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Nachgefragt
Provokationen in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen

Vor einigen Tagen haben wir gemeldet, dass der Leiter der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen besorgt ist über ein verändertes Verhalten von jugendlichen Besuchern. Er sprach von Provokationen und von "einer Verschiebung der Grenzen des Sagbaren". Diese Meldung hat eine Debatte unter Hörern und Nutzerinnen ausgelöst. Wir haben nachgefragt.

    Eine Blume liegt auf einem Grab auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers in Bergen-Belsen (Niedersachsen)
    Eine Blume liegt auf einem Grab auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers in Bergen-Belsen (Niedersachsen) (dpa / Peter Steffen)
    Am Montag, dem 6.1.2020, haben die Deutschlandfunk-Nachrichten folgende Meldung veröffentlicht:
    "Der Leiter der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen, Wagner, ist besorgt über ein verändertes Verhalten von jugendlichen Besuchern. Manchmal zweifelten die Schülerinnen und Schüler inzwischen die Zahlen der NS-Opfer an, sagte Wagner der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung". Auch generell beobachte er eine Verschiebung der Grenzen des Sagbaren nach rechts. Als eine der Ursachen für die Entwicklung sieht Wagner das Erstarken der AfD. Er gehe davon aus, dass das Verhalten der Schüler auf Lehrer oder andere Erwachsene zurückgeht. Im NS-Konzentrationslager Bergen-Belsen nördlich von Hannover kamen zwischen 1940 und 1945 rund 70.000 Menschen ums Leben. Hier starb auch Anne Frank im Frühjahr 1945 mit 15 Jahren."
    Heftige Twitter-Diskussion über diese Meldung

    Wir haben diese Meldung auch über unseren Twitter-Account veröffentlicht - und dort wurde neben viel wechselseitiger Polemik auch in der Sache diskutiert. Stimmt die Beobachtung, und gibt es Zahlen? Was spricht gegen kritische Fragen? Welche Rolle spielen Jugendliche mit Migrationshintergrund? Das waren nur drei der Fragen. Wir haben versprochen, bei Jens-Christian Wagner nachzufragen. Inzwischen haben wir den Historiker erreicht, der seit 2014 die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten leitet. Im Folgenden veröffentlichen wir einige Auszüge aus dem Mailwechsel.
    "Kritische Fragen ausgesprochen erwünscht"
    Frage: "Spricht etwas gegen kritische Fragen?"
    Jens-Christian Wagner: "Tatsächlich sind kritische Fragen von Schüler*innen in der Gedenkstätte Bergen-Belsen ausgesprochen erwünscht. Es ist ja unser Ziel, Geschichtsbewusstsein und historisches Urteilsvermögen zu schärfen – und dazu gehört kritisches Nachfragen. Die provozierenden Fragen, von denen im Artikel ebenfalls die Rede ist, sind etwas anderes: Hier geht es nicht darum, das Wissen zu erweitern oder kritisch nachzuhaken, sondern mit gezielt einstudierten Signalfragen den/die Gruppenbetreuer*in in Scheindebatten zu verwickeln, deren einziges Ziel es ist, geschichtsrevisionistische Überzeugungen zu verkünden."

