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Nach Pariser Anschlägen
"Rosinenpickerei sollte in Europa Vergangenheit sein"

Die Verschärfung der Kontrollen an den EU-Außengrenzen sei notwendig, sagte der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen. Angesichts der anhaltenden Terrorgefahr rückten die Staaten Europas wieder näher zusammen. Dennoch sei die Gefahr des Rückfalls in nationalen Egoismus noch nicht beseitigt.

Jo Leinen im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen, von der Seite aufgenommen, sprechend und mit einer Hand gestikulierend.
    Der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen (imago/stock&people/Becker&Bredel)
    Das Kontrollsystem an den EU-Außengrenzen werde aufgrund der Terrorgefahr engmaschiger, sagte der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen im Deutschlandfunk. Das bedeute allerdings auch für EU-Bürger, dass sie sich auf längere Wartezeiten an den Flughäfen einstellen müssten.
    Generell beobachtet Leinen angesichts der Terrorbedrohung wieder ein Zusammenrücken Europas: "Der Terror ist fühlbar für alle." Die von den Innen- und Justizminister der EU gestern beschlossenen Sicherheitsvorkehrungen hätte es vor ein paar Jahren so nicht gegeben. Dennoch sei die Gefahr des Rückfalls in nationalen Egoismus noch nicht beseitigt. "Rosinenpickerei" verletze den Gedanken der Solidarität und entspreche nicht den europäischen Verträgen. Leinen hofft, dass die europäischen Staaten auch in anderen Fragen die Kraft aufbringen, das gemeinschaftliche Europa weiterzuführen.

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Die Belgier haben die höchste Terrorwarnstufe ausgerufen, das ist eine der Reaktionen auf das, was sich im Moment im Land abspielt, zumindest für Brüssel. In den anderen Landesteilen sieht es anders aus.
    Und wir haben natürlich gestern gehört, dass die Justizminister zusammengesessen haben, die Innenminister der Europäischen Union, und was wir das hören, geht alles in Richtung Abschottung auf der einen Seite, mehr Kontrollen auf der anderen Seite. Über dieses Thema wollen wir reden mit Jo Leinen, für die Sozialdemokraten im Europaparlament und ein Europapolitiker der ersten Stunde, so kann man ihn wohl bezeichnen. Erst mal sage ich: Guten Morgen, Herr Leinen!
    Jo Leinen: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Leinen, wenn ich Sie jetzt mal frage, und das mit dem Blick über eine lange Frist, was wir im Moment aus Europa hören und wenn wir das dann noch mal Revue passieren lassen, was Sie auch in Ihrem Leben so gesehen haben: Wir hatten Grenzen, dann sind die Grenzen abgerissen worden, ich sehe Menschen wie Sie, aber auch Elmar Brok, die an den Grenzen standen und gesagt haben, die müssen weg, und jetzt gehen wir wieder zurück! Ist das jetzt eine zu schlichte Darstellung oder sind wir auf diesem Weg?
    Leinen: In der Tat, in den 80er-, 90er-Jahren gab es an den Grenzen viele Veranstaltungen mit dem Slogan "Alle Europäer wollen reisen ohne Grenzkontrollen". Und das war ein langer Weg zu dem Schengen-Abkommen, diese Personenkontrollen an den Binnengrenzen der EU abzuschaffen. Viele Menschen haben das auch genutzt für die Freizeit, für die Arbeit, zum Einkaufen, ich kann davon ein Lied singen hier an der saarländisch-lothringischen Grenze, an der Saar-Lor-Lux-Grenze, zu Luxemburg auch. Der Grenzverkehr hat enorm zugenommen und Europa ist quasi an den Grenzen auch zusammengewachsen.
    "Das wäre wirklich ein Stich in das Herz der europäischen Idee"
    Zurheide: Und was beobachten Sie im Moment?
    Leinen: Ja, ich bin total erschrocken, dass wir uns noch mal einzäunen, dass wir Grenzbarrieren wieder aufbauen und quasi einen Rückfall in das nächste [Anmerkung der Redaktion: gemeint ist das letzte] Jahrhundert vor uns haben.
    Das wäre wirklich ein Stich in das Herz der europäischen Idee, die Bürger zusammenzubringen und nicht nur, sagen wir mal, die Staaten, sondern wirklich den grenzüberschreitenden Verkehr zu fördern und zwischen den Staaten einfach die Grenzen nicht mehr sichtbar zu machen!
    Zurheide: So nachvollziehbar das ist, was Sie gerade sagen, auf der anderen Seite haben wir natürlich eine Bedrohung von Terror. Ist das alles nur Hysterie? Das kann man sicherlich auch nicht sagen!
    Leinen: Nein, wir haben einen Ausnahmezustand, gar keine Frage. Das Versprechen von Schengen war ja auch Freiheit innerhalb der EU, keine Grenzkontrollen innerhalb der EU, aber wirksamen Schutz nach außen. Das heißt, an den Grenzen der EU zu Drittstaaten die Kontrollen durchzuführen, die wir früher zwischen den Staaten innerhalb der EU durchgeführt haben. Und das hat ja in den letzten Monaten nicht funktioniert, wie wir wissen.
    Zurheide: Was muss da passieren?
    Leinen: Ich glaube, die Innenminister und Justizminister gestern waren auf der richtigen Spur, die Außengrenzen der EU dann jetzt wirksam auch zu schützen. Es sind ja verschiedene Maßnahmen beschlossen worden, auch der gegenseitigen Hilfe.
    Man hat ja gesehen, wie überfordert Griechenland war bei den Hunderttausenden, die da quasi mit einem Schiff von der Türkei kamen, oder wie unwillig letztendlich auch Italien war, Grenzkontrollen durchzuführen. Das hat viel zu lange gedauert, um eine europäische Solidarität des gemeinsamen Grenzschutzes durchzuführen. Und mit dem Beschluss gestern kommt das ein Stück voran, auch wenn ich sehe, dass in dem Beschluss wir alle bei dem Eintritt in die EU von einem Drittstaat in Zukunft wesentlich stärker kontrolliert werden, als das in der Vergangenheit war.
    Man kennt das ja an den Flughäfen, an den Häfen, da steht dann EU-Pässe und Nicht-EU-Pässe, in Zukunft werden die Schlangen wohl gleich lang sein, dass alle richtig kontrolliert werden und nicht nur im Vorbeigehen ihren Pass zeigen.
    "Jeder für sich alleine ist hilflos überfordert"
    Zurheide: Jetzt haben Sie gerade gesagt, wir kommen da voran. Das ist wieder ein Stück ein Hoffnungswert. Ich würde grundsätzlich gerne fragen wollen: Na ja, was kommt denn im Moment in Europa voran? Ich habe eher den Eindruck, dass das außerordentlich schwierig ist, dass da mehr als einmal etwas beschlossen wird, aber dann wird es eben doch nicht getan oder Länder interpretieren das völlig anders, so was wie Solidarität in Europa gibt es doch im Moment überhaupt nicht, oder?
    Leinen: Bei der Flüchtlingsfrage kann man da ernste Zweifel haben, bei der Bekämpfung des Terrorismus sehe ich doch mehr Licht am Ende des Tunnels. Die Terrorgefahr ist ja doch fühlbar für alle gleichermaßen vorhanden und gestern wurden da Dinge beschlossen, die hätte es vor ein paar Jahren nicht gegeben. Die Einrichtung eines europäischen Terrorismuszentrums in Brüssel, der verstärkte Austausch von Informationen, genaue Vorgaben, wie Personen registriert werden, mit Fingerabdrücken, wie die Daten jetzt auch per Internet sofort übermittelt werden. Also, das System wird engmaschiger der Kontrolle von verdächtigen Personen, und das muss auch so sein. Dieser kleine europäische Kontinent kann sich ja nur gemeinsam gegen so eine Gefahr schützen, jeder für sich alleine ist ja hilflos überfordert.
    "Es gibt einen erschreckenden Rückfall in nationalem Egoismus"
    Zurheide: Haben Sie aber nicht die Sorge hin und wieder, dass ... Bei solchen Dingen gelingt etwas in Europa, was vielleicht bei anderen Themen auch gelingen sollte, aber eben nicht gelingt? Sie haben jetzt gesagt, bei der Sicherheit ja. Ich will da nicht gegenreden, um Gottes willen, aber ich stelle mir die Frage: Warum klappt es nicht auch da, wo es um eine andere Form von Solidarität geht, zum Beispiel bei der Verteilung der Flüchtlinge, um bei diesem Thema zu bleiben? Ich könnte auch andere Themen nennen, wo ich den Eindruck habe, da entwickelt sich Europa im Moment eher auseinander als zueinander. Richtig oder falsch beobachtet?
    Leinen: Es gibt einen erschreckenden Rückfall in Egoismus, in nationalem Egoismus, wenn man so will, sogar in Nationalismus, wo Probleme nur noch vom Kirchturm aus gesehen werden und man nicht mehr das Gemeinsame im Auge hat, was Europa ausgezeichnet hat, nämlich: Zusammen sind wir stark, alleine ist jeder schwach. Das ist verloren gegangen und ich glaube, so ein bisschen leben wir auch im Luxus, dass es uns in Europa gut geht, dass nicht viel große Dramen passiert sind. Aber das ändert sich. Das ändert sich mit der terroristischen Gefahr, das ändert sich mit den Flüchtlingsströmen, die eine neue Völkerwanderung sind, so kann man das durchaus bezeichnen.
    Und bei 28 Nationalstaaten mit 28 immer wieder neu gewählten Regierungen fällt es manchmal wirklich schwer, ein Thema als gemeinsame Herausforderung zu erkennen und vor allen Dingen Souveränität zu teilen, das, was ja das Neue an der EU ist, Souveränität gemeinsam zu teilen und nicht darauf zu pochen, dass jeder ein Veto hat und man quasi zuerst mal für sich allein daherstrampelt.
    "Die Wertvorstellungen in Europa driften auseinander"
    Zurheide: Ich will es zugespitzt fragen: Hat sich Europa auch überdehnt? Sie haben gerade die Wertegemeinschaft noch einmal beschworen, aber wir stellen ja fest, dass in solchen ganz wichtigen Fragen die Werte offensichtlich unterschiedlich sind. Und ich will das jetzt gar nicht schlechtreden, dann sind es eben unterschiedliche Werte, und brauchen wir dann vielleicht ein anderes System vom Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, um einen bestimmten Begriff noch mal zu bringen?
    Leinen: Ja, es wird sichtbar, dass die zentraleuropäischen Länder anders aufgestellt sind als die westeuropäischen Länder bei den Flüchtlingen, die kommen. Viktor Orbán sagt ganz eindeutig, ich will keine Muslime in meinem Land, die neue polnische Regierung sagt dasselbe. Das ist an sich gegen die Grundprinzipien der EU, der Nichtdiskriminierung wegen der Religion und der Rasse, was alle unterzeichnet und alle ratifiziert haben. Sie haben recht, die Wertvorstellungen in Europa driften auseinander, man muss sich fragen, ob wir noch eine gemeinsame Identität haben oder wirklich jetzt auseinanderlaufen bei den Grundfragen, was die EU zusammengehalten hat. Da kann man sich wirklich tiefe Fragen stellen.
    Ich hoffe mal, weil ich viele Aufs und Abs der europäischen Einigung gesehen habe, viele Tiefs und viele Hochs, dass mal wieder ein dickes Brett gebohrt wird und letztendlich der Bohrer sich doch durch dieses Brett durchbohrt.
    Wir haben jetzt kaum Alternativen, auch die Zäune, die Orbán errichtet hat, die sind ja kein Dauerschutz, sondern die haben mal kurzfristig jetzt die Flüchtlinge um Ungarn herumgelenkt. Aber auf Dauer kann sich auch Ungarn von diesem neuen Phänomen nicht ausklinken.
    "Ein Europa wie ein Schweizer Käse wäre ein anderes Europa"
    Zurheide: Aber meine Frage war, ob vielleicht das Grundprinzip falsch ist, vielleicht muss man anerkennen, dass es da Unterschiede gibt – und ich sage das jetzt eher mal wertfrei –, und damit aber auch im Rückschluss die Konsequenz zieht, na ja, dann machen wir vielleicht nicht alles gemeinsam, sondern nur noch das, wo es funktioniert. Oder sagen Sie, das ist nicht die Vorstellung von Europa, die Sie haben?
    Leinen: Also, ein Europa à la carte, ein Europa wie ein Schweizer Käse wäre ein anderes Europa. Das Rosinenpicken, ich suche mir aus, was mir passt, und was mir nicht passt, da mache ich nicht mit, das ist ein Flickenteppich von Europa, der nicht den Verträgen entspricht, die alle unterschrieben haben, dann müssten wir neue Europa-Verträge aushandeln.
    Großbritannien will das ja, in der Tat kommt da nächstes Jahr die Probe aufs Exempel bei dem Referendum auf der Insel.
    Ich würde das nicht befürworten wollen, das wäre ein anderes Europa, als wir heute haben, und ein schlechteres Europa. Denn Rosinenpickerei verletzt quasi den Gedanken der Solidarität und das würde dann wirklich zu der Einrichtung von Grenzbarrieren und dem Aufbau von Abschottungen der einen zu den anderen in Europa bedeuten. Das sollte Vergangenheit sein, das sollte letztes Jahrhundert sein.
    Ich hoffe, wir haben die Kraft und auch den Willen, trotz schwieriger Bedingungen dieses gemeinschaftliche Europa auch noch weiterzuführen.
    Zurheide: Das war ein Plädoyer für Europa, für mehr Gemeinsamkeit, und das auch in schwierigen Zeiten von Jo Leinen, für die SPD im Europäischen Parlament. Herr Leinen, ich bedanke mich für das Gespräch!
    Leinen: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.