Keine Frage: Man könnte dieses Buch für eine Provokation halten. Doch provozieren will Sari Nusseibeh gar nicht, sondern lediglich ein Gedankenexperiment vorstellen, wie er selber schreibt. Das ist ein ziemliches intellektuelles Understatement. Denn was der Palästinenser, Philosoph und Präsident der Ost-Jerusalemer Al-Quds-Universität da entwickelt, hat genauso viel überraschendes Potenzial wie politische Sprengkraft. Nusseibeh selbst will das aber gar nicht so hoch hängen. Für ihn, sagt er, hätten ganz grundlegende Gedanken am Anfang gestanden.
"Wenn Sie sich die israelische Gesellschaft anschauen, dann sehen Sie, dass sich das Land nach rechts bewegt hat. Und wenn Sie auf die palästinensische Seite schauen, dann sehen Sie eine gespaltene Gesellschaft, die nicht in der Lage wäre, irgendwo Frieden mit den israelischen Siedlungen zu schließen – was vielleicht am Anfang des Friedensprozesses in Madrid und Oslo noch möglich gewesen wäre. Ob man das jetzt subjektiv oder objektiv betrachtet: Ich glaube, es ist schlicht unmöglich, die klassische Zwei-Staaten-Lösung zu realisieren, über die wir so lange geredet haben. Deshalb brauchen wir aber nicht die Hoffnung zu verlieren und die Situation immer weiter eskalieren zu lassen, sondern wir müssen über neue Ideen nachdenken."
Nachdenken statt Resignieren, um aus dem israelisch-palästinensischen Konflikt auszubrechen – das fordert Sari Nusseibeh, und er kommt dabei zu einem erstaunlichen dritten Weg. Anstelle der nicht realisierbaren Zwei-Staaten-Lösung will er einen Staat, eine einheitliche Zivilgesellschaft, und die auch noch unter israelischer Hoheit.
"Ich schlage vor, dass Israel die besetzten Gebiete offiziell annektiert, die Palästinenser in dem so vergrößerten Israel akzeptieren, dass dieser Staat jüdisch bleibt und sie im Gegenzug sämtliche bürgerlichen, wenn auch nicht politischen Rechte erhalten. Damit wäre der Staat jüdisch, das Land hingegen wirklich binational, und es würde für das Wohl aller Araber in diesem Land gesorgt."
Eine faszinierende Idee, die auch unseren mitteleuropäischen Blick auf den Nahostkonflikt verändern kann. Und eine mutige Idee: Der freiwillige Verzicht auf einen eigenen palästinensischen Staat wäre schon alleine eine Zumutung für viele Palästinenser, noch dramatischer ist der vorgeschlagene Verzicht auf politische Mitwirkung. Doch Nusseibeh argumentiert, es komme gar nicht so sehr auf das Symbol eines eigenen palästinensischen Reisepasses an, sondern darauf, seine individuellen zivilgesellschaftlichen Rechte wahrnehmen zu können.
"Wenn man sich das mal genau überlegt, dann haben wir diesen einen Staat in ganz Palästina schon heute. Israel kontrolliert das Leben jedes Einzelnen, besonders der Palästinenser im Gazastreifen und in der Westbank. Und jetzt ist die Frage: Wenn dieser eine Staat nicht aufgeteilt werden kann in zwei eigenständige Staaten – und danach sieht es überhaupt nicht aus – können wir diesen Staat dann irgendwie beeinflussen, dass er demokratisch wird? Das geht bestimmt nicht über Nacht, aber vielleicht schaffen wir das ja, wie ich im Buch vorschlage, indem wir Israel eine Möglichkeit geben, den Palästinensern unter der Besatzung zumindest im Hinblick auf unsere Bürgerrechte ein bisschen mehr Luft zum Atmen zu geben."
Nusseibehs Hoffnung: Durch Verzicht auf die politischen Mitwirkungsrechte könnte seine Idee der Ein-Staaten-Lösung auch der eher rechtsgerichteten israelischen Mehrheit schmackhaft gemacht werden. Die müsse dann nämlich nicht mehr befürchten, dass Israel seinen jüdischen Charakter verliere. Tatsächlich, bestätigt der Politikwissenschaftler Motti Kedar von der Bar Ilan-Universität in Tel Aviv, gebe es in der israelischen Gesellschaft eine weitverbreitete Angst, zur Minorität im eigenen Land zu werden.
"Während der Intifada wurde uns immer mehr bewusst, dass die jüdische Dominanz zwischen Mittelmeer und Jordan gar nicht so eindeutig ist und in zehn oder 20 Jahren noch viel weniger klar sein wird als heute. Schon allein wegen der Geburtenrate. Jüdische Mütter haben im Durchschnitt 2,6 Kinder, israelische Araber 4,6, Palästinenser in der Westbank haben sieben Kinder, und im Gazastreifen sind es sogar neun Kinder im Durchschnitt."
Genau diese Furcht will Nusseibeh aushebeln, indem er freiwillig auf politische Mitbestimmung der Palästinenser verzichtet – wenn sie im Gegenzug zivilgesellschaftlich integriert werden und etwa vollen Versicherungsschutz oder Reise- und Niederlassungsfreiheit bekommen. Doch interessanterweise werden seine Thesen bisher vor allem in den USA und Europa diskutiert. Denn sein Buch ist bisher weder auf Arabisch noch auf Hebräisch erschienen.
"Es ist möglich, uns die Tür zum israelischen Staat zu öffnen, ohne uns politische Rechte zu geben. Natürlich ist das mit der Hoffnung verbunden, dass wir irgendwann später, Juden und Palästinenser zusammen, wieder darüber reden werden, und vielleicht werden die Juden dann sagen: Ok, das ist in Ordnung, uns auch die politischen Bürgerrechte einzuräumen, sodass wir wirklich zusammen in einem Staat leben können. Oder sie sagen: Das ist keine gute Idee. Dann können wir unseren eigenen Weg gehen, vielleicht in einer Föderation zwischen zwei Staaten."
Auf jeden Fall aber wäre Zeit gewonnen – Zeit zum gegenseitigen Kennenlernen und zum individuellen, ganz persönlichen Blick auf das Gegenüber. Denn nur so lasse sich echte Empathie entwickeln und damit die Basis dafür, in einer kleinen Region dauerhaft friedlich zusammenzuleben. Darauf setzt Sari Nusseibeh seine Hoffnung in diesem klugen und überzeugenden Buch, das einen im wahrsten Sinne des Wortes ungeahnten Ausweg aus dem festgefahrenen Nahostkonflikt skizziert.
"Einfach ausgedrückt, in diesem Szenario könnten die Juden das Land regieren, während die Araber zumindest das Leben dort genießen könnten."
Wer Spaß am politischen Philosophieren und am Wandeln auf ungeahnten Gedankenpfaden hat, der sollte dieses Buch auf keinen Fall verpassen. Und alle anderen können bei Sari Nusseibeh die Lust an frischem Denken kennenlernen.
Sari Nusseibeh: "Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost", Kunstmann Verlag, 256 Seiten, 17,95 Euro,
ISBN: 978-3-888-97752-7
"Wenn Sie sich die israelische Gesellschaft anschauen, dann sehen Sie, dass sich das Land nach rechts bewegt hat. Und wenn Sie auf die palästinensische Seite schauen, dann sehen Sie eine gespaltene Gesellschaft, die nicht in der Lage wäre, irgendwo Frieden mit den israelischen Siedlungen zu schließen – was vielleicht am Anfang des Friedensprozesses in Madrid und Oslo noch möglich gewesen wäre. Ob man das jetzt subjektiv oder objektiv betrachtet: Ich glaube, es ist schlicht unmöglich, die klassische Zwei-Staaten-Lösung zu realisieren, über die wir so lange geredet haben. Deshalb brauchen wir aber nicht die Hoffnung zu verlieren und die Situation immer weiter eskalieren zu lassen, sondern wir müssen über neue Ideen nachdenken."
Nachdenken statt Resignieren, um aus dem israelisch-palästinensischen Konflikt auszubrechen – das fordert Sari Nusseibeh, und er kommt dabei zu einem erstaunlichen dritten Weg. Anstelle der nicht realisierbaren Zwei-Staaten-Lösung will er einen Staat, eine einheitliche Zivilgesellschaft, und die auch noch unter israelischer Hoheit.
"Ich schlage vor, dass Israel die besetzten Gebiete offiziell annektiert, die Palästinenser in dem so vergrößerten Israel akzeptieren, dass dieser Staat jüdisch bleibt und sie im Gegenzug sämtliche bürgerlichen, wenn auch nicht politischen Rechte erhalten. Damit wäre der Staat jüdisch, das Land hingegen wirklich binational, und es würde für das Wohl aller Araber in diesem Land gesorgt."
