres Urteil aus Karlsruhe riskieren.
Christoph Heinemann: Der Bundestag hat die Hartz IV-Reform der Regierung heute gebilligt. Das bedeutet aber noch nicht viel, denn alle Augen blicken auf die Länderkammer und im Bundesrat hätte die Bundesregierung nur dann eine Mehrheit erzielen können, wenn sie so getrickst hätte wie im Jahr 2002 der damalige Präsident der Länderkammer, der SPD-Politiker Klaus Wowereit. Brandenburgs Große Koalition stimmte damals mit SPD Ja und CDU Nein, und dieses Jein wertete Wowereit verfassungswidrig als märkisches Ja.
Das schlechte Beispiel des Regierenden Bürgermeisters machte zum Glück keine Schule; stattdessen soll der Vermittlungsausschuss nachsitzen. Ein gemeinsamer Antrag zur erneuten Anrufung des Vermittlungsausschusses soll auf den Weg gebracht werden.
Am Telefon ist Markus Kurth, der sozialpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Guten Tag!
Markus Kurth: Guten Tag, Herr Heinemann!
Heinemann: Herr Kurth, können Sie uns bitte in ganz einfachen Worten noch einmal erklären, und wenn es auch schwerfällt, vielleicht erst einmal ohne Schuldzuweisungen, worüber die Regierung und die Opposition im Kern eigentlich streiten?
Kurth: Ja! Manchmal tut es ja ganz gut, wieder daran zu erinnern, was eigentlich der Ausgangspunkt für dieses gesamte Vermittlungsverfahren mit seinen ja jetzt schon relativ zahlreichen Themen war, nämlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor gut einem Jahr, das gesagt hat, dass der Regelsatz transparent und nachvollziehbar berechnet werden muss, und an der Stelle gehen ganz offenkundig die Meinungen von Opposition und Regierung am weitesten auseinander. Die Regierung steht auf dem Standpunkt, dass ihre Berechnungen so weit korrekt sind, die Opposition fühlt sich auch durch die Anhörung im Bundestag, durch Experten bestärkt anzunehmen, dass es noch ganz erhebliche verfassungsrechtliche Risiken gibt bei der Berechnung. Wollte man diese ausräumen, was ich für notwendig halte, dann wird der Regelsatz in einem gewissen Umfang steigen müssen. Je mehr Rechenschrauben man dort dreht, desto höher wird er. Man kann es auch im kleinen Bereich machen, dann bleiben aber natürlich auch noch verfassungsrechtliche Risiken zurück. Also das ist einer der Kernpunkte, eigentlich eine Sollbruchstelle für beide Seiten, die das ganze Thema so außerordentlich schwierig macht.
Heinemann: Herr Kurth, Sie sagten, Ausgangspunkt sei das Urteil gewesen. Aber Hartz IV – und das war der eigentliche Ausgangspunkt – wurde von SPD und Grünen erfunden, und zwar gleich falsch erfunden. Das heißt, die Rüge aus Karlsruhe galt ja der SPD und galt Ihnen, den Grünen. Mit welchem Recht spielen Sie sich jetzt als Rächer der Enterbten auf, nachdem Sie die Enterbten vorher in die Mittellosigkeit geschickt haben?
Kurth: Nein, wir haben die Enterbten nicht in die Mittellosigkeit geschickt, sondern das Urteil handelt ja nicht von der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe insgesamt, sondern das Urteil bezieht sich auf die sogenannte Regelsatzverordnung, auf die Höhe der Leistung und die Berechnung ihres Zustandekommens …
Heinemann: Berechnung durch Rot-Grün!
Kurth: Das ist sicherlich durch das damalige Bundessozialministerium vorgelegt worden, dann allerdings mit den Stimmen aller Bundesländer beschlossen, auch der CDU-regierten, und es ist natürlich völlig unstreitig – ich habe da auch schon früh drauf hingewiesen -, dass dort Fehler in dieser Berechnung sind. Aber gerade weil das so ist, gerade weil wir in dieser Verantwortung stehen als SPD und Grüne, sind wir doch jetzt zu besonderer Sorgfalt verpflichtet und können uns doch nicht darauf einlassen, da ins offene Messer zu laufen und ein erneutes Verfassungsgerichtsurteil zu riskieren, und ich finde auch, man sollte diesen entscheidenden Punkt dann jetzt nicht mit einem Gemeindefinanzierungspaket verdecken. Das wird als Argument vor dem Verfassungsgericht am Ende des Tages nichts helfen.
