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Nachgefragt
Die Brexit-Fragezeichen

Die Brexit-Abstimmung und das Misstrauensvotum im Unterhaus lassen Fragen offen. Lässt sich der britische EU-Austritt eigentlich noch abwenden? Das fragen uns Hörerinnen und Nutzer. Die Antworten gehen über das hinaus, was wir in einer Nachrichtensendung erklären können. Darum tun wir es hier.

    Das Foto zeigt das britische Parlament an der Themse im Abendlicht.
    Was bedeutet der Brexit, wenn er ungeordnet geschieht? (dpa-Bildfunk / PA Wire / Dominic Lipinski)
    Die Bürger in Großbritannien haben am 23. Juni 2016 in einem Referendum über den Verbleib in der EU abgestimmt. Damals stimmten knapp 52 Prozent für den Brexit, also den Austritt. Gut 48 Prozent waren dafür, in der EU zu bleiben. Der Austritt ist in Artikel 50 des EU-Vertrages geregelt. Dort heißt es: "Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten."
    Unsere damalige Europa-Korrespondentin Annette Riedel erläuterte schon am Tag des Referendums die Frage: "Was passiert, wenn der Brexit kommt?" Ihre Antwort fiel nüchtern aus. Denn viel, sagte sie, viel regele dieser Artikel eben nicht: "Alles, was man genau weiß über das, was nach einem Votum der Briten für einen Austritt aus der EU passieren würde, passt auf eine halbe DIN-A4-Seite." Fest stand damals nur: Der EU-Vertrag sieht vor, dass ein Austritt in zwei Jahren vollzogen werden muss.
    Befürworter eines Austritts Großbritanniens aus der EU jubeln am 23.06.2016 in London auf der Wahlparty von Leave.eu.
    Befürworter eines Austritts Großbritanniens aus der EU jubeln in London auf der Wahlparty von Leave.eu. (Michael Kappeler, dpa picture-alliance)
    Die britische Regierung teilte dem Europäischen Rat am 29. März 2017 mit, dass Großbritannien austreten will. Die Frist endet damit am 29. März 2019. Die Zeit zwischen 2017 und 2019 haben beide Seiten genutzt, um ein Abkommen auszuhandeln. In diesem "Scheidungsabkommen" sind die Bedingungen des Brexit und die künftigen Beziehungen (zumindest in groben Zügen) geregelt.
    Wie umstritten das Thema ist, zeigt eine Personalie: Auf britischer Seite verhandelt inzwischen der dritte Brexit-Minister. Der erste war David Davis, der im Juli 2018 aus Protest gegen die Politik von Premierministerin Theresa May zurücktrat. Es folgte Dominic Raab, der - ebenfalls im Zwist mit May und aus Kritik am Abkommen mit der EU - im November 2018 zurücktrat. Seither hat Stephen Barclay den Posten inne.
    1. Lässt sich ein Brexit noch aufschieben oder gar verhindern?
    In Artikel 50 des EU-Vertrages heißt es, ein Austritt werde nach zwei Jahren vollzogen, "es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern." Das heißt: Eine Verschiebung des Brexit ist möglich, wenn alle 28 beteiligten Länder, also die gesamte EU, das einstimmig beschließt.
    Großbritannien bliebe dann noch in der EU. Es ist aber vollkommen unklar, was in einer solchen Verlängerungsphase eigentlich erreicht werden sollte oder könnte. Die EU hat mehrfach klargestellt, dass der Austrittsvertrag mit Großbritannien nicht nachverhandelt wird.
    Theresa May und Jean-Claude Juncker halten ihre Hände gegenseitig. Sie lachen herzlich.
    Theresa May und Jean-Claude Juncker in Brüssel (AP Photo/Francisco Seco)
    Streitfall zweites Referendum
    Auch die Dauer einer Verlängerung ist problematisch - etwa wegen der Europa-Wahl. Eigentlich verliert Großbritannien mit dem Brexit die 73 Sitze der britischen Abgeordneten im Europa-Parlament. Die frei werdenden Sitze sind zum Teil bereits auf andere Länder verteilt worden. Und das Parlament wird zudem Ende Mai neu gewählt. Ist der Brexit dann noch nicht vollzogen, müsste auch Großbritannien eine Europa-Wahl abhalten.
    Rein rechtlich hat Großbritannien nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs bis zum Brexit die Möglichkeit, den Austritt einseitig zurückzuziehen. Ob es dafür eine Mehrheit gäbe, ist fraglich.
