Der Mut zum Widerspruch zeigt sich zum Beispiel daran, dass in Teheran inzwischen täglich Frauen ohne Kopftuch auf die Straße gehen – nicht viele, aber eben jeden Tag. Auch wenn es gegen das Gesetz in der Islamischen Republik verstößt, den Hidschab abzunehmen.
Die Frauen nehmen das Risiko in Kauf. Am internationalen Frauentag 2019 steigen einige in die Frauenabteile der Teheraner U-Bahn. Sie nehmen ihre Kopftücher ab, verschenken Blumen an verschleierte Frauen und singen dazu. Die Videos verbreiten sich schnell. Auch "Voice of America" (VOA Persian) veröffentlicht Bilder zweier Frauen, die sich auf der Vali-Asr-Straße ohne Hidschab filmen lassen. Die Vali-Asr-Straße ist die Prachtstraße von Teheran, gesäumt von Platanen.
Für internationales Aufsehen sorgt kurz darauf der Fall der Boxerin Sadaf Khadem: Sie kämpft in Frankreich in Shorts und ohne Kopftuch und gewinnt als erste Iranerin einen Kampf im Ausland. Sie und ihr Trainer beschließen, in Frankreich zu bleiben. Im Iran droht ihnen die Festnahme.
#walkingunveiled
Dass iranische Frauen in der Öffentlichkeit das Kopftuch abnehmen, hat vor einigen Jahren begonnen. Damals war das in dem Land die absolute Ausnahme. Angestoßen wurde die Idee von der Aktivistin, Frauenrechtlerin und Bloggerin Masih Alinejad. Sie lebt heute in New York und dokumentiert auf Twitter, wenn Frauen ihr Bilder und Videos ohne Kopftuch schicken.
Die Hashtags und Kampagnen heißen #whitewednesday, #mystealthyfreedom, #walkingunveiled oder #mycameraismyweapon. Aber sie sind nicht allen Frauen bekannt, und die Iranerinnen berufen sich auch nicht zwangsläufig auf Masih Alinejad. Es scheint sich mehr um einen inneren Antrieb zu handeln.
Es gibt noch keine belastbaren Zahlen, wie viele Frauen öffentlich ohne Kopftuch gehen. Neu ist, dass das im Straßenbild von Teheran immer mehr zum Alltag gehört. Ganz unabhängig von Aktivismus zeigen sich Frauen ohne Hidschab - einfach so, ob im Restaurant, im Sammeltaxi, auf der Straße oder in der Shopping Mall "Palladium".
"Eine gewisse Unaufgeregtheit"
Die Autorin und Journalistin Charlotte Wiedemann sagte dem Deutschlandfunk, sie beobachte mittlerweile eine gewisse Unaufgeregtheit, mit der andere Passantinnen und Passanten den Frauen ohne Kopftuch begegneten, zum Beispiel auf dem Bahnsteig in der Teheraner Metro: Alle guckten hin, aber niemand schimpfe.
Charlotte Wiedemann, die 2017 ein Buch über iranische Gesellschaft geschrieben hat, betont, es seien noch sehr wenige und zumeist sehr junge Frauen, die das Kopftuch abnähmen. Und alle trügen das Tuch zumindest noch um den Hals. Auf Facebook schrieb sie vor kurzem, sie sehe in Teheran jeden Tag zehn Frauen auf der Straße, die mit größter Selbstverständlichkeit ohne Kopftuch gingen.
Vorladung per SMS
Das Regime reagiert mit Härte. So wurde vor kurzem eine der Initiatorinnen der Proteste, Vida Movahed, zu einem Jahr Haft verurteilt. Mehrere der Aktivistinnen, die am Frauentag in der Metro ohne Kopftuch auftraten, darunter Yasmin Aryani und Monireh Arabshahi, wurden festgenommen. Auch die USA verurteilen das.
Und gerade erst haben die Behörden in Teheran Warnungen per SMS an viele Frauen verschickt und mit Bußgeldern gedroht. Wie BBC Persian berichtet, ging es um den Vorwurf, ohne Hidschab Auto gefahren zu sein. Tausende Zivilpolizisten dokumentieren solche Verstöße.
Im aktuellen Fall wurden die Frauen bei der Sittenpolizei vorgeladen. Es kamen so viele, dass die Polizei am Ende sagte: Wir löschen die SMS, ihr könnt gehen. Die Behörden befürchteten offenbar eine Demonstration. Eine der Frauen beschreibt ihre Haltung zum Abnehmen des Hidschab so: "Das ist ein ziviler Protest. Ich habe nichts Unrechtes getan. Was ich anziehe, ist meine Sache."
