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Nachkriegsarchitektur in Japan

Das Buch "Project Japan" widmet sich der japanischen Architektur des 20. Jahrhunderts. Die Autoren Rem Koolhaas und Hans Ulrich Obrist haben dazu Mitglieder der Metabolismus-Bewegung interviewt und bieten mit zahlreichen Bildern Einblick in das Tokio der Nachkriegszeit.

Von Klaus Englert |
    Als junger Journalist und Drehbuchautor traf Rem Koolhaas 1966 den holländischen Situationisten Constant. Für die "Haagse Post" befragte er den Avantgarde-Künstler zu seiner Großraum-Installation, die ihn über die Landesgrenzen hinaus bekannt machte. Sie heißt "New Babylon" und ist eine auf Stelzen gebaute Stadtlandschaft, die den mobilen Bürger emanzipieren sollte. Dieses Modell einer geschichteten Stadt für die gewandelten Lebensbedürfnisse war der geistige Nährboden für eine neue Architektur-Bewegung. Koolhaas bekannte, "New Babylon", das Experiment aus dem Labor der "Situationistischen Internationale", habe ihn in seiner späteren Architektenlaufbahn stark beeinflusst, da Constants Werk der Architektur neue Dimensionen eröffnete.

    Die Zeit um 1960 war reif für architektonische Aufbrüche, für luftige Gebilde, die sich von der Erdenschwere befreiten. In den Vereinigten Staaten baute Buckminster Fuller sphärengleiche Gebilde und in Deutschland errichtete Frei Otto seine ersten schwebenden Zeltdächer. Rem Koolhaas faszinierte, wie der architektonische Raum plötzlich neu vermessen wurde. Doch der Holländer interessierte sich weitaus mehr für urbanistische Visionen, ihm schwebte vor, zu einem neuen Verständnis von Stadt vorzudringen. Wenn Koolhaas in seinem neuen Buch "Project Japan. Metabolism Talks" über die letzte urbanistische Revolution berichtet, dann kommt er immer wieder auf einen großen Visionär zu sprechen, der Ende der 50er-Jahre Städte in Gestalt von Sandwich-Strukturen bauen wollte. Yona Friedman, ein Franzose ungarischer Abstammung, publizierte 1958 das Manifest "L’architecture mobile" und schichtete im selben Jahr die "ville spatiale" auf – ein Stadtmodell, das aufzeigte, wie sich die Menschen von der Erde befreien sollten. Zwischen den Zeilen von "Project Japan" geistern ständig Constant und Yona Friedman. Sie sind die Stichwortgeber für die jungen japanischen Architekten, die sich als Revolutionäre sahen und sich folgerichtig – nach dem griechischen "metabolé" für "Veränderung" - Metabolisten nannten. Sie amalgamierten Technologie-Euphorie, soziales Engagement und architektonische Fantasie. Rem Koolhaas kommentiert den Stellenwert der Metabolisten:

    "Der Metabolismus war die letzte Bewegung, in der die Architektur als öffentliche Angelegenheit verhandelt wurde. Außerdem gab es einen engen Kontakt zwischen Regierung und Architekten, um ein nationales Projekt zu verwirklichen."

    "Project Japan" dokumentiert ausführlich, welchen Einfluss die Gründungsfigur Kenzo Tange auf die jungen Metabolisten um Arata Isozaki, Fumihiko Maki und Kisho Kurokawa hatte. Isozaki erläutert in einem Interview, dass sich Tange intensiv mit Literatur und der Philosophie Martin Heideggers beschäftigte. Später gründete er ein Forschungslabor, um geschichtete Stadtstrukturen zu erkunden, die das Leben im total übervölkerten Tokio erleichtern sollten. 1960 entwarf der spiritus rector der metabolistischen Bewegung einen Masterplan für die Stadterweiterung über der Bucht von Tokio. Riesige Platten, befestigt an mächtigen Tragwerken, waren dafür bestimmt, neuen Lebensraum für fünf Millionen Japaner bereit zu stellen. Für eine Grundfläche, die größer war als das bestehende Tokio. 13 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki diskutierten hohe politische Kreise einen Vorschlag, der uns heute kaum vorstellbar erscheint: Eine "Atombombe für nicht-militärische Zwecke" – wie es damals hieß - sollte gezündet werden, um einen Berg abzutragen und die Tokioter Bucht mit Erdmassen aufzufüllen. Arata Isozaki sagt heute zu dem Vorhaben und Tanges Tokyo Bay-Plan, die letztlich von der Regierung verworfen wurden:

    "Diese Architekten hegten gegenüber ihren utopischen Vorstellungen keinerlei Skepsis. Sie glaubten lediglich an eine bestimmte Art des Fortschritts. In dieser Hinsicht waren sie zu optimistisch. Sie waren überzeugt von Technologie und Massenproduktion, von planbarer städtischer Infrastruktur und geordnetem Wachstum."

