Bundesinnenminister Seehofer hat die Krawalle in Stuttgart als ein Alarmsignal für den Rechtsstaat bezeichnet. Auch andere Mitglieder der Bundesregierung verurteilten die Angriffe auf Polizistinnen und Polizisten und forderten Konsequenzen.
In der Nacht zum Sonntag hatten in der baden-württembergischen Landeshauptstadt Hunderte randaliert. 19 Polizisten wurden verletzt, mehr als 20 Personen festgenommen. Daneben sollen Streifenwagen demoliert sowie 40 Läden beschädigt und zum Teil geplündert worden sein. Der stellvertretende Stuttgarter Polizeipräsident Berger bezifferte den Schaden auf einen sechs- bis siebenstelligen Betrag. Anlass der Krawalle sei die Drogenkontrolle eines 17-Jährigen gewesen, mit dem sich andere solidarisiert hatten. Berger führte die Gewalt auch auf die Corona-Beschränkungen zurück.
Laut Hans-Jürgen Kirstein, Baden-Württembergischer Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, hat jedoch auch die Berichterstattung über die "Black Lives Matter"-Proteste in den USA eine Rolle gespielt sowie Berichte, "wo man uns unterstellt, dass es einen latenten Rassismus gibt". In den Sozialen Medien habe sich die Community zudem gut vernetzt. Die Situation in den USA sei mit der in Deutschland nicht zu vergleichen, sagte Kirstein im Dlf.
Die Polizei wolle die Krawalle zunächst in einer internen Diskussion aufarbeiten - zukünftig solle jedoch nicht weniger eingeschritten werden.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Die Krawalle in der Stuttgarter Innenstadt am vergangenen Samstag – was da passiert ist, das beschäftigt die deutsche Politik auch heute noch, drei Tage später. Herr Kirstein, wie groß ist die Verunsicherung bei den Polizeibeamten in Baden-Württemberg?
Hans-Jürgen Kirstein: Die jetzige Situation zeigt natürlich, dass es eine spannende Wendung jetzt nimmt. Man muss sich entscheiden, in welchen Richtungen wir weitergehen, wie konsequent was wo umgesetzt wird. Es wird politische Entscheidungen geben müssen. Es muss aber auch nach meiner Ansicht juristische klare Aussagen geben. Das bedeutet für mich, dass auch die Rechtsprechung hier deutliche Zeichen setzen muss.
"Das sind Szenen, die möchte kein Mensch haben"
Armbrüster: Was erhoffen Sie sich da?
Kirstein: Ich erhoffe mir, dass auch hier jetzt, wenn es zu Verurteilungen kommt, nicht immer das Mindestmaß und das mildeste Maß angesetzt wird, sondern ich glaube, hier ist es an der Zeit, mal zu sagen, dass es auch nach oben Möglichkeiten gibt, und die sollte man in diesem Fall voll ausschöpfen.
Armbrüster: Ich würde gerne noch wissen, was Sie mitbekommen von der Stimmung bei Ihren Kollegen. Noch mal die Frage: Gibt es da so etwas wie Verunsicherung bei der Polizei?
Kirstein: Das ist natürlich aufgrund der wenigen Tage noch nicht so eindeutig spürbar. Aber ich glaube schon, dass es jetzt in der internen Diskussion aufgearbeitet werden muss, und man muss auch schauen, dass nicht das passiert, dass man glaubt, dass hier ein rechtsstaatliches Handeln dazu führen könnte, dass zukünftig weniger eingeschritten wird. Nein, das Gegenteil muss der Fall sein. Solche Dinge sollte man konsequent durchgreifen.
Armbrüster: Wir hören jetzt immer in diesen Berichten von der Partyszene. Können Sie uns sagen, was das ist, die Partyszene in Stuttgart, und ob die da eine Rolle spielt?
Kirstein: Ich glaube, dieser Begriff wurde gewählt, weil man nicht die Gruppe richtig zuordnen konnte am Anfang, ob da jetzt bestimmte Menschen gemeint waren. Diese Partyszene ist in Stuttgart ein gängiger Begriff, wo abends einfach gefeiert wird, Freunde und sonstiges.
Es hat sich an diesem Festort ein bisschen entwickelt und ich glaube, dass diese Begrifflichkeit dann nicht jetzt für die Gruppe als solches abschließend ist, sondern man hat auch keine Begrifflichkeit gehabt, weil man konnte es ja nicht zuordnen, was ist da passiert, warum haben sich so viele verschiedene Menschen unter Umständen solidarisiert, und das noch alles gegen die Polizei und gegen die Rechtsstaatlichkeit. Das ist für mich der springende Punkt, weil man hat ja auch in der Innenstadt nicht nur die Polizisten angegriffen, sondern man hat Läden verwüstet, man hat geplündert. Das sind Szenen, die möchte kein Mensch haben.