Heinemann: Besorgtheit, heißt das bei Ihnen im Moment Kompromisslosigkeit?
Kurth: Nein. Wir waren an dem Punkt sehr kompromissbereit. Ich habe ja gesagt, es gibt mehrere Punkte, die dort aus Sicht des Verfassungsgerichts wahrscheinlich kritikwürdig sind, die Herausrechnung der verdeckt Armen aus der Vergleichsgröße für den Regelsatz, die Herausnahme verschiedener Verbrauchspositionen. Da sind wir schon auf sehr wenige Punkte eigentlich zurückgegangen und sind aus unserer Sicht der Regierung an der Stelle relativ weit entgegengekommen, und die Regierungsfraktionen haben das ja heute noch einmal im Deutschen Bundestag betont: sie wollen nicht einen Cent bei dem Regelsatz drauflegen, und da kann jeder selbst entscheiden und bewerten, wer jetzt Maximalpositionen weiter vertritt.
Heinemann: Die Regierung sagt obendrein, die Opposition belädt das Boot so weit, bis es kentert, Mindestlohn und was da noch alles mit reingeheimnist wird jetzt in diese neue Reform. Ist das Taktik?
Kurth: Also man muss mal sagen, die größte Fracht und Beladung hat die Regierung kurz vor Toresschluss ja selber eingebracht mit diesem Gemeindefinanzierungspaket, was ja inhaltlich in überhaupt gar keinem Zusammenhang mit diesem Verfassungsgerichtsurteil und dem Gesetzentwurf steht. Ich denke auch, dass es durchaus, wie Herr Seehofer das ja sogar sagte, einen gewissen Zusammenhang zwischen Mindestlöhnen und der Höhe des Regelsatzes gibt. Natürlich kann man jetzt in der folgenden Strecke überlegen, wie weit man das jetzt wieder kombinieren will, das werden wir in Ruhe beraten, aber ich bin sehr dafür, dass man immer im Hinterkopf hat, was eigentlich Anlass des Verfahrens war.
Heinemann: Wieso hat Rot-Grün diese Reform eigentlich vermurkst? Konnte man damals noch nicht rechnen?
Kurth: Natürlich konnte man damals schon rechnen. Die Festsetzung des Regelsatzes damals ist – das muss man wirklich ganz klar sagen – nach Kassenlage gemacht worden, und das war ein Fehler, das haben wir auch mehrmals sehr, sehr deutlich gesagt, das haben wir auch schon seit einigen Jahren ganz klar reflektiert und als Grüne auch eine andere Regelsatzhöhe jetzt immer kommuniziert. Das ist auch ein Grund dafür, warum wir jetzt nicht einfach sagen können, das interessiert uns alles nicht mehr und Hauptsache es kommt irgendein Kompromiss zustande, sonst wird die Politik als handlungsunfähig beschimpft, und dann stimmen wir zu. Das kann die Sache nicht sein. Ich finde, auch in der öffentlichen Diskussion sollte man ernsthaft politischen Streit dann akzeptieren. Das ist nun mal so in einer Demokratie, dass in einer entscheidenden Frage dann auch solche Situationen von extremer Zuspitzung auftreten, und ich finde, das gehört mit zum demokratischen Prozess, und ich finde es eigentlich unredlich, weil wir uns wirklich ernsthaft in der Sache auch immer streiten, dann zu sagen, die Politik sei verantwortungslos oder würde einfach auf dem Rücken der Armen dann Machtspielchen betreiben. Das ist sicher nicht der Fall.
Heinemann: Herr Kurth, ganz kurz zum Schluss. Wir sind in Kalenderwoche 6 2011. Wie lange kann man mit der verfassungswidrigen Regelung noch leben?
Kurth: Eigentlich kann man damit schon seit einigen Wochen gar nicht mehr leben. Seit 1. 1. ist dieses Gesetz definitiv verfassungswidrig und man hätte natürlich viel früher handeln müssen, und ich hoffe, dass es jetzt so schnell wie möglich geht.
Heinemann: Markus Kurth, der sozialpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Kurth: Danke schön!