    Die Metabolisten sahen sich herausgefordert, für das dicht bevölkerte und stark zerklüftete Japan neue, gestapelte Stadtstrukturen zu schaffen. Der 25-jährige Kisho Kurokawa, der einzige Star unter den jungen Avantgardisten, ersann helixartige urbane Gebilde, die er über Land und Wasser ausdehnen ließ. Von den Großstrukturen gelangte Kurokawa schließlich zu den endlos addierbaren Kapseln, den minimalen Wohnzellen, die er 1972 in den Tokioter Nagakin Capsule Towers einbaute. Rem Koolhaas ist von den Techno-Strukturen der Metabolisten begeistert:

    "Es fasziniert mich, wie sich in den 60er-Jahren ein bestimmter technologischer Sektor veränderte. Man braucht sich nur an Buckminster Fullers 'Raumschiff Erde' erinnern. In den 60er- und 70er-Jahren drang man zu neuen technologischen Zielen vor: Der erste Mensch landete auf dem Mond, man konstruierte die Concorde. Das gehört zu der von mir erwähnten Mentalität."

    Die Metabolisten glaubten noch an die totale Machbarkeit der Welt. Ihre sozial-technologischen Vorstellungen publizierten sie erstmals in dem Manifest "Metabolism 1960". Im selben Jahr stellten sie ihre Ideen auf der World Design Conference in Tokio zur Diskussion. Die jungen Avantgardisten verlangten für das dicht bebaute und erdbebengefährdete Japan ganz neue städtebauliche Lösungen. Kiyonori Kikutabe wollte die Disaster Prevention City auf sechs Meter hohen Pfeilern errichten, um die Bewohner des meeresnahen Koto vor Naturkatastrophen zu schützen. 1962 beschäftigte sich Arata Isozaki, der damals noch in Tanges Forschungslabor arbeitete, ausschließlich mit raumgreifenden und zukunftsweisenden Projekten. Deswegen schrieb er:

    "Ich werde mich nicht länger mit Architektur auseinandersetzen, die niedriger als 30 Meter ist. Wenn die anderen denken, sie können auf ihre Weise der städtischen Unordnung Herr werden, dann sollen sie es tun"

    1963, nachdem große Teile von Skopje durch ein Erdbeben zerstört worden waren, besann sich die mazedonische Regierung der japanischen Architekten, die sich gezielt mit den Auswirkungen von Naturkatastrophen auseinandersetzten. Sie bat Kenzo Tange und Arata Isozaki, einen Masterplan für ein neues Skopje zu entwerfen. Das Modell eines geschichteten Stadtkörpers - mit verschiedenen Ebenen für Verkehr, Arbeit und Wohnen – war verwegen, und deswegen zum Scheitern verurteilt. Trotz vieler Rückschläge, so Koolhaas in "Project Japan", seien die Metabolisten damals noch von grenzenlosem Fortschrittsglaube beseelt gewesen. Dieser fehle den heutigen Planern und Architekten:

    "Wir alle verfolgen dieselben Ziele: Wir verändern die Welt, indem wir neue Technologien erschaffen. Doch der mit den Zielen verbundene Optimismus ist heute verflogen. Die Metabolisten dachten an die Gestaltbarkeit der Welt. Das ist uns geblieben. Doch ihren Optimismus haben wir verloren. Stattdessen sind wir umgeben von Pessimismus."

    Rem Koolhaas, der für "Project Japan" mit dem Kurator Hans Ulrich Obrist zahlreiche Interviews mit den noch lebenden Metabolisten führte, trauert der letzten modernen Bewegung nach, die eine ganze Nation von 1958 bis 1972 prägte. Es war eine Bewegung von Praktikern und Theoretikern, von Künstlern und Ingenieuren, die dem nomadischen und individualisierten Leben eine neue Form geben wollten. Letztendlich ging es ihnen darum, Stadt noch einmal völlig neu zu denken. Am Ende des Buches berichtet Koolhaas, wie das "Project Japan" zu Ende ging:

    "Architekten und Beamte arbeiteten zusammen, um gemeinsam think tanks, Forschungsprojekte, Baumaßnahmen und visionäre Vorstellungen zu entwickeln. Regierungsvertreter Shimokobe und die Metabolisten waren von der Mission beseelt, ein dezentralisiertes Japan zu schaffen, ebenso ein Tokio, das sich von seinen Begrenzungen befreit. (…) Nach der Expo 1970, nach der Ölkrise 1973, nach den Deregulierungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik in den achtziger Jahren waren der Kooperationsgeist und der grenzenlose Ehrgeiz allmählich verflogen. (…) Im ‚Project Japan’ sammelte sich die Nachkriegseuphorie, die sich daran machte, eine gesamte Nation neu zu gestalten. Dieses Projekt ist vorbei, seitdem der freie Markt entstand."

    Dem "Project Japan" hängt der holländische Architekt Rem Koolhaas noch heute nach, weil er den Glauben in Investorenarchitektur und den marktkonformen Urbanismus längst verloren hat. Heute ist die Abhängigkeit von finanzkräftigen developern der Sargnagel für jede avantgardistische Architektur. Deswegen hat Rem Koolhaas das vermeintliche Erfolgsmodell westlicher Architektur seit langem verabschiedet. Seither blickt er gen Osten, dorthin, wo er die Morgendämmerung einer sich verjüngenden Architektur ausmacht.

    "Seitdem ich die Architektenlaufbahn einschlug, wurde mir zusehends klar, dass die westliche Vorherrschaft enden und die nicht-westliche Architektur ihr Erbe antreten wird. Mein Leben lässt sich als eine allmähliche Hinwendung zum Osten verstehen. Dabei habe ich versucht, Veränderungen anzustoßen und zu beschleunigen."

    Rem Koolhaas und Hans Ulrich Obrist: "Project Japan. Metabolism Talks", Verlag Taschen, Köln 2011, 719 Seiten, 39,90 Euro.