Stephanie Gebert: Einen Tag nach dem gewaltsamen Tod eines Schülers der Käthe-Kollwitz-Schule in Lünen ist das Entsetzen immer noch groß. Schüler und Lehrer haben heute gemeinsam versucht, das Geschehene zu verarbeiten. Es wurden Blumen und Kerzen niedergelegt zum Gedenken an das 14-jährige Opfer, am Mittag gab es außerdem eine Gedenkminute. Der mutmaßliche Täter, ein Mitschüler, hat gestanden, den jungen in den Hals gestochen zu haben. Der 15-Jährige ist der Polizei bekannt gewesen, er galt als aggressiv und unbeschulbar. Klaus Seifried ist Schulpsychologe vom Berufsverband der Deutschen Psychologen und ich habe ihn gefragt, müssen wir in diesem Fall von einem extremen Einzelfall ausgehen, oder wie häufig haben Sie und Ihre Kollegen mit massiven Gewaltdelikten an Schulen zu tun?
Klaus Seifried: Es gibt in jeder Stadt eine Anzahl von Intensivstraftätern, Kinder und Jugendliche, die entwurzelt sind, sozial entwurzelt sind und große, große Probleme bereiten. Zum Glück ist diese Zahl sehr gering.
"Eins-zu-eins-Betreuung, um stabilisiert zu werden"
Gebert: Der tatverdächtige Schüler soll schon vorher auffällig gewesen sein. Wie engmaschig kann denn eine Betreuung eines solchen Jugendlichen an der Schule geführt werden?
Seifried: Das große Problem ist, dass solche Schülerinnen und Schüler – meistens sind das ja Jungs – eine sehr intensive Betreuung brauchen, meistens eine Eins-zu-eins-Betreuung, um stabilisiert zu werden, und diese Ressourcen haben Schulen in der Regel nicht.
Gebert: Das heißt, es braucht einen Personalschlüssel, wo auch eine Eins-zu-eins-Betreuung möglich ist aus Ihrer Sicht?
Seifried: Wir sprechen ja seit Jahren über die inklusive Schule, und Schulleiterinnen und Schulleiter müssen in solchen Situationen – und das zeichnete sich ja schon ab, dass dieser Schüler verhaltensschwierig war – besondere Betreuungsmodelle kurzfristig und flexibel anbieten können. Diese Ressourcen müssen Schulen zur Verfügung haben ohne große Antragswege und sonderpädagogische Feststellungsverfahren.
Gebert: Wie sieht es insgesamt mit der psychologischen Unterstützung an Schulen aus? Auf wie viele Psychologen können denn Schulen in Deutschland zurückgreifen?
Seifried: Auch wenn genügend Schulpsychologen da sind, können wir solche Einzelfälle nicht verhindern. Wichtig ist, dass wir möglichst präventiv arbeiten und solchen verzweifelten, in Krisen geratenen Jugendlichen ein Stück Stabilität bieten. Das kann auch die Schule sein und Erfolge vermitteln in der Schule, auch wenn sie Schwierigkeiten haben. Aber zurück zu Ihrer Frage: Im Moment ist es so, dass in Deutschland ein Schulpsychologe ungefähr 8.700 Schüler zu versorgen hat. Das ist der Durchschnittswert. In Großstädten haben wir ungefähr 5.000 Schüler zu versorgen oder zehn bis zwölf Schulen. In Flächenbezirken ist es etwas schlechter, und ganz am Schluss ist Niedersachsen oder Sachsen mit eins zu fünfzehn- und eins zu sechzehntausend. Und lassen Sie mich noch einen Satz hinzufügen: Der internationale Standard liegt bei eins zu tausend oder eins zu zweitausend. Ein Schulpsychologe in Kopenhagen oder in Zürich hat ungefähr sieben- oder achthundert Schüler zu versorgen.
"Kleine Räume schaffen, wo sie Erfolge haben, sich beruhigen können"
Gebert: Da höre ich raus, dass Sie definitiv, auch nach diesem Fall Lünen, jetzt sagen, da muss dringend mehr Personal her, da muss mehr Geld reingesteckt werden?
Seifried: Die Entwicklung solch eines Kindes- und Jugendlichen, die zeichnet sich ja ab. Der ist ja nicht scheinbar unbeschulbar oder verhaltensschwierig seit heute oder gestern. Sondern das zeichnet sich über Jahre ab, und diese Kinder haben Misserfolge in der Schule, sie werden ausgegrenzt, sie haben keinen Halt in der Familie, und deshalb ist die Prävention so entscheidend, frühzeitig solche Kinder auffangen, sie in der Schule stabilisieren, mit Hilfe des Jugendamtes, der Jugendhilfe, ihnen kleine Räume schaffen, wo sie Erfolge haben und sich beruhigen können.
Gebert: Sie haben selbst gerade gesagt, dafür braucht es nicht unbedingt einen Schulpsychologen. Auch Lehrer können selbst tätig werden. Was würden Sie denn Lehrern raten, wie können sie oder auch Schulen insgesamt kompetent mit dem Phänomen Gewalt, mit verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern umgehen?
Seifried: Schule hat ja einen Bildungs- und einen Erziehungsauftrag. Und in den letzten Jahren steht ja die Leistung sehr im Vordergrund, sie wird gemessen im Lesen, im Schreiben wie auch in Mathematik und immer wieder veröffentlicht. Aber noch wichtiger als der Bildungsauftrag ist der Erziehungsauftrag, dass das Sozialklima in einer Klasse gut ist, dass dort Regeln herrschen, die auch eingehalten werden, dass der Klassenlehrer Autorität hat und diese Schülerinnen und Schüler stabilisieren kann. Die persönliche Beziehung ist entscheidend, das ist das allerwichtigste. Und wenn das Sozialklima in einer Klasse und in einer Schule gut ist, ist das die allerbeste Prävention gegen Gewalt.
"Es geht um ganz schlichte Dinge"
Gebert: Der Deutsche Lehrerverband hat inzwischen auch auf die Tat reagiert und fordert eine Offensive für Werteerziehung. Was ist von diesem Ansatz zu halten?
Seifried: Das ist mir ein bisschen zu abstrakt. Es geht um ganz schlichte Dinge. Es geht um Regelakzeptanz, dass Schülerinnen und Schüler sich an die Regeln, die in der Klasse abgesprochen werden, auch halten, dass die verschiedenen Lehrkräfte, die eine Klasse unterrichten, auch ähnliche Regeln umsetzen und konsequent sind, alle solche Dinge. Dass die Schülerinnen und Schüler lernen, miteinander nicht konkurrenzhaft, sondern eher solidarisch und unterstützend umzugehen. Die Schule ist ein ganz wichtiger Sozialisationsraum. Und diese Chance nutzen wir zu wenig, zum Beispiel durch ein Zeitfenster im Stundenplan für soziales Lernen, für Klassenlehrerstunden, für erzieherische Arbeit mit den Kindern.
Gebert: Sagt Schulpsychologe Klaus Seifried vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Danke schön für das Gespräch!
Seifried: Gerne!
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