Archiv


Nachhilfe für Väter

Staat und Kommunen in der Türkei bieten kaum Kindergärten an. Und die große Mehrheit der Bevölkerung kann sich private Vorschulen nicht leisten. Dem Mangel an vorschulischer Bildung wird deshalb mit gezielter Ansprache der Eltern begegnet, und da bleiben auch die Väter nicht außen vor. Gunnar Köhne berichtet aus Istanbul.

    Am frühen Abend in einem Klassenzimmer der Grundschule von Bayrampascha: Zwölf Männer nehmen schüchtern in einem Halbrund aus Plastikstühlen Platz. Bayrampasa ist ein Armenvorort von Istanbul, an der Wand des ungeheizten Klassenzimmers hängen eine vergilbte Schautafel mit den wichtigsten Stationen im Leben des türkischen Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk sowie ein Poster über das Planetensystem. Erwartungsvoll schauen die Männer zur Tafel, eine Mappe mit Fotokopien festhaltend, die sie auf die Knie ihrer abgetragenen Hosenbeine gelegt haben.

    "Wie ist Ihre vergangene Woche verlaufen?","

    fragt der freundlich lächelnde junge Mann an der Tafel. Die schnauzbärtigen Männer, manche schon Anfang 50, reden ihn mit "Herrn Lehrer" an. Morgens unterrichtet der Grundschullehrer die Klassen 1 bis 8, einmal in der Woche aber leitet er einen Väter-Unterstützungs-Kurs - etwas völlig Neues im Land der Paschas. Hier lernen Väter etwas über Erziehung und Förderung ihrer Kinder, etwa dass man Kinder auch erziehen kann, ohne sie anzubrüllen oder im schlimmsten Fall u ohrfeigen.

    ""Gibt es jemanden, der sein Kind in der vergangenen Woche unter Druck gesetzt hat?","

    fragt der Lehrer sanft. Betreten gehen die ersten Finger hoch:

    ""Wir haben einen neuen Wohnzimmertisch gekauft, und mein Sohn hat gleich Kerben reingehauen, als er Walnüsse knacken wollte. Ich hab ihn angebrüllt ,und er ist weinend rausgelaufen. Mein Frau hat dann gesagt: Na, das hast du wieder prima hingekriegt. Hinterher habe ich es auch bereut, mir fiel dann wieder ein, dass wir zur Hausaufgabe hatten, unsere Kinder nicht so zu behandeln."

    "Herr Lehrer, als ich gestern Abend nach Hause kam, stritten sich unsere beiden Kinder. Meine Frau meckerte die beiden an, und ich hab dann auch noch rumgebrüllt, hab der einen sogar eine kleine Kopfnuss verpasst. Das hätte nicht passieren sollen, ich weiß."

    Die Väter-Unterstützungsgruppe ist Teil eines landesweit einzigartigen Projekts, mit dem die Türkei den Mangel an vorschulischer Erziehung angehen will. Der Istanbuler Stiftung ACEV, eine Abkürzung für Mutter-Kind-Bildungsverein, ist es gelungen, binnen weniger Jahre 300.000 Mütter und Väter in Kursen über die Erziehung ihrer Jüngsten zu beraten. "Mit 7 ist es zu spät", heißt die Kampagne, in der ACEV landesweit mit Fernsehspots dafür wirbt, Kinder schon zu fördern, bevor sie mit sieben Jahren eingeschult werden. Dieses einzigartige Projekt wird unter anderen von der Europäischen Union mit zwei Millionen Euro gefördert. Die Direktorin von ACEV, Derya Akalin:

    "Die Zahl derjenigen Kinder, die eine vorschulische Erziehung bekommen, ist bei uns in der Türkei im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sehr niedrig. In der Altersgruppe der Sechs- bis Vierjährigen sind es gerade einmal elf Prozent! Selbst in Jordanien liegt die Vorschulquote dreimal höher. Der Grund ist in der allgemeinen Einstellung der Türken zu suchen, und die besagt: Kinder gehören in diesem Alter in die Familie, oder genauer gesagt: zur Mutter. Unser Programm will diese Einstellung ändern und die Notwendigkeit von vorschulischer Erziehung vermitteln. Anfangs sind wir in vielen Gegenden von Tür zu Tür gegangen und haben die Mütter überredet, an unseren Kursen teilzunehmen. Mittlerweile haben wir für unsere Kurse Wartelisten, denn die Nachfrage übersteigt das Angebot. Es ändert sich etwas in der Einstellung. Die Erkenntnis, dass vorschulische Erziehung notwendig ist, setzt sich immer mehr durch."

    Staat und Kommunen in der Türkei bieten kaum Kindergärten an, und die große Mehrheit der Bevölkerung kann sich private Vorschulen nicht leisten. So bleibt nur die Ansprache der Eltern. Im Falle der Väter aus dem Kurs in Bayrampascha sind es keine hoch gesteckten pädagogischen Ziele, die der von ACEV fortgebildete Grundschullehrer mit seiner Klasse bespricht. Am Ende der zehn Kursstunden sollen die Teilnehme einsehen, dass Kinder ernst genommen werden wollen, dass sie eigene Bedürfnisse haben, dass sie Ansprache und Anregung brauchen. Einer der Kursteilnehmer ist stolz darauf, dass er schon nach vier Unterrichtsstunden zuhause Fortschritte macht:

    "Ich habe zwei Kinder. Eines ist schon in der fünften Klasse, die Kleine soll demnächst mit der Schule anfangen. Ich mache hier mit, weil meine Frau mich darum gebeten hat . Und ich bin sehr froh, dass ich mich dazu entschlossen habe. Früher wollte ich mit den Kindern nicht einmal raus gehen zum Spielen, ich war immer zu müde oder mir fehlte die Geduld, wenn sie mich darum baten. Aber jetzt weiß ich, dass das wichtig ist, und darum gehe ich jetzt öfter mit ihnen raus, zum Beispiel zum Rummelplatz."