Christoph Heinemann: Der Bundestag hat die Hartz IV-Reform der Regierung heute gebilligt. Das bedeutet aber noch nicht viel, denn alle Augen blicken auf die Länderkammer und im Bundesrat hätte die Bundesregierung nur dann eine Mehrheit erzielen können, wenn sie so getrickst hätte wie im Jahr 2002 der damalige Präsident der Länderkammer, der SPD-Politiker Klaus Wowereit. Brandenburgs Große Koalition stimmte damals mit SPD Ja und CDU Nein, und dieses Jein wertete Wowereit verfassungswidrig als märkisches Ja.
Das schlechte Beispiel des Regierenden Bürgermeisters machte zum Glück keine Schule; stattdessen soll der Vermittlungsausschuss nachsitzen. Ein gemeinsamer Antrag zur erneuten Anrufung des Vermittlungsausschusses soll auf den Weg gebracht werden.
Am Telefon ist Markus Kurth, der sozialpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Guten Tag!
Markus Kurth: Guten Tag, Herr Heinemann!
Heinemann: Herr Kurth, können Sie uns bitte in ganz einfachen Worten noch einmal erklären, und wenn es auch schwerfällt, vielleicht erst einmal ohne Schuldzuweisungen, worüber die Regierung und die Opposition im Kern eigentlich streiten?
Kurth: Ja! Manchmal tut es ja ganz gut, wieder daran zu erinnern, was eigentlich der Ausgangspunkt für dieses gesamte Vermittlungsverfahren mit seinen ja jetzt schon relativ zahlreichen Themen war, nämlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vor gut einem Jahr, das gesagt hat, dass der Regelsatz transparent und nachvollziehbar berechnet werden muss, und an der Stelle gehen ganz offenkundig die Meinungen von Opposition und Regierung am weitesten auseinander. Die Regierung steht auf dem Standpunkt, dass ihre Berechnungen so weit korrekt sind, die Opposition fühlt sich auch durch die Anhörung im Bundestag, durch Experten bestärkt anzunehmen, dass es noch ganz erhebliche verfassungsrechtliche Risiken gibt bei der Berechnung. Wollte man diese ausräumen, was ich für notwendig halte, dann wird der Regelsatz in einem gewissen Umfang steigen müssen. Je mehr Rechenschrauben man dort dreht, desto höher wird er. Man kann es auch im kleinen Bereich machen, dann bleiben aber natürlich auch noch verfassungsrechtliche Risiken zurück. Also das ist einer der Kernpunkte, eigentlich eine Sollbruchstelle für beide Seiten, die das ganze Thema so außerordentlich schwierig macht.
Heinemann: Herr Kurth, Sie sagten, Ausgangspunkt sei das Urteil gewesen. Aber Hartz IV – und das war der eigentliche Ausgangspunkt – wurde von SPD und Grünen erfunden, und zwar gleich falsch erfunden. Das heißt, die Rüge aus Karlsruhe galt ja der SPD und galt Ihnen, den Grünen. Mit welchem Recht spielen Sie sich jetzt als Rächer der Enterbten auf, nachdem Sie die Enterbten vorher in die Mittellosigkeit geschickt haben?
Kurth: Nein, wir haben die Enterbten nicht in die Mittellosigkeit geschickt, sondern das Urteil handelt ja nicht von der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe insgesamt, sondern das Urteil bezieht sich auf die sogenannte Regelsatzverordnung, auf die Höhe der Leistung und die Berechnung ihres Zustandekommens …
Heinemann: Berechnung durch Rot-Grün!
Kurth: Das ist sicherlich durch das damalige Bundessozialministerium vorgelegt worden, dann allerdings mit den Stimmen aller Bundesländer beschlossen, auch der CDU-regierten, und es ist natürlich völlig unstreitig – ich habe da auch schon früh drauf hingewiesen -, dass dort Fehler in dieser Berechnung sind. Aber gerade weil das so ist, gerade weil wir in dieser Verantwortung stehen als SPD und Grüne, sind wir doch jetzt zu besonderer Sorgfalt verpflichtet und können uns doch nicht darauf einlassen, da ins offene Messer zu laufen und ein erneutes Verfassungsgerichtsurteil zu riskieren, und ich finde auch, man sollte diesen entscheidenden Punkt dann jetzt nicht mit einem Gemeindefinanzierungspaket verdecken. Das wird als Argument vor dem Verfassungsgericht am Ende des Tages nichts helfen.