"Berichterstattung insbesondere über Amerika hat eine Rolle gespielt"
Armbrüster: Was ist denn Ihre Erklärung dafür? Woher kommt diese Gewalt plötzlich?
Kirstein: Ich gehe schon davon aus, dass die letzten Wochen und Monate die Berichterstattung insbesondere über Amerika eine Rolle gespielt hat, weil man so den Eindruck gewinnen könnte, dass manch einer glaubt, das auf uns zu übertragen. Es wurde beflügelt durch vielerlei Berichte, Aussagen. Da gab es auch politische Aussagen. Es gab eine "taz", die geschrieben hat, Polizei gehört abgeschafft oder auf den Müllhaufen geworfen. Wenn man sich das mal zu Bilde führt, was da jetzt gewesen ist, ich glaube, dann dürfte das kein Thema mehr sein, weil ohne Polizei wüsste jeder, wie es ausgeht.
Armbrüster: Glauben Sie, die Menschen, die da randaliert haben, diese Männer – es waren ja ausschließlich Männer -, haben die diese Debatte genauso verfolgt? Haben die auch den taz-Artikel gelesen?
Kirstein: Das ist immer schwierig zu sagen, ob sie ihn gelesen haben. Aber in den Social Media sieht man schon, dass die Äußerungen zu bestimmten Dingen ja schnell unterstützt werden. Das heißt, irgendeiner nimmt einen Teil raus, schreibt was rein, und die Erkenntnisse aus diesen Netzen heraus, wenn wir was veröffentlichen als Gewerkschaft, dann sehen wir ja auch die Kommentare dazu. Ich glaube schon, dass diese Community sich sehr gut vernetzt.
"Deutsche Polizei eindeutig nicht vergleichbar" mit US-Polizei
Armbrüster: Das sind die Reaktionen, die Sie in den Medien mitbekommen, auch in den sozialen Netzwerken. Was sagen Sie denn dazu, wie die Politikerinnen und Politiker in den letzten Wochen mit dieser Situation umgegangen sind und auch mit der Polizei?
Kirstein: Da gab es natürlich unterschiedliche. Wir haben positiv zur Kenntnis genommen, dass einige deutlich das abgrenzen von dem, was da in Amerika passiert, weil wir sind als deutsche Polizei eindeutig nicht vergleichbar. Wir haben ein ganz anderes Rechtsstaatsempfinden.
Das zweite ist natürlich, dass es auch Äußerungen gab – und ich glaube, das ist unstrittig -, wo man uns unterstellt, dass es einen latenten Rassismus gibt. Das hat natürlich erschreckt und wird auch den Kolleginnen und Kollegen nicht gerecht. Wir haben insbesondere in Baden-Württemberg eine sehr gute Ausbildung. Wir haben einen hohen Stand an Qualität und den sollte man auch nicht verlassen. Ich denke, wir sind alle so gestrickt und ausgebildet, dass wir auf den Grundlagen der Demokratie unsere Arbeit erledigen.
Armbrüster: War das, was jetzt in Stuttgart passiert ist, einmalig, oder beobachten Sie so etwas in Baden-Württemberg auch an anderen Orten?
Kirstein: Wir hoffen, dass es einmalig bleibt. Wehret den Anfängen. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass jetzt Trittbrettfahrer versuchen, hinzugehen oder sonst irgendwas zu machen. Deswegen muss man jetzt auch schauen, welche Konzepte, welche Partymeile, welches sonstiges kann man dementsprechend vielleicht auch polizeilich vorbereiten. Wir müssen damit rechnen, mehr Kräfteansatz erst mal in Petto zu nehmen, bis wir wissen, was sich jetzt daraus entwickelt, weil das nimmt ja einen besonderen Drive an.
"Schauen, dass die Szene keine überhandnimmt"
Armbrüster: Welche Rolle spielt bei solchen Krawallen der Alkohol?
Kirstein: Der Alkohol spielt immer eine negative Rolle. Das wissen wir aus vielen anderen Szenen. Ich kenne aber auch Aussagen, die fordern, Alkohol komplett zu verbieten. Das ist etwas schwierig, weil man möchte ja auch die Stimmung nicht ganz kaputt machen. Das ist immer ein Thema, wann ist wieviel Alkohol geeignet.
