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Nachfolge von Martin Schulz
Liberale Kandidatin will Nationalismus bekämpfen

Die Französin Sylvie Goulard will sich für die Fraktion der Liberalen als EU-Parlamentspräsidentin bewerben. Eines ihrer Ziele ist die Bekämpfung des wachsenden Nationalismus in Europa. Außerdem müsse die EU mehr Rücksicht auf Menschen nehmen, die negative Konsequenzen der Globalisierung spürten, sagte sie im DLF.

Sylvie Goulard im Gespräch mit Bettina Klein |
    Sylvie Goulard ist eine französische Politologin, für die Partei Mouvement démocrate im Europaparlament.
    "Ich bin nie für den Beitritt der Türkei gewesen", sagte Sylvie Goulard, französische Politologin, im DLF. Sie ist für die Partei Mouvement démocrate im Europaparlament. (picture alliance / dpa / Mathieu Cugnot)
    Zwischen den Fraktionen im Europaparlament gibt es zwar eine Vereinbarung, wonach der nächste Präsident aus der konservativen EVP-Fraktion kommen soll. Diese sei jedoch vor dem Brexit und der Flüchtlingskrise geschlossen worden, sagte Goulard. Für die Bürger sei es wichtiger, die richtige Person für das Amt zu finden. Statt der bloßen Einhaltung von Vereinbarungen wünsche sie sich angesichts der "tiefen Krise" der EU eine Debatte über die Themen von heute. Hier wolle sie nicht nur parteipolitisch verhandeln.
    Als wichtiges Thema sieht Goulard die Bekämpfung des wachsenden Nationalismus in Europa. Dass rechtspopulistische Parteien wie der Front National in Frankreich gute Wahlergebnisse erzielten, sei besorgniserregend. Solche "zentrifugalen Kräfte" könnten die EU zerstören. Die EU müsse daher weiterhin gegen Verschuldung und Haushaltsdefizite der Mitgliedsstaaten angehen, aber auch mehr Rücksicht nehmen auf die Menschen, die die Konsequenzen der Globalisierung zu spüren bekämen, weil sie keine Arbeit hätten oder arm seien. "Arme Leute gibt es nicht nur in Südeuropa", betonte Goulard.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Martin Schulz wechselt nach Berlin. Das hat er gestern offiziell bekannt gegeben. Er könnte Außenminister werden, oder auch eine andere Funktion bekleiden. Das ist noch ziemlich offen. Offen ist auch, wer ihm nachfolgen wird als Präsident des Europaparlaments. Das soll sich im Dezember entscheiden. Im Januar aber erst wird dann tatsächlich auch im Parlament abgestimmt. Mehrere Namen sind bereits im Gespräch.
    Wir haben es gerade gehört: ein fraktionsübergreifender Kandidat vielleicht, vielleicht auch eine Frau, und ein Name, der eben noch nicht genannt wurde, ist der von Sylvie Goulard, französische Politikwissenschaftlerin. Sie gehört der Fraktion der Liberalen im Europaparlament an und ist jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!
    Sylvie Goulard: Guten Morgen!
    Klein: Frau Goulard, Sie wollen selbst auch antreten. Für wie groß halten Sie denn Ihre Chancen?
    Goulard: Das hängt davon ab, wie man diese Wahl organisiert. Wir müssen uns Fragen stellen über die heutige Situation. Wir befinden uns in einer tiefen Krise. Ist es Zeit für Business as usual, und ist es nicht vielleicht Zeit, als ein Parlament, das regelmäßig Entschließungen verabschiedet, um die Frauen zu fördern, vielleicht selbst daran zu denken? Das heißt ein bisschen, das hängt davon ab wie es läuft.
    Klein: Auf wessen Stimmen bauen Sie denn da?
    Goulard: Ich will nicht nur parteipolitisch verhandeln. Ich möchte auch, dass die Frauenbewegungen, aber auch alle Leute, die grenzüberschreitend denken, die ein Parlament, das den Nationalismus bekämpft, das zukunftsorientiert ist, die Wettbewerbsfähigkeit stärken will. Das heißt, wir müssen nicht nur intern diskutieren, sondern uns wieder in Kontakt mit der Gesellschaft setzen.
    "Die einzige Frage ist, wer ist der beste Kandidat oder die beste Kandidatin"
    Klein: Sie haben es angedeutet: Es ist nicht die Zeit für Business as usual. Dafür sind die Zeiten zu unsicher und dafür kommt auch auf Europa möglicherweise zu viel Verantwortung zu. Ich würde ganz gerne aber noch mal bei dem Verfahren kurz bleiben. Es gab ja offenbar wohl eine Vereinbarung, dass die EVP, die Europäische Volkspartei, den neuen Parlamentspräsidenten oder die Präsidentin stellt, und diese Vereinbarung, so heißt es, habe auch Ihre Fraktion unterschrieben. Weshalb halten Sie sich jetzt nicht daran und kandidieren trotzdem?
    Goulard: Ich muss zuerst sehen, was meine Fraktion selbst davon hält. Ich glaube, es ist auch gut in einer Demokratie, dass es mehrere Kandidaten gibt. Zwei Bemerkungen. Erstens: Als diese Vereinbarung gemacht wurde, waren wir vor Brexit, wir waren vor der Flüchtlingskrise, und es ist schon sehr lange her. Und die einzige Frage ist, wer ist der beste Kandidat oder die beste Kandidatin. Die meisten Stellen zurzeit, Präsident der Europäischen Kommission, Juncker, Präsident des Europäischen Rates, Tusk, sind von Politikern von der EVP besetzt. Das heißt, vielleicht ist auch eine gewisse Vertretung von den anderen wünschenswert für alle, auch im Interesse der Kollegen, die konservativ sind.
    Klein: Es scheint ein bisschen so zu sein, dass Sie allerdings sich auch werden mit dem Argument auseinandersetzen müssen, weshalb jetzt Kandidaten aus einer anderen Fraktion antreten, die aber diese Vereinbarung, es wird jemand aus der EVP, mit unterschrieben haben. Aber das halten Sie für überwindbar, diese Argumente, die dann Ihnen auch entgegengehalten werden vermutlich?
    Goulard: Ich wünsche eine Debatte, die die Themen von heute und die Tiefe der Krise beleuchtet. Nachdem wir einen Mitgliedsstaat verloren haben, nachdem Herr Trump eingeladen worden ist, wünsche ich mir mehr als nur die Beibehaltung von Vereinbarung zwischen Fraktionen im Europaparlament. Das alles ist wichtig. Es ist auch die Demokratie, dass die Parteien miteinander diskutieren. Aber für die Bürger ist es vielleicht viel wichtiger, dass wir die richtige Person finden, als nur eine oder die andere.
    Klein: Was würden Sie denn als Allererstes anders machen als Martin Schulz, Ihr dann Vorgänger?
    Goulard: Man muss nicht unbedingt alles anders machen. Ich finde, Martin Schulz hat viel getan - das hat auch Herr Graf Lambsdorff gesagt - für die Sichtbarkeit des Parlaments. Was ich heute Morgen tue, das heißt, grenzüberschreitend zu argumentieren, nicht nur für die Franzosen zu reden, sondern noch einmal grenzüberschreitend, zwischen Nord und Süd neue Brücken bauen. Das ist entscheidend. Die Kohäsionen, die politischen Kohäsion des Ganzen ist zurzeit die erste Priorität, die allererste Priorität, und auch die Bekämpfung von dem steigenden Nationalismus. Was in Frankreich in ein paar Monaten passieren könnte, will ich bekämpfen, weil es hätte für mein Land katastrophale Konsequenzen, aber auch für die EU und für unsere Nachbarn.
    Klein: Sie spielen damit möglicherweise an auf einen möglichen Wahlsieg von Marine Le Pen bei der Wahl im nächsten Jahr?
    Goulard: Ja. Wir werden alles tun, damit sie nicht gewinnt. Aber schon, dass diese Parteien so hohe sichtbare Ergebnisse haben, dass wir es mit solchen starken zentrifugalen Kräften zu tun haben, die die EU einfach zerstören könnten, das ist schon sehr besorgniserregend.
    Klein: Frau Goulard, das beschäftigt im Augenblick viele und gerade auch viele Europäer. Geben Sie uns doch ein Beispiel, was Sie glauben, was jetzt an der Stelle tatsächlich geschehen muss, um diesen Rechtsruck, von dem Sie sprechen, und das Auseinanderdriften der Europäischen Union zu verhindern?
    Goulard: Was die Wirtschaft angeht, zum Beispiel Euro, müssen wir nicht versuchen, die Regeln zu verändern oder, wie soll ich sagen, das Ziel aufzugeben, unsere Finanzen zu verwalten in einer Art und Weise, die für unsere Kinder gut ist. Das heißt, wir müssen weiter die Verschuldung bekämpfen, wir müssen weiter die Defizite bekämpfen, und das sage ich als Französin klipp und klar. Wir müssen aber auch vielleicht mehr Rücksicht auf die Menschen nehmen, die die Konsequenzen der Globalisierung empfinden, weil sie ihre Arbeitsstelle verlieren, weil sie keine Perspektive haben, weil sie arm sind. Ich bin die Vorsitzende einer interfraktionellen Gruppe von Abgeordneten, die sich mit der Bekämpfung von Armut beschäftigt. Ich glaube, das ist ganz wichtig.
    "Europa muss auch eine solidarische Gesellschaft fördern"
    Klein: Da spielen Sie an auf die Lage in Südeuropa, nehme ich an, und wollen da einiges anders machen, als jetzt zum Beispiel auch die deutsche Regierung sich das vorstellt?
    Goulard: Nein. Wissen Sie, arme Leute gibt es nicht nur in Südeuropa und reiche Leute gibt es auch in Italien und Griechenland oder anderswo. Wir müssen aufhören, Fallen auf Probleme zu stellen. Das Problem ist, wenn Menschen keine Perspektiven haben, wenn Kinder in die Schule gehen, ohne dass sie etwas zu essen haben. Das sind Realitäten in Europa von Norden bis Süden und selbstverständlich muss jeder Staat die eigenen Verantwortungen übernehmen für die Schule, für eine gute Ausbildung, damit die Leute Wohnungen haben. Alles wird nicht auf europäischer Ebene gemacht. Aber Europa muss auch eine solidarische Gesellschaft fördern. Das ist entscheidend.
    Klein: Abschließend, Frau Goulard. Wir haben gestern die Entscheidung des Europaparlaments gehört und gesehen mit der Forderung, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei einzufrieren. Das ist nicht bindend. Es wird als Signal verstanden, aber es ist nicht bindend. Sehen Sie eine Chance, die Stellung des Europaparlaments in Zukunft zu stärken?
    Goulard: Das Europaparlament arbeitet nur im Rahmen der Verträge. Die Befugnisse für eine bindende Entscheidung haben wir im Parlament nicht. Wir sind aber die Stimme der Bürger. Ich hatte schon bevor die Verhandlungen angefangen haben Stellung genommen in einem Buch über Europa und die Türkei. Ich bin nie für den Beitritt der Türkei gewesen. Ich halte das für zu gewagt. Wir schaffen das einfach nicht. Jetzt sagen wir noch dazu, dass die heutige Situation in der Türkei, wo Journalisten verfolgt werden, wo Leute ins Gefängnis gesteckt werden, ohne irgendwelches Urteil, dass diese Verletzung der Grundprinzipien der Demokratie und auch die Perspektive einer neuen Einführung der Todesstrafe sind vollkommen inkompatibel mit dem Rechtsstaat der Europäischen Union.
    Klein: Sylvie Goulard, liberale Europaabgeordnete. Sie wird sich auch bewerben um die Nachfolge von Martin Schulz als Präsidentin des Europaparlaments dann. Frau Goulard, haben Sie vielen Dank für das Gespräch heute Morgen.
    Goulard: Vielen Dank! Auf Wiederhören!