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Nachkriegsdeutschland aus Frauensicht

In ihrem Buch lässt die Publizistin Helga Hirsch neun Frauen zu Wort kommen, die über sich und ihr Leben in der Nachkriegszeit erzählen. Dass sie dabei die Lebensberichte mit eigenen Ausführungen zum Zeitgeschehen mischt, ist ein nicht immer geglücktes Unterfangen, meint die Rezensentin.

Von Andrea Gnam |
    Einen guten Ruf haben sie nicht, die Fünfziger Jahre, auch wenn ihre Formensprache in Architektur und Design inzwischen wieder rehabilitiert ist: Zu eng, von Vorurteilen geprägt und Ausgrenzungen durchdrungen war das private und gesellschaftliche Leben, gerade für Frauen. "Endlich wieder leben! Die Fünfziger Jahre im Rückblick von Frauen" heißt ein Sachbuch von Helga Hirsch. Das Cover ist ein Hingucker: Eine junge Frau im eng anliegenden grünen Sommerkleid, mit weißen Handschuhen, Hütchen und hochhackigen Schuhen überquert eine Straße. Mit der einen Hand schiebt sie einen Kinderwagen mit eleganter, tief liegender Karosserie, an der anderen führt sie einen Hund. Soll das Titelbild mit der forschen, modebewussten Dame auf das berühmte Cover der Beatles anspielen, die einen Zebrastreifen überqueren?

    Fragen tun sich bei der Lektüre des Buches viele auf. Erlebnisberichte von Frauen, die in den Fünfziger Jahren jung waren, wechseln mit Hirschs Beschreibungen der Epoche, welche die Berichte in einen historischen Zusammenhang stellen sollen. Nach welchen Kriterien die Zeitzeuginnen ausgewählt wurden – gleich drei sind Hochschullehrerinnen, nicht gerade ein typischer Karriereweg für eine Frau in Deutschland – bleibt, da es kein klärendes Vor- oder Nachwort gibt, das Geheimnis der Autorin. Ebenso auf welche Weise diese Rückblicke der Zeitzeuginnen zustande kamen: Haben die Autorinnen oder ein Teil von ihnen ihre Lebensberichte selbst aufgeschrieben oder war Helga Hirsch mit einem Aufnahmegerät unterwegs? Hat sie gemeinsam mit den Frauen einen Fragekatalog abgearbeitet oder dem Gespräch seinen Lauf gelassen? Warum lässt sie manche Frauen, deren stereotype Wortwahl oder Selbstgerechtigkeit für die heutigen Ohren doch sehr eigenartig klingen, einfach so reden, ohne das im Kommentar zu hinterfragen oder doch gleich "vor Ort" in der gemeinsamen Begegnung zu mehr Präzision zu kommen? Falls es überhaupt eine solche gab und die Texte oder Bandaufnahmen nicht zugeschickt wurden? Seltsam aus der Zeit gefallen mutet es an, wenn in einem Kapitel, in dem über die Schwierigkeiten für Frauen die Rede ist, wegen des kriegsbedingten Männermangels einen adäquaten Partner zu finden, als Bemerkung der Autorin zu lesen ist:

    "Einigen gelang es immerhin, Ablenkung, vielleicht sogar Befriedigung im neuen oder alten Beruf zu finden und eigenen Interessen nachzugehen."

    Das bleibt in Ton, Geist und Diktion mehr dem Denken der Fünfziger Jahre verhaftet, als für einen erläuternden Kommentar aus heutiger Sicht gut sein kann. So ist die Gemengelage von Lebensberichten und Autorenkommentaren, in die Hirsch zudem noch weitere Fallbeispiele aus der Sekundärliteratur einflicht oder in denen sie Passagen aus Literatur und Film mitunter so nacherzählt als wären es wahre Begebenheiten, zunächst für den Leser in der Fülle der ausgebreiteten Fakten vor allem eines: verwirrend. Dazu kommt, dass zu Beginn des Buches bei Layout und einer Bildunterschrift geschludert wurde: Da bleibt gleich der erste Lebensbericht ohne einführenden Autorenkