Kate Maleike: Fast jeder dritte Schüler in Deutschland geht ganztags zur Schule, allerdings zumeist in ein offenes Angebot, denn die gebundene Ganztagsschule ist in der Bundesrepublik noch in der Minderheit. Zu dieser Wasserstandsmeldung kommt die Bertelsmannstiftung in einer neuen Studie, die sie gerade frisch veröffentlicht hat. Ralph Müller-Eiselt ist Schulexperte bei der Stiftung. Wo steht denn jetzt die Ganztagsschule in Deutschland? Was sagen Sie?
Ralph Müller-Eiselt: Ja, Frau Maleike, Licht und Schatten, würde ich sagen. Wir sehen durchaus, dass wir beim Ausbau vorankommen. Allerdings momentan leider doch nur im Schneckentempo. Es gibt große Spreizungen. In Bayern gehen elf Prozent der Schüler ganztags in die Schule, in Sachsen schon 80, deutschlandweit sind es drei von vier Schülern, die ganztags zur Schule gehen.
Maleike: Das heißt, es gibt Unterschiede zwischen den Ländern. In Bayern, haben Sie gerade gesagt, gehen die wenigsten Schüler in eine Ganztagsschule – welches Bundesland ist denn besonders vorbildlich?
Müller-Eiselt: Sachsen. In Sachsen haben wir tatsächlich fast 80 Prozent der Schüler, die ganztags zur Schule gehen können. Aber es ist jetzt nicht so, dass es irgendwie eine Ost-West- oder Nord-Süd-Spaltung da wäre, sondern es hängt ganz klar von politischen Prioritätensetzungen ab, ob Ganztag nun eher weiter vorangeschritten ist oder nicht.
Maleike: In Ihrer Pressemitteilung ist auch zu lesen, Angebot kann mit Nachfrage bei Weitem nicht mithalten.
Müller-Eiselt: Sie haben recht. Die Nachfrage der Eltern liegt momentan bei etwa 70 Prozent, das sagen zumindest repräsentative Umfragen, und wenn man sich dann den Bundesdurchschnitt ansieht, dann sehen wir tatsächlich, dass die Nachfrage momentan mehr als doppelt so groß ist wie das Angebot, das Deutschland bereithält.
Maleike: Wie erklären Sie sich denn diese großen Unterschiede?
Müller-Eiselt: Gründe rauszufinden, ist tatsächlich nicht so einfach. Also wir sehen zum Beispiel, dass zwei Nachbarländer wie Brandenburg und Sachsen-Anhalt doppelt so große Unterschiede haben, also Brandenburg hat einen doppelt so weiten Ausbau wie Sachsen-Anhalt auch. Zwischen den Stadtstaaten gibt es große Unterschiede. Hamburg ist doppelt so weit wie Bremen. Es ist tatsächlich letztlich politische Prioritätensetzung. Die Länder haben nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung, und da entscheiden sie sich tatsächlich auch unterschiedlich. Manche haben früher angefangen mit dem Ausbau, andere hinken da noch deutlich hinterher.
Maleike: Die Zahlen, die Sie da verwendet haben für Ihre Studie, sind ja auch Zahlen, die auch die Kultusministerkonferenz hat, richtig?
Müller-Eiselt: Das sind die Zahlen, die die Länder der Kultusministerkonferenz gemeldet haben, ganz genau.
Maleike: Wie erklären Sie sich eigentlich, Herr Müller-Eiselt, dass Sie in der Bertelsmannstiftung als Schulexperte dort zu diesen Ergebnissen kommen aufgrund dieser Zahlen, die Sie uns gerade genannt haben, und die Kultusministerkonferenz nicht?
Müller-Eiselt: Ich glaube, die Kultusminister kommen gar nicht so zu unterschiedlichen Ergebnissen, denn wenn ich mir so die politische Diskussion anschaue, dann ist doch eigentlich sehr weit verbreitet dieses Einverständnis, dass der Ganztag ausgebaut werden muss. Das hört man eigentlich aus fast allen Parteien. Der entscheidende Punkt, glaube ich, ist da tatsächlich, dass Ganztag auch nicht günstig ist. Wir haben das mal nachgerechnet, und das kostet dann auch gerne 9,4 Milliarden pro Jahr. Bei solchen Summen kann ich schon verstehen, dass der eine oder andere Minister da auch etwas zögerlich ist.
Maleike: 9,4 Milliarden Euro pro Jahr dann mehr, verstehen wir Sie richtig?
Müller-Eiselt: Genau.
Maleike: Also, sie haben ja diesen Rechtsanspruch noch mal formuliert, noch mal unterstrichen. Was würde der denn tatsächlich für die Schulbildung verändern können?