Heinemann: Besorgtheit, heißt das bei Ihnen im Moment Kompromisslosigkeit?
Kurth: Nein. Wir waren an dem Punkt sehr kompromissbereit. Ich habe ja gesagt, es gibt mehrere Punkte, die dort aus Sicht des Verfassungsgerichts wahrscheinlich kritikwürdig sind, die Herausrechnung der verdeckt Armen aus der Vergleichsgröße für den Regelsatz, die Herausnahme verschiedener Verbrauchspositionen. Da sind wir schon auf sehr wenige Punkte eigentlich zurückgegangen und sind aus unserer Sicht der Regierung an der Stelle relativ weit entgegengekommen, und die Regierungsfraktionen haben das ja heute noch einmal im Deutschen Bundestag betont: sie wollen nicht einen Cent bei dem Regelsatz drauflegen, und da kann jeder selbst entscheiden und bewerten, wer jetzt Maximalpositionen weiter vertritt.
Heinemann: Die Regierung sagt obendrein, die Opposition belädt das Boot so weit, bis es kentert, Mindestlohn und was da noch alles mit reingeheimnist wird jetzt in diese neue Reform. Ist das Taktik?
Kurth: Also man muss mal sagen, die größte Fracht und Beladung hat die Regierung kurz vor Toresschluss ja selber eingebracht mit diesem Gemeindefinanzierungspaket, was ja inhaltlich in überhaupt gar keinem Zusammenhang mit diesem Verfassungsgerichtsurteil und dem Gesetzentwurf steht. Ich denke auch, dass es durchaus, wie Herr Seehofer das ja sogar sagte, einen gewissen Zusammenhang zwischen Mindestlöhnen und der Höhe des Regelsatzes gibt. Natürlich kann man jetzt in der folgenden Strecke überlegen, wie weit man das jetzt wieder kombinieren will, das werden wir in Ruhe beraten, aber ich bin sehr dafür, dass man immer im Hinterkopf hat, was eigentlich Anlass des Verfahrens war.
Heinemann: Wieso hat Rot-Grün diese Reform eigentlich vermurkst? Konnte man damals noch nicht rechnen?
Kurth: Natürlich konnte man damals schon rechnen. Die Festsetzung des Regelsatzes damals ist – das muss man wirklich ganz klar sagen – nach Kassenlage gemacht worden, und das war ein Fehler, das haben wir auch mehrmals sehr, sehr deutlich gesagt, das haben wir auch schon seit einigen Jahren ganz klar reflektiert und als Grüne auch eine andere Regelsatzhöhe jetzt immer kommuniziert. Das ist auch ein Grund dafür, warum wir jetzt nicht einfach sagen können, das interessiert uns alles nicht mehr und Hauptsache es kommt irgendein Kompromiss zustande, sonst wird die Politik als handlungsunfähig beschimpft, und dann stimmen wir zu. Das kann die Sache nicht sein. Ich finde, auch in der öffentlichen Diskussion sollte man ernsthaft politischen Streit dann akzeptieren. Das ist nun mal so in einer Demokratie, dass in einer entscheidenden Frage dann auch solche Situationen von extremer Zuspitzung auftreten, und ich finde, das gehört mit zum demokratischen Prozess, und ich finde es eigentlich unredlich, weil wir uns wirklich ernsthaft in der Sache auch immer streiten, dann zu sagen, die Politik sei verantwortungslos oder würde einfach auf dem Rücken der Armen dann Machtspielchen betreiben. Das ist sicher nicht der Fall.
Heinemann: Herr Kurth, ganz kurz zum Schluss. Wir sind in Kalenderwoche 6 2011. Wie lange kann man mit der verfassungswidrigen Regelung noch leben?
Kurth: Eigentlich kann man damit schon seit einigen Wochen gar nicht mehr leben. Seit 1. 1. ist dieses Gesetz definitiv verfassungswidrig und man hätte natürlich viel früher handeln müssen, und ich hoffe, dass es jetzt so schnell wie möglich geht.
Heinemann: Markus Kurth, der sozialpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Kurth: Danke schön!