    Denkbar wäre auch ein zweites Referendum - noch eine höchst umstrittene Frage. Unser Großbritannien-Korrespondent Friedbert Meurer sagte uns: "Selbst die EU-Befürworter warnen vor dem großen Vertrauensverlust, der mit einem weiteren Referendum verbunden wäre. Wie oft soll denn eine Bevölkerung noch abstimmen? Vielleicht bis das Ergebnis den politischen Eliten dann passt?"
    Premierministerin Theresa May hat ein Referendum mehrfach abgelehnt. Es gibt aber auch die Kampagne "People's Vote", die sich dafür einsetzt, das Volk nochmals entscheiden zu lassen.
    2. Immer wieder fällt der Begriff "hard brexit". Was genau ist damit gemeint? Und was ist "soft"?
    Die Frage ist spannend, weil der Begriff "hard brexit" in den vergangenen Jahren seine Bedeutung verändert hat. Im Umfeld des Referendums 2016 wurde viel über die Unterscheidung hard/soft diskutiert. "Hard brexit" meinte damals einen klaren Bruch, also dass Großbritannien den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlässt. "Soft" meinte dagegen, dass die Briten engere Bindungen zur EU aufrechterhalten, zum Beispiel nach dem Modell Norwegens. Großbritannien träte zwar formell aus der EU aus und verlöre auch seine Mitspracherechte, bliebe aber in der Zollunion und hätte weiterhin Zugang zum Binnenmarkt. Allerdings ginge das einher mit einem Beitrag zum EU-Haushalt.
    
Ein Mann demonstriert mit anderen Brexit-Gegnern auf dem Londoner Parliament Square.  Er trägt einen blauen Zylinder mit der Aufschrift: "Stop Brexit".  Außerdem hält er ein Plakat mit einem Zitat von Arron Banks hoch: "I think we would have been better to remain." Im Hintergrund ist eine Frau zu sehen, die ein Plakat mit der Aufschrift hochhält: "Brexit: is it worth it?"
    Brexit-Gegner demonstrieren Anfang November auf dem Londoner Parliament Square. (imago stock&people)
    Heute hat sich dieses Verständnis verändert: Unter "hard brexit" verstehen viele jetzt erheblich mehr - nämlich einen "No-Deal-Brexit", also einen Austritt ohne jedes Abkommen. "Die Begriffe haben sich nach rechts verschoben", sagt Korrespondent Friedbert Meurer. "Was als 'hard' galt, ist heute Mainstream". Man könnte sagen: Es ist "common sense" geworden bei vielen Briten, dass das Land raus muss aus dem Binnenmarkt.
    3. Welche Konsequenzen hätte ein "ungeordneter Brexit", also ein Austritt ohne Abkommen mit der EU?
    Das ist aus vielen Gründen ein sehr vages Szenario. Vage vor allem deshalb, weil es keinerlei Erfahrungswerte in der EU gibt, ist doch Großbritannien das bisher einzige Land, das einen Austritt beantragt hat. Sicher ist: Ein ungeordneter Brexit hätte erhebliche Folgen für Handel und Verkehr. Einfach weil viele Regeln von heute auf morgen nicht mehr gelten. Neue Steuern, höhere Preise, alles möglich.
    Am Fährhafen Dover könnten sich extrem lange Staus bilden. Dieses Szenario wurde sogar schon geprobt. Auch Medikamente, die aus der EU geliefert werden, könnten im Zoll in Dover festhängen. Womöglich brauchte man besondere Kühlräume für Präparate, die eine bestimmte Lagerung benötigen. Jeglicher Im- und Export zwischen EU und Vereinigtem Königreich wäre prinzipiell in Mitleidenschaft gezogen werden. Mit Notvereinbarungen könnten beide Seiten versuchen, die Folgen etwas abzumildern.
    Folgen für die Landwirtschaft
    Der Landwirtschaft ginge es nicht besser: Auf Lammfleisch oder schottischen Lachs etwa würden wieder Zölle fällig, aller Voraussicht nach träten Regeln der Welthandelsorganisation dort in Kraft, wo EU-Regeln entfallen. Von der Industrie ganz zu schweigen: Bei Konzernen, deren Produktion europaweit vernetzt ist - Stichwort Airbus - könnte der Betrieb beeinträchtigt werden. BMW hat aus Sorge vor Lieferengpässen für April schon eine Produktionspause für das Werk in Oxford angekündigt.
