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Nachgefragt
Warum ist der Begriff "Kristallnacht" verschwunden?

Warum wird nicht mehr von der "Kristallnacht" gesprochen? Wieso tauchte vor ein paar Jahren stattdessen der Begriff "Pogromnacht" auf? Das wollen Hörerinnen und Hörer, Nutzerinnen und Nutzer von uns wissen. Hier die wichtigsten Punkte.

    Die Terrorakte gegen Juden in Deutschland (und in Österreich) in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden lange als "Reichskristallnacht" bezeichnet. Den Ursprung des Begriffes haben Historiker bis heute nicht klären können. Darauf wies der Präsident des Deutschen Historischen Museums, Raphael Gross, im Deutschlandfunk hin.
    Ein Begriff aus dem Volk?
    Eine Weile dachte man, es sei ein Begriff, der den Nationalsozialisten in die Karten spielte oder gar von ihnen in Umlauf gebracht worden sei. Davon sind die meisten Historiker aber abgekommen. Heute wird vermutet, dass der Volksmund den Ausdruck geprägt hat. Das Präfix "Reichs" war dabei möglicherweise ironisch gemeint. Die Nationalsozialisten schätzten bombastische Ausdrücke, die mit einem Reichsbezug begannen, und viele machten sich darüber lustig.
    Bis weit in die 1980er Jahre nahmen nur wenige Menschen Anstoß an dem Begriff. Die Kölner Band BAP veröffentlichte noch 1982 ein Lied, in dem sie vor einem Rechtsruck in Europa warnte und auch die aus ihrer Sicht mangelnde Aufarbeitung der NS-Zeit in der Bundesrepublik kritisierte. Der Titel: Kristallnacht, bzw. im kölschen Original Kristallnaach.
    Gründe für die Abkehr
    Durchgesetzt hat sich seither im deutschsprachigen Raum die Sicht, dass der Begriff verharmlosend sei. Die These: "Kristallnacht" suggeriert zerbrechende Scheiben und zerstörte Kronleuchter und macht nicht ausreichend deutlich, dass nach derzeitiger Schätzung bis zu 1.500 Menschen getötet wurden. Der Holocaust-Überlebende Meier Schwarz fasste es so zusammen: "Der Ausdruck verschleiert jene Gräueltaten, die an jüdischen Mitbürgern verübt wurden, und sollte deshalb durch den Begriff Pogromnacht oder Novemberpogrom ersetzt werden."
    International sieht es anders aus
    International wird der Begriff Kristallnacht dagegen weiter benutzt, auch von Einrichtungen, die über jeden Verharmlosungsverdacht erhaben sind. In der englischsprachigen Presseerklärung des Jüdischen Weltkongresses heißt es am 9.11.2018: "The World Jewish Congress on Friday commemorated the 80th anniversary of Kristallnacht (Night of the Broken Glass)." Auch israelische Zeitungen wie "Haaretz" nutzen den Begriff. Die Gedenkstätte Yad Vashem, spricht inzwischen vom "Kristallnacht-Pogrom".
    Um international verstanden zu werden, hat auch die Deutsche Welle am 9.11.2018 in ihrer Übertragung der Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Synagoge für die englischsprachigen Nutzer geschrieben: "Merkel commemorates Kristallnacht in Berlin". So oder ähnlich haben es am selben Tag auch viele andere Medien in der Welt gehalten wie der "Guardian" oder CNN.
    Kritik auch am Begriff Pogromnacht
    Auch der inzwischen im deutschsprachigen Raum geläufige Ausdruck "Pogromnacht" ist nicht unumstritten. Historiker Friedemann Bedürftig wendet ein: "Pogrom, wörtlich übersetzt Unwetter, hat etwas von Naturereignis und anonymisiert die Verbrecher. So schlägt die gute Absicht der Umbenenner in Verschlimmbesserung um."
    Raphael Gross wies im Deutschlandfunk auf einen anderen Punkt hin: Für einige Beobachter sei "Pogrom" verbunden mit Judenverfolgung in Ländern Osteuropas und in Russland, bei denen das im Nationalsozialismus so besondere Moment der staatlichen Planung keine vergleichbare Rolle gespielt habe.
    Fazit
    Die Wahrnehmung von Begriffen wandelt sich mit der Zeit. Es gab Gründe, vom Ausdruck "Kristallnacht" im deutschen Sprachgebiet abzugehen, doch wird er in anderen Sprachräumen weiter und ebenfalls begründet benutzt. Wer von "Kristallnacht" spricht, führt also nicht per se Böses im Schilde. Vielleicht ist der treffende Begriff auch noch nicht gefunden. Einen wichtigen Hinweis gibt erneut der Präsident des Deutschen Historischen Museums, Raphael Gross. Er sagte im Deutschlandfunk: "Persönlich habe ich das Gefühl, das Wichtigste ist, man weiß, worüber man spricht."