Müller-Eiselt: Also Ganztagsschulen bieten einfach den viel besseren Rahmen, um Kinder individuell zu fördern. Und in der heutigen Zeit, in der die Klassen immer vielfältiger werden, ist das ein ganz wichtiges Argument. Und es gibt tatsächlich Studien, die zeigen, dass guter Ganztag auch zu weniger Sitzenbleibern führen kann, das Sozialverhalten der Schüler verbessert und vor allem benachteiligten Schülern hilft, besser voranzukommen.
Maleike: Also Sie erwarten sich einen Qualitätsschub dadurch?
Müller-Eiselt: Absolut! Es geht hier nicht nur um quantitative Ausbaufragen, sondern tatsächlich auch um Qualitätsfragen. Da sind übrigens auch die Länder gefordert, gemeinsame Qualitätsstandards zu formulieren, denn bislang gibt es da doch noch mehr oder weniger ein konzeptionelles Vakuum. Da gilt es auch noch zu evaluieren, welche denn nun wirklich wirksam sind.
Maleike: Genau. Denn gebundene Ganztagsschule, offene Ganztagsschule, wir haben ja auch noch verschiedene Formen. Was ist denn für Sie der Idealtyp?
Müller-Eiselt: Die gebundene Ganztagsschule ist schon eindeutig die pädagogisch wertvollere. Da gelingt es, Schüler den ganzen Tag in der Schule, in einer Klasse zu halten, und sie können dann eben auch abwechseln zwischen Konzentrations- und Entspannungsphasen. Das gelingt im offenen Ganztag, also dann, wenn der Nachmittag freiwillig ist, einfach nicht, weil sie den Unterricht auf den Vormittag konzentrieren müssen, und nachmittags dann eigentlich nur Betreuungsangebote durchgeführt werden können.
Maleike: Es gibt natürlich auch schon erste Reaktionen auf Ihre Forderungen, auf Ihrer Studie, zum Beispiel hat sich Patrick Meinert geäußert, der FDP-Bildungspolitiker. Er lehnt den Rechtsanspruch ab, den Sie formulieren. Er sagt, keine einheitliche Ganztags-Käseglocke wollen wir für die Bildungsrepublik. Was sagen Sie dazu?
Müller-Eiselt: Ich glaube, wir sind da gar nicht so weit auseinander, denn wir fordern ja auch keine Pflicht für den Ganztag. Sondern wir fordern eben den Rechtsanspruch, das heißt, die Eltern, die ihre Kinder gerne ganztags in die Schlue schicken möchten, sollen einfach auch die Möglichkeit haben, und da gehen heute tatsächlich Angebot und Nachfrage noch sehr weit auseinander.
Maleike: Ralph Müller-Eiselt war das über die Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Lage der deutschen Ganztagsschulen. Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hier finden Sie die gesamte Studie:
Ganztagsschulen in Deutschland – eine bildungsstatistische Analyse
Ralph Müller-Eiselt: Ja, Frau Maleike, Licht und Schatten, würde ich sagen. Wir sehen durchaus, dass wir beim Ausbau vorankommen. Allerdings momentan leider doch nur im Schneckentempo. Es gibt große Spreizungen. In Bayern gehen elf Prozent der Schüler ganztags in die Schule, in Sachsen schon 80, deutschlandweit sind es drei von vier Schülern, die ganztags zur Schule gehen.
Maleike: Das heißt, es gibt Unterschiede zwischen den Ländern. In Bayern, haben Sie gerade gesagt, gehen die wenigsten Schüler in eine Ganztagsschule – welches Bundesland ist denn besonders vorbildlich?
Müller-Eiselt: Sachsen. In Sachsen haben wir tatsächlich fast 80 Prozent der Schüler, die ganztags zur Schule gehen können. Aber es ist jetzt nicht so, dass es irgendwie eine Ost-West- oder Nord-Süd-Spaltung da wäre, sondern es hängt ganz klar von politischen Prioritätensetzungen ab, ob Ganztag nun eher weiter vorangeschritten ist oder nicht.
Maleike: In Ihrer Pressemitteilung ist auch zu lesen, Angebot kann mit Nachfrage bei Weitem nicht mithalten.
Müller-Eiselt: Sie haben recht. Die Nachfrage der Eltern liegt momentan bei etwa 70 Prozent, das sagen zumindest repräsentative Umfragen, und wenn man sich dann den Bundesdurchschnitt ansieht, dann sehen wir tatsächlich, dass die Nachfrage momentan mehr als doppelt so groß ist wie das Angebot, das Deutschland bereithält.
Maleike: Wie erklären Sie sich denn diese großen Unterschiede?
Müller-Eiselt: Gründe rauszufinden, ist tatsächlich nicht so einfach. Also wir sehen zum Beispiel, dass zwei Nachbarländer wie Brandenburg und Sachsen-Anhalt doppelt so große Unterschiede haben, also Brandenburg hat einen doppelt so weiten Ausbau wie Sachsen-Anhalt auch. Zwischen den Stadtstaaten gibt es große Unterschiede. Hamburg ist doppelt so weit wie Bremen. Es ist tatsächlich letztlich politische Prioritätensetzung. Die Länder haben nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung, und da entscheiden sie sich tatsächlich auch unterschiedlich. Manche haben früher angefangen mit dem Ausbau, andere hinken da noch deutlich hinterher.
Maleike: Die Zahlen, die Sie da verwendet haben für Ihre Studie, sind ja auch Zahlen, die auch die Kultusministerkonferenz hat, richtig?
Müller-Eiselt: Das sind die Zahlen, die die Länder der Kultusministerkonferenz gemeldet haben, ganz genau.
Maleike: Wie erklären Sie sich eigentlich, Herr Müller-Eiselt, dass Sie in der Bertelsmannstiftung als Schulexperte dort zu diesen Ergebnissen kommen aufgrund dieser Zahlen, die Sie uns gerade genannt haben, und die Kultusministerkonferenz nicht?
Müller-Eiselt: Ich glaube, die Kultusminister kommen gar nicht so zu unterschiedlichen Ergebnissen, denn wenn ich mir so die politische Diskussion anschaue, dann ist doch eigentlich sehr weit verbreitet dieses Einverständnis, dass der Ganztag ausgebaut werden muss. Das hört man eigentlich aus fast allen Parteien. Der entscheidende Punkt, glaube ich, ist da tatsächlich, dass Ganztag auch nicht günstig ist. Wir haben das mal nachgerechnet, und das kostet dann auch gerne 9,4 Milliarden pro Jahr. Bei solchen Summen kann ich schon verstehen, dass der eine oder andere Minister da auch etwas zögerlich ist.
Maleike: 9,4 Milliarden Euro pro Jahr dann mehr, verstehen wir Sie richtig?
Müller-Eiselt: Genau.
Maleike: Also, sie haben ja diesen Rechtsanspruch noch mal formuliert, noch mal unterstrichen. Was würde der denn tatsächlich für die Schulbildung verändern können?
Müller-Eiselt: Also Ganztagsschulen bieten einfach den viel besseren Rahmen, um Kinder individuell zu fördern. Und in der heutigen Zeit, in der die Klassen immer vielfältiger werden, ist das ein ganz wichtiges Argument. Und es gibt tatsächlich Studien, die zeigen, dass guter Ganztag auch zu weniger Sitzenbleibern führen kann, das Sozialverhalten der Schüler verbessert und vor allem benachteiligten Schülern hilft, besser voranzukommen.
Maleike: Also Sie erwarten sich einen Qualitätsschub dadurch?
Müller-Eiselt: Absolut! Es geht hier nicht nur um quantitative Ausbaufragen, sondern tatsächlich auch um Qualitätsfragen. Da sind übrigens auch die Länder gefordert, gemeinsame Qualitätsstandards zu formulieren, denn bislang gibt es da doch noch mehr oder weniger ein konzeptionelles Vakuum. Da gilt es auch noch zu evaluieren, welche denn nun wirklich wirksam sind.
Maleike: Genau. Denn gebundene Ganztagsschule, offene Ganztagsschule, wir haben ja auch noch verschiedene Formen. Was ist denn für Sie der Idealtyp?
Müller-Eiselt: Die gebundene Ganztagsschule ist schon eindeutig die pädagogisch wertvollere. Da gelingt es, Schüler den ganzen Tag in der Schule, in einer Klasse zu halten, und sie können dann eben auch abwechseln zwischen Konzentrations- und Entspannungsphasen. Das gelingt im offenen Ganztag, also dann, wenn der Nachmittag freiwillig ist, einfach nicht, weil sie den Unterricht auf den Vormittag konzentrieren müssen, und nachmittags dann eigentlich nur Betreuungsangebote durchgeführt werden können.
Maleike: Es gibt natürlich auch schon erste Reaktionen auf Ihre Forderungen, auf Ihrer Studie, zum Beispiel hat sich Patrick Meinert geäußert, der FDP-Bildungspolitiker. Er lehnt den Rechtsanspruch ab, den Sie formulieren. Er sagt, keine einheitliche Ganztags-Käseglocke wollen wir für die Bildungsrepublik. Was sagen Sie dazu?
Müller-Eiselt: Ich glaube, wir sind da gar nicht so weit auseinander, denn wir fordern ja auch keine Pflicht für den Ganztag. Sondern wir fordern eben den Rechtsanspruch, das heißt, die Eltern, die ihre Kinder gerne ganztags in die Schlue schicken möchten, sollen einfach auch die Möglichkeit haben, und da gehen heute tatsächlich Angebot und Nachfrage noch sehr weit auseinander.
Maleike: Ralph Müller-Eiselt war das über die Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Lage der deutschen Ganztagsschulen. Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hier finden Sie die gesamte Studie:
Ganztagsschulen in Deutschland – eine bildungsstatistische Analyse