    Unser Korrespondent Friedbert Meurer berichtet davon, dass er sich womöglich einen neuen Führerschein besorgen müsste, weil sein rein deutscher Führerschein nicht mehr anerkannt würde. Denn: Meurer selbst wäre dann ein "Drittstaat-Bürger". Er berichtet auch von einer Nachbarin, die Anfang April nach Südafrika fliegen will und sich nun sorgt, ob der Flug stattfindet. Denn die Verbindung führt über die EU, und alle Vereinbarungen mit Brüssel würden am 29. März erst einmal platzen.
    4. Was geschieht mit Irland und Nordirland?
    De facto ist Nordirland nach einem Brexit kein EU-Mitglied mehr, Irland dagegen weiterhin. Es entstünde also auf der Insel eine EU-Außengrenze, mit Kontrollen, Schlagbäumen, Zäunen. Und das will die EU auf jeden Fall verhindern: eine feste Grenze von immerhin 500 Kilometern Länge zwischen (dem britischen) Nordirland und dem Land Irland.
    Dazu gibt es die sogenannte "Backstop"-Regelung, eine Art Auffanglösung. Sie sieht vor: Wenn es in der Übergangszeit bis Ende 2020 nicht gelingt, ein Handelsabkommen mit der EU zu erzielen, bleibt Großbritannien erst einmal in einer Zollunion mit der EU. Nordirland bliebe zudem weitgehend im EU-Binnenmarkt. Die Kritiker in Großbritannien sagen: Das kettet uns dauerhaft an die EU. Sie wollen darum auch ein Kündigungsrecht. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben im Dezember 2018 erklärt, dass ein "backstop" nur vorübergehend greifen soll. Die Partei DUP im Unterhaus in London jedenfalls befürchtet, dass Nordirland wegdriften könnte von Großbritannien, zumindest im übertragenen Sinne. Allerdings war auch die DUP für den Brexit.
    Ein Straßenschild mit der Aufschrift "Money Changed" (Geld wechseln) steht in einer Hecke an der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland.
    Die Grenze zwischen Irland und Nordirland (dpa / AP / Peter Morrison)
    Hintergrund ist auch der Nordirland-Konflikt zwischen irisch-katholischen Nationalisten und protestantischen Loyalisten - mit 3.500 Toten. Der Konflikt endete 1998 mit dem Karfreitagsabkommen. Die Grenze ist historisch also sehr aufgeladen und war viele Jahre lang massiv befestigt und gesichert. Auch darum will die EU verhindern, dass es wieder Grenzkontrollen gibt.
    5. Was genau hat das britische Parlament entschieden?
    Das britische Parlament hat den Brexit-Vertrag mit großer Mehrheit abgelehnt und am Tag darauf auch der Premierministerin das Vertrauen ausgesprochen. Die Abgeordneten des "House of Commons" stimmten in London mit 432 zu 202 gegen den Vertrag, den die Regierung mit der EU ausgehandelt hatte. Damit hat das Parlament zum ersten Mal seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein Abkommen der Regierung zu Fall gebracht. Allerdings kommt die Ablehnung nicht überraschend, weil sich vorher auch viele Abgeordnete aus Mays konservativer Partei gegen den Brexit-Vertrag positioniert hatten. Das Gleiche gilt für die Abgeordneten der nordirischen DUP, die Mays Minderheitsregierung eigentlich stützt.
    Unmittelbar nach Bekanntgabe des Ergebnisses stellte die oppositionelle Labour-Partei einen Misstrauensantrag gegen die Regierung. Der scheiterte aber am nächsten Abend mit 306 zu 325 Stimmen. May kann also vorerst weiterregieren. Als nächstes muss sie einen Plan B zum bisherigen Abkommen vorstellen.
    Gibt es keine Einigung bis zum vorgegebenen Austrittsdatum am 29. März, käme es zu einem Brexit ohne Abkommen - dem "ungeordneten Brexit". Vereinbarungen, die den Luftverkehr oder Aufenthalts- und Visafragen regeln, wären schlagartig aufgehoben und könnten nur mithilfe von Notvereinbarungen organisiert werden. Labour-Chef Corybn hat May denn auch nach dem gescheiterten Misstrauensvotum aufgefordert, eines klarzustellen: Dass es auf keinen Fall zu einem solchen Brexit ohne Vertrag kommt.
    (jcs/anh/tgs)