    Beispiele für revisionistische Behauptungen
    Frage: "Gibt es dafür Beispiele?"
    Jens-Christian Wagner: "Auf dem 1946 errichteten jüdischen Mahnmal in der Gedenkstätte heißt es, in Bergen-Belsen seien 30.000 Juden ermordet worden. In Publikationen der Gedenkstätte ist von insgesamt 52.000 toten KZ-Häftlingen die Rede, von denen etwa die Hälfte Juden waren. Auf dem jüdischen Mahnmal (wie gesagt von 1946, als genaue Zahlen noch gar nicht vorlagen) werden also 5.000 tote Juden "zuviel" angegeben – für Revisionisten der "Beweis", dass in der Gedenkstätte wie überhaupt in der Erinnerungskultur Lügen verbreitet werden. Ein anderes Beispiel: Es wird scheinbar harmlos nach den Rheinwiesenlagern gefragt. Auf die Antwort, dort seien in amerikanischem Gewahrsam deutsche Kriegsgefangene ums Leben gekommen, werden mit Verweis auf tatsächliche oder herbeiphantasierte Studien exorbitant hohe Opferzahlen genannt – und dann wird behauptet, die Rheinwiesenlager seien deutlich schrecklicher als Bergen-Belsen gewesen, in der Gedenkstätte werde das aber wahrheitswidrig geleugnet. Beispiel drei: Es wird behauptet, das Massensterben in Bergen-Belsen im Frühjahr 1945 sei durch Versorgungsengpässe verursacht worden, die durch Luftangriffe der Alliierten auf Verkehrswege entstanden seien. Die SS sei dem gegenüber trotz aller Hilfsabsichten gegenüber den Häftlingen hilflos gewesen. Die wahren Schuldigen an den Zuständen in Bergen-Belsen seien also die Alliierten, die ihre Verbrechen perfiderweise der SS in die Schuhe schoben."
    Jens-Christian Wagner, Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, spricht in der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Mit einer Gedenkveranstaltung wurde hier an den Völkermord an den Sinti und Roma während des Nationalsozialismus erinnert.
    Jens-Christian Wagner ist Leiter der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten. (dpa)
    Frage: "Was bezwecken derartige Provokateure?"
    Jens-Christian Wagner: "Ziel der auf diese Art Provozierenden ist es, die eigentliche Betreuung der Gruppe in der Gedenkstätte zu verhindern, indem statt über Bergen-Belsen über die angeblichen Verbrechen der Alliierten gesprochen wird. Zudem ist es ihr Ziel, in der Gruppe die Diskurshoheit zu übernehmen und vermeintlich wissenschaftlich zu beweisen, dass in der Gedenkstätte Lügen im Sinne des angeblichen "Schuldkults" verbreitet werden."
    Frage: "Wie gehen Sie damit um?"
    Jens-Christian Wagner: "Zum einen schulen wir unsere Gruppenbetreuer*innen regelmäßig mit dem Ziel, dass Signalfragen als solche erkannt werden – samt Argumentationshilfen gegenüber den gängigen revisionistischen Mythen. Zudem werden Schulungen vorgenommen, um rechtsextreme Symbole etwa auf der Kleidung zu erkennen. Und schließlich werden unsere Betreuer*innen geschult, wie sie das Hausrecht ausüben können: Wann kann ein Hausverbot ausgesprochen werden? Wer spricht es aus? Wie wird es umgesetzt? Wer wird wann informiert?"
    Eine kleine Minderheit wird größer und lauter
    Frage: "Sie sehen einen Trend. Gibt es dazu Zahlen?"
    Jens-Christian Wagner: "Insgesamt machen wir seit etwa zwei, drei Jahren die Erfahrung, dass solche provokativen Fragen oder auch geschichtsrevisionistische Äußerungen von Besucher*innen in der Gedenkstätte Bergen-Belsen zugenommen haben. Offenbar trauen sich Besucher*innen zunehmend, Dinge zu äußern, die sich vor einigen Jahren noch nicht offen formuliert hätten (und/oder vielleicht auch nicht gedacht haben). Leider lässt sich das nicht mit empirisch belegbaren Zahlen quantifizieren. Es handelt sich um eine eher allgemeine Wahrnehmung, die auf Rückmeldungen von Kolleg*innen basiert, die in der Besucherbetreuung tätig sind. Es handelt sich um kein Massenphänomen, sondern um eine kleine Minderheit unserer Besucher*innen – eine kleine Minderheit, die aber größer und lauter wird.
    "Migrationshintergrund spielt eine untergeordnete Rolle"

    Frage:
    "Einige unserer Twitter-User haben spekuliert, der Migrationshintergrund könne eine Rolle spielen. Was sagen Sie dazu?"
    Jens-Christian Wagner: "Zur Herkunft der Besucher*innen, die geschichtsrevisionistische Positionen vertreten, lässt sich deutlich sagen, dass es sich fast durchweg um sogenannte Mehrheitsdeutsche handelt. Über Antisemitismus unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund kann man in den Medien zwar viel lesen, in der Gedenkstättenpraxis spielt das aber eine sehr untergeordnete Rolle."