"Wer tut hier das Falsche?"
Ähnliches berichtet Nushin, Mutter zweier Kinder in Teheran. Sie erzählt von Diskussionen mit Sittenwächterinnen. Auch sie kontrollieren das Tragen des Kopftuches. Nushin sagt, die angesprochenen Frauen entgegneten heute oft: "Wer tut das Falsche? Ihr bestehlt uns, nehmt uns Milliarden weg. Wir vertrauen euch nicht mehr, ihr seid korrupt."
Immer wieder kursieren Videos, auf denen Frauen Geistliche beschimpfen und in einem Fall dafür sogar Applaus von anderen Menschen bekommen. In einem Video wird eine Frau im Streit mit einem Geistlichen laut und reißt sich im Weggehen in einer trotzigen Geste das Kopftuch herunter. Vor wenigen Jahren kaum vorstellbar.
Die Hintergründe sind auch wirtschaftlich
Doch der Unmut im Iran reicht weit über den Kopftuchzwang hinaus. Die wirtschaftliche Lage ist so katastrophal, dass sich Menschen heute durch alle Schichten offener äußern. Frust und Wut haben sich durch die Flutkatastrophe mit vielen Toten und die Sanktionen der USA vergrößert.
ARD-Korrespondentin Natalie Amiri schreibt dem Deutschlandfunk, viele Menschen hätten die Furcht verloren, zu kritisieren. Früher hätten sie Angst gehabt. Jetzt aber fragten sie bei Interviews: "Strahlt ihr das auch bitte aus?" Natalie Amiri sagt, manchmal zeigten sich die Menschen so kritisch, dass man sie fast beschützen wolle und als Fernsehteam überlege, ob man die Äußerungen wirklich ausstrahlen solle.
"Sie belügen uns"
Der Unmut richtet sich gegen Politiker, Kleriker und die Revolutionsgarde. Uns liegen Videos vor, auf denen ein Mann offen sagt: "Sie belügen uns. Wir wissen nicht, was morgen wird. Wir leiden. Und ich soll diese Regierung unterstützen? Es war ein schlimmer Fehler, dass ich Präsident Rohani gewählt habe. Ich wünsche mir, dass ein anderes System an die Macht kommt. Die haben uns fix und fertig gemacht."
Die Inflationsrate im Iran könnte 2019 nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds auf mehr als 40 Prozent steigen. Die Sanktionen gegen die Islamische Republik sind härter als je zuvor: Gerade erst haben die USA die Ausnahmeregeln für den Ölexport, die Länder wie China und Indien betrafen, abgeschafft. Dabei ist das Öl einer der wichtigsten Exportgüter des Landes.
Keine Transaktionen möglich
Und dann die Flutkatastrophe. Viele Menschen halten der Staatsführung ohnehin schon Korruption vor - nun kommt der Vorwurf hinzu, gar nicht oder zu wenig zu helfen. Zudem beklagt der Rote Halbmond, dass es unmöglich sei, internationale Finanzhilfen ins Land zu bekommen. Der Grund: wegen der US-Sanktionen kann kein Geld überwiesen werden.
Die Folge: Proteste, immer wieder, in Alltagssituationen. So meldet etwa Radio Farda, ein von den USA finanzierter Sender mit Sitz in Prag, wie eine aufgebrachte Menschenmenge das Fahrzeug eines Armee-Kommandeurs in der südlichen Provinz Chusestan umringt. Die Botschaft: Funktionsträger trauen sich kaum noch, aus dem Auto zu steigen - aus Furcht vor dem Ärger der Menschen.
Die britische Zeitung "The Guardian" schrieb jüngst über die Flut: "Die Katastrophe befeuert den öffentlichen Zorn, vor allem dort, wo Hilfskräfte nicht schnell hingelangten." Protest aber ist gefährlich, wie das wiederholte, scharfe Vorgehen gegen Demonstrationen in den vergangenen Jahren zeigt.
"Sonst explodiere ich"
Offene Kritik und ziviler Ungehorsam in der Islamischen Republik: Der Mut der Menschen, der Macht zu widersprechen, ist gewachsen. Das Regime geht hart vor, aber die Menschen machen weiter. Denn solange der wirtschaftliche Druck bleibt, solange der Kopftuchzwang besteht, werden Ärger und Frust kaum abnehmen.
Und das betrifft auch konservativere Schichten: ARD-Korrespondentin Natalie Amiri etwa zitiert eine Frau im Tschador, im streng religiösen Gewand, mit den Worten: "Lasst mich bloß nicht den Mund auftun, denn sonst explodiere ich."