Ich glaube, dass die Menschheit leider nicht so gestrickt ist, dass sie vernünftig mit diesem Suchtmittel Alkohol umgehen kann. Wir werden das auch nicht verhindern können. Aber ich glaube, dass der Alkohol immer eine große Rolle spielt in solchen Dingen.
Armbrüster: Muss das denn erlaubt sein in einer deutschen Großstadt, dass man sich dort mitten in der Nacht auf einem öffentlichen Platz hemmungslos betrinken kann?
Kirstein: Na gut. Ob man so was erlauben kann oder nicht, da gibt es Gerichtsurteile, die sagen, wenn es ein Kriminalitätsschwerpunkt ist, können wir es auch verbieten. Es ist die Frage, ob man das flächendeckend in einer Stadt möchte. Ich glaube, dass die Mehrheit der Bevölkerung sehr verantwortungsvoll damit umgeht, und die würden sich natürlich auf der anderen Seite sehr eingeschränkt vielleicht fühlen. Deswegen muss man schauen, dass die Szene keine überhandnimmt und die "Normalbürger", wenn man sie so bezeichnen darf, schon ihre normalen freiheitlichen Grundsätze wahrnehmen können.
Armbrüster: Kriegen Sie da auch so etwas mit, dass viele Menschen sich öffentlich versammeln, dann möglicherweise auf einem öffentlichen Platz betrinken, weil es keine Clubs gibt, die gerade offen sind, keine Kneipen, weil sie sich einfach nirgendwo anders treffen können?
Kirstein: Das ist nicht auszuschließen und ich weiß es von meinen Kolleginnen und Kollegen, dass die zum Teil berichten, dass es schon solche kleinen Gruppierungen immer gegeben hat, die sich mal zusammenrotten. Wenn man sie aber angesprochen hat, sind in aller Regel die meisten dann auch wieder auseinandergegangen. Bloß hier hat sich gezeigt, dass sich ein Solidarisierungseffekt ergeben hat, der in die völlig falsche Richtung gegangen ist, und da muss man schauen, wie kann man dem gegensteuern.
"Hoffe, dass die Bürgerschaft ein klares Signal setzt"
Armbrüster: Das heißt, Sie sehen hier gar keinen besonderen Anlass dafür, darüber zu spekulieren, dass möglicherweise die Corona-Beschränkungen dahinter stehen, dass das Ganze ein weiteres Anzeichen der Coronakrise ist?
Kirstein: Ich glaube, das wäre ein bisschen kurz gegriffen, wenn man sagt, das ist jetzt ein Anzeichen, weil man in der Corona-Zeit nicht ganz sich so frei bewegen konnte wie bisher. Dann müsste man das ja in vielen anderen Bereichen auch haben. Da sind wir froh, dass das nicht so ist. Dass da vielleicht ein kleiner Teil mit reingespielt hat, das mag durchaus möglich sein.
Wir nehmen ja auch im Umfeld wahr, in der Diskussion mit unseren Polizeien, dass viele wenig Verständnis zeigen, dass Baden-Württemberg immer mehr Einschränkungen hat wie andere Länder. So empfinden das wohl viele. Und ich glaube schon, dass ein kleiner Teil dazu beitragen kann. Aber für mich ist das nicht ausschlaggebend.
Armbrüster: Sondern ausschlaggebend ist für Sie was?
Kirstein: Ich glaube schon, dass die ganze Aufschaukelung der letzten Wochen und Monate über diese amerikanischen Medien, was da aufgekommen ist über diese Bilder, dass man alles zusammenknüppeln kann, alles zerstören, vorher Frankreich – ich glaube, hier werden Dinge übertragen auf Deutschland, die einfach nicht übertragbar sind, weil wir einen völlig anderen Rechtsstaat haben und auch der Bürger eine andere Qualität hat. In Amerika muss man einfach zur Kenntnis nehmen, dass viele Schusswaffen mit sich tragen können. Da muss man unter Umständen anders eingreifen wie jetzt bei der Polizei in Deutschland.
Armbrüster: Was erhoffen Sie sich? Was passiert in Stuttgart am kommenden Wochenende?
Kirstein: Ich hoffe, dass hier die Bürgerschaft ein klares Signal setzt, wenn diese sogenannte Partyszene sich wieder dort trifft und feiern möchte, dass sie zeigen, dass das toll geht, dass das super geht, ohne dass man da eingreifen muss. Aber ich gehe davon aus, dass auch hier unsere Polizeiführung einen deutlichen Kräfteansatz annehmen wird, weil wir wollen ja solche Szenen nicht noch mal sehen.
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