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Nach Pan Tau und Kater Mikesch
Comeback der tschechischen Kinderliteratur

Kater Mikesch, Pan Tau und der Kleine Maulwurf - Figuren aus Kinderbüchern der 70-er Jahre, die zur Unsterblichkeit neigen. Auf der Leipziger Buchmesse 2019 wird Tschechien zu Gast sein und frischen Wind mit neuen Autoren und modernen Märchenfiguren einbringen.

Von Siggi Seuss |
    Szene aus dem Film Pan Tau, einer deutsch-tschechoslowakischen Kinderserie.
    Szene aus dem Film Pan Tau, einer deutsch-tschechoslowakischen Kinderserie (imago)
    Viele kennen und lieben sie hierzulande, die tschechischen Kinderbuchklassiker von Božena Němcová, von Josef Lada, von Zdeněk Miler, Miloš Macourek und Ota Hofman. Großmütterchen, Kater Mikesch, der Kleine Maulwurf, der Fliegende Ferdinand und Pan Tau.
    Noch heute finden die Romane und Bilderbücher zahlreiche Freunde unter jungen und alten Lesern. Doch was ist mit den jüngeren Schriftstellern und Buchkünstler im Lande? Mit dem Ende der Ära des Dichters, Philosophen und Staatspräsidenten Vaclav Havel schien ein ökonomischer Pragmatismus eingekehrt zu sein, dem sich viele Literaten entziehen wollten. Die Folge war, dass es bei uns über ein Jahrzehnt lang kaum nennenswert Neues aus der Kinderliteraturszene des Landes zu lesen gab.
    Seit ein paar Jahren nun bewegt sich etwas. Woran das liegt, erzählt der 34jährige Ondřej Buddeus, seit kurzem Chefkoordinator des Tschechischen Literaturzentrums in Prag. Siggi Seuß traf ihn in München.
    Erinnerungen an den Kleinen Maulwurf
    Wie beginnt man einen Beitrag über die tschechische Kinderliteratur der Gegenwart? Für jene, die vor der Milleniumsgeneration groß geworden sind, ist die Sache klar: Mit dem tschechischen Maulwurf von Zdeněk Miler, der uns schon seit über 60 Jahren durchs Leben begleitet. Mit ein paar sentimentalen Erinnerungen an Namen, Figuren und Geschichten, die bereits die Generationen der Eltern und Großeltern erfreut haben, als Leser und Vorleser.
    Wir denken natürlich an die Geschichten der großartigen Erzählerin Božena Němcová, wir denken an Josef Ladas Kater Mikesch, wir denken an Ota Hofmans und Jindřich Poláks Pan Tau, wir denken an die unendliche Märchenwelt, die Karel Franta mit seinen schelmisch-liebevollen Illustrationen lebendig werden ließ, und in der selbst die Teufelchen, die böse sein wollten, nie richtig böse sein konnten. Wir denken an die Alltagsgeschichten von Miloš Macourek und an das menschliche Bestiarium des großen Satirikers Adolf Born, der 2001 bekannte:
    "Ich betrachte eben - das amüsiert die Leute -, ich betrachte mein Land hier als einen riesigen Arbeitstisch."
    Und man kann sich nur zu Herzen nehmen, was die viel zu früh verstorbene tschechische Exilautorin Sheila Och 1996 in einem Interview über eine wichtige Erkenntnis sagte, die sie der tschechischen Literatur für Kinder zuschrieb:
    "Dass man sich nicht so fürchterlich ernst nimmt. Dass viel Unglück auf dieser Welt passiert, weil man sich einfach zu ernst nimmt. Man muss den Spagat irgendwie - so ganz unernst darf man sich auch nicht nehmen."
    Samtene Revolution - ein Stück Sci Fi
    Wie wahr. Und dann ging das erste Jahrzehnt nach der Samtenen Revolution im Lande zu Ende. Und mit den 90-er Jahren verschwand auch die Aufbruchstimmung, die Euphorie eines humanistisch und kulturell geprägten Neubeginns im Lande. Ab dieser Zeit nahm man sich furchtbar ernst.