Eine faszinierende Idee, die auch unseren mitteleuropäischen Blick auf den Nahostkonflikt verändern kann. Und eine mutige Idee: Der freiwillige Verzicht auf einen eigenen palästinensischen Staat wäre schon alleine eine Zumutung für viele Palästinenser, noch dramatischer ist der vorgeschlagene Verzicht auf politische Mitwirkung. Doch Nusseibeh argumentiert, es komme gar nicht so sehr auf das Symbol eines eigenen palästinensischen Reisepasses an, sondern darauf, seine individuellen zivilgesellschaftlichen Rechte wahrnehmen zu können.
"Wenn man sich das mal genau überlegt, dann haben wir diesen einen Staat in ganz Palästina schon heute. Israel kontrolliert das Leben jedes Einzelnen, besonders der Palästinenser im Gazastreifen und in der Westbank. Und jetzt ist die Frage: Wenn dieser eine Staat nicht aufgeteilt werden kann in zwei eigenständige Staaten – und danach sieht es überhaupt nicht aus – können wir diesen Staat dann irgendwie beeinflussen, dass er demokratisch wird? Das geht bestimmt nicht über Nacht, aber vielleicht schaffen wir das ja, wie ich im Buch vorschlage, indem wir Israel eine Möglichkeit geben, den Palästinensern unter der Besatzung zumindest im Hinblick auf unsere Bürgerrechte ein bisschen mehr Luft zum Atmen zu geben."
Nusseibehs Hoffnung: Durch Verzicht auf die politischen Mitwirkungsrechte könnte seine Idee der Ein-Staaten-Lösung auch der eher rechtsgerichteten israelischen Mehrheit schmackhaft gemacht werden. Die müsse dann nämlich nicht mehr befürchten, dass Israel seinen jüdischen Charakter verliere. Tatsächlich, bestätigt der Politikwissenschaftler Motti Kedar von der Bar Ilan-Universität in Tel Aviv, gebe es in der israelischen Gesellschaft eine weitverbreitete Angst, zur Minorität im eigenen Land zu werden.
"Während der Intifada wurde uns immer mehr bewusst, dass die jüdische Dominanz zwischen Mittelmeer und Jordan gar nicht so eindeutig ist und in zehn oder 20 Jahren noch viel weniger klar sein wird als heute. Schon allein wegen der Geburtenrate. Jüdische Mütter haben im Durchschnitt 2,6 Kinder, israelische Araber 4,6, Palästinenser in der Westbank haben sieben Kinder, und im Gazastreifen sind es sogar neun Kinder im Durchschnitt."
Genau diese Furcht will Nusseibeh aushebeln, indem er freiwillig auf politische Mitbestimmung der Palästinenser verzichtet – wenn sie im Gegenzug zivilgesellschaftlich integriert werden und etwa vollen Versicherungsschutz oder Reise- und Niederlassungsfreiheit bekommen. Doch interessanterweise werden seine Thesen bisher vor allem in den USA und Europa diskutiert. Denn sein Buch ist bisher weder auf Arabisch noch auf Hebräisch erschienen.
"Es ist möglich, uns die Tür zum israelischen Staat zu öffnen, ohne uns politische Rechte zu geben. Natürlich ist das mit der Hoffnung verbunden, dass wir irgendwann später, Juden und Palästinenser zusammen, wieder darüber reden werden, und vielleicht werden die Juden dann sagen: Ok, das ist in Ordnung, uns auch die politischen Bürgerrechte einzuräumen, sodass wir wirklich zusammen in einem Staat leben können. Oder sie sagen: Das ist keine gute Idee. Dann können wir unseren eigenen Weg gehen, vielleicht in einer Föderation zwischen zwei Staaten."
Auf jeden Fall aber wäre Zeit gewonnen – Zeit zum gegenseitigen Kennenlernen und zum individuellen, ganz persönlichen Blick auf das Gegenüber. Denn nur so lasse sich echte Empathie entwickeln und damit die Basis dafür, in einer kleinen Region dauerhaft friedlich zusammenzuleben. Darauf setzt Sari Nusseibeh seine Hoffnung in diesem klugen und überzeugenden Buch, das einen im wahrsten Sinne des Wortes ungeahnten Ausweg aus dem festgefahrenen Nahostkonflikt skizziert.
"Einfach ausgedrückt, in diesem Szenario könnten die Juden das Land regieren, während die Araber zumindest das Leben dort genießen könnten."
Wer Spaß am politischen Philosophieren und am Wandeln auf ungeahnten Gedankenpfaden hat, der sollte dieses Buch auf keinen Fall verpassen. Und alle anderen können bei Sari Nusseibeh die Lust an frischem Denken kennenlernen.
Sari Nusseibeh: "Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost", Kunstmann Verlag, 256 Seiten, 17,95 Euro,
ISBN: 978-3-888-97752-7