    "Ich meine, dieses Bild war auch richtig, weil die Symbolfigur für das Ganze bei uns war der Václav Havel", sagt Ondřej Buddeus, 34 Jahre alt, experimentierfreudiger Schriftsteller, Lyriker, Netzwerker, Mitautor des bei uns vor zwei Jahren erschienenen Kindersachbuchs 'Kopf im Kopf' und seit 2016 Chefkoordinator des Tschechischen Literaturzentrums in Prag.
    "Wann passiert es schon, dass eine Revolution symbolisch gesehen - es waren tausende Leute daran beteiligt, der ein Mann führt, der ein absurder Dramatiker ist, weltweit bekannt, und der ein Experimentaldichter und Philosoph ist. Das klingt heutzutage auch eigentlich wie ein SciFi."
    Heute klingt das tatsächlich wie Science Fiction. Für den Rückzug der Literaten aus dem öffentlichen politischen Diskurs nach dem Ende der Havel-Ära sieht Ondřej Buddeus verschiedene Ursachen:
    Rückzug der Autoren nach 1989
    "Also, was mit der tschechischen Literatur passiert ist, in den 90-ern, ist aus der soziologischen Perspektive superinteressant. Weil vor '89 jemand, der nicht die offizielle Literatur geschrieben hat, und hatte keinen großen Kompromiss mit dem Regime gemacht, war derjenige, der eigentlich so ein kleines Freiheitsfeld mit sich getragen hat. Und diese Schriftsteller, das war alle Underground-Schriftsteller, die haben eigentlich ihren Kredit darauf gebaut, dass sie nicht einen Pakt mit dem Staat haben.
    In den 90-ern haben sich alle endlich frei gefühlt, dass sie wirklich nicht müssen - dieser Zwang, dieser Druck da nicht präsent ist. Und gleichzeitig haben sie mit dem Öffentlichen nichts gemeinsam haben wollen. Die wollten also ihre Kunst jetzt endlich frei machen und diese Verantwortlichkeit, öffentliche Intellektuelle zu sein, eigentlich haben sie die weggeworfen. Es war auch die Zeit, wenn das Buch von einem wirklichen Kultus- und Freiheitsobjekt zu einem Produkt auf dem Buchmarkt wurde."
    Auch was den Nebenschauplatz der Kinder- und Jugendliteratur und Illustrationskunst betrifft, der vom Ende der Havelschen Ära und dem Beginn des ökonomischen Pragmatismus und vom Wiedererstarken nationalistischen Denkens überrascht wurde, was die Kinder- und Jugendliteratur aus Böhmen und Mähren betrifft, stellt man sich natürlich die bange Frage: Was ist aus der einst so einzigartigen tschechischen Kunst des Erzählens und Illustrierens geworden?
    Gut, ein Teil der klassischen und klassisch-modernen Kinderliteratur des Landes hat überlebt. Einfach, weil die Geschichten zeitlos gut erzählt und illustriert sind und die Figuren zur Unsterblichkeit neigen. Und natürlich auch aus sentimentalen Gründen in den Gemütern der Menschen, die mit den Geschichten aufgewachsen sind. - Zdeněk Miler, der Vater des Kleinen Maulwurfs, in einem Interview aus dem Jahr 2002:
    "In der Welt gibt es bestimmte Dinge, die verschwinden und andere, die ewig weiterleben. Erst nach Jahrzehnten wird man erkennen, ob der Maulwurf noch lebensfähig ist, ob er den Zuschauern oder Leser noch was zu sagen hat."
    Das Geheimnis der Sockenfresser
    Und nun das: Nach einem Jahrzehnt, in dem die tschechische Kinderliteratur mit ihrer internen Selbstfindung beschäftigt zu sein schien, liest man aus der Feder tschechischer Kinderbuchautoren plötzlich Sätze wie diesen:
    "Man braucht nur einen Augenblick nicht hinzusehen, und schon sieht das, was gerade noch glänzend neu war, schäbig und abgenutzt aus. Wer ist schuld daran? Nun, mitten unter uns gibt es winzige Kobolde, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Dinge mit einem Makel zu versehen oder schlicht altern zu lassen. Eines Tages entdeckt Tippo, dessen Spezialität Druckfehler in Büchern sind, dass die Menschen alles andere als erfreut sind, wenn ihre Sachen alt oder unbrauchbar werden. Er begibt sich auf die abenteuerliche Reise zum Zahn der Zeit."
    Tippo, der Held aus dem illustrierten Kinderroman "Tippo und Fleck" eines vierköpfigen Teams junger tschechischer Autoren und Illustratoren, der bei uns eben im Karl Rauch Verlag erschienen ist, dürfte dem Zahn der Zeit auf die Spur kommen, wäre er in Sachen Kinderliteratur unterwegs. Trotz oder gerade wegen des unerbittlichen Wirkens des Zahns der Zeit tut sich seit ein paar Jahren etwas in der tschechischen Kinderliteraturszene. Das begann mit dem im Lande ungeheuer erfolgreichen satirischen Kinderromans "Die Sockenfresser" des renommierten Dichters, Übersetzers und Songschreibers Pavel Šrut, 2008, der 2017 bei uns erschien. Auch in ihm geht es um das Zusammenleben von Menschen und einer Art Kobolden - der "Sockenfresser" - unter einem Dach:
    "Der Unterschied zwischen dem Menschen und einem Sockenfresser ist gar nicht so groß, wie ihr vielleicht denkt. Er lebt an der Seite des Menschen (auch wenn dieser es nicht ahnt), dadurch erwirbt er menschliche Eigenschaften. Gute wie schlechte, und auch die allerübelsten. Vom Sockenklauen lässt sich auch der edelherzigste Sockenfresser nicht abhalten."
    Hier geht es um eine schlüssige Erklärung für das allseits bekannte Phänomen, dass wir immer wieder vergeblich die zweite Socke eines Paares suchen, eines Paares Wollsocken, versteht sich. Anhand der Freundschaft zwischen einem ziemlich alleinstehenden freundlichen Sockenfresser und einem ebenso ziemlich alleinstehenden freundlichen Musiker wird das Rätsel gelöst. Gleichzeitig gewährt es dem, der will, einen Blick auf die Schattenseiten des ökonomischen Treibens im Lande.
    Köpfchen im Kopf
    Nach langen Jahren der Stagnation tut sich auch etwas im tschechisch-deutschen Kinderbuchtransfer. Vor zwei Jahren erschien bei uns das Sachbuch "Kopf im Kopf" mit sachlich-ironischen Texten von Ondřej Buddeus und sehr schrägen Illustrationen von David Böhm. Und erhielt sogar eine Nominierung zum Deutschen Jugendliteraturpreis 2017.
    "Das Köpfchen im Kopf ist zwar kleiner, berät aber den umgebenden größeren Kopf. Das Köpfchen denkt sich, dass es lieber in einem noch viel größeren Kopf zuhause wäre als in dem, in dem es gerade wohnt. Der Kopf kann dieses Köpfchen, das da in ihm wohnt, nicht immer so gut leiden. Weil das Köpfchen ihm manchmal ziemlich blöde Ratschläge erteilt, und dann tut das Köpfchen so, als wäre rein gar nichts passiert und als wäre es das allerschlaueste Köpfchen auf der ganzen Welt."
    "Das war Davids Idee", sagt Ondřej Buddeus. "Für ihn ist der Kopf ein Leitmotiv. Wirklich. In fast allem, was er macht. Er macht tagtäglich eine Kopfzeichnung. Fünf Kinder haben die. Da meinte er: 'Okay, ich sollte für die Kinder auch ein Buch machen.'"
    Vaclav Havels Kinder
    Es tut sich also etwas in der tschechischen Kinderliteraturszene, und da stellt sich die Frage, ob sich die jungen Erneuerer auf ihre Vorfahren berufen. Ondřej Buddeus:
    "Wir sind Havels Kindergeneration. Und für uns ist Europa als ein großes Meeting Point oder Meeting etwas Natürliches. Es bietet uns alles, was wir eigentlich gewollt haben. Und… man fürchtet langsam, dass das Ressentiment und die Einfachheit des Nationalismus eine Rolle spielen könnten, die dieses vernichtet. Also, die Gefahr und die Furcht besteht. Wir sind so auf dem Abstand Humor und Ironiekultur der tschechischen Kinderbücher aufgewachsen. Und wir mögen das. Aber inwieweit wir auf Vorfahren anspielen - das war eigentlich nie so ein Gespräch zwischen uns, muss sich sagen. Der Bereich Kinder- und Jugendliteratur ist bei uns jetzt wirklich populär geworden. Sehr viele junge Autoren und sehr viele junge Leute, die sich wirklich so als die Erst-… Eingangstür in die Literatur nehmen. Ich würde sogar sagen, dass vielleicht Kinderliteratur jetzt die größte Dynamik hat bei uns."
    Tschechien, ein kleiner Buchmarkt
    Aber das heißt nicht, dass man vom Kinderbuchschreiben und -illustrieren leben könnte:
    "Bei uns ist es leider immer noch so: Es ist ein kleiner Buchmarkt. Die meisten Kulturarbeiter sind Freelancer. Das Modell ist oft so, wenn man, wenn ich am Schreiben bleiben will, dass man die Hälfte des Tages irgendwo arbeitet und dann hat man eigene Projekte."
    Und so arbeitet Ondřej Buddeus - der sich eigentlich schon lange als Literaturaktivist versteht - nun als Chefkoordinator des Tschechischen Literaturzentrums in Prag.
    "Weil, was unsere Mission ist: dass die tschechische Kultur im Bereich Literatur wirklich gut vernetzt mit der Weltkultur ist. Und das ist eine Mission, die - wie ich meine - zu dem Demokratischen wirklich was beibringt - es ist dabei. Also, wir machen was!"
    Erfreulich ist, dass es deutsche Verlage gibt, die diese Wiederbelebung der tschechischen Literaturszene mit großem Interesse verfolgen. Besonders dem Düsseldorfer Karl Rauch Verlag scheint es eine Herzensangelegenheit zu sein, junge Künstler aus der Tschechischen Republik bei uns bekannt zu machen. Hoffentlich ist das der Beginn eines fruchtbaren literarischen Austausches zwischen den beiden Nachbarstaaten, der selbst den Zahn der Zeit zum Schmunzeln bringt.
    Ondřej Buddeus, Daniel Böhm: "Kopf im Kopf"
    Aus dem Tschechischen von Doris Kouba.
    Karl Rauch Verlag, 120 Seiten, 25 Euro.
    Pavel Šrut: "Die Sockenfresser"
    Mit Bildern von Galina Miklínová.
    Aus dem Tschechischen von Alexander Kratochvil und Andreas Tretner.
    Fischer KJB, 302 Seiten, 14,99 Euro.
    Vratislav Maňák: "Der Mann in der Uhr oder: Warum im Herbst die Zeit verstellt wird"
    Illustriert von Igor Kuprin. Aus dem Tschechischen von Lena Dorn.
    Karl Rauch Verlag, 96 Seiten, 16 Euro.
    Tomáš Končinský und Barbora Klárová: "Tippo und Fleck"
    Illustriert von Daniel Špaček, gestaltet von Petr Štěpán.
    Deutsche Übersetzung: Lena Dorn.
    Karl Rauch Verlag, 120 Seiten, 18 Euro.
    Ondřej Chrobák Rostislav Koryčánek, Martin Vaněk: "Wie kommt die Kunst ins Museum?"
    Aus dem Tschechischen von Lena Dorn.
    Karl Rauch Verlag, 62 Seiten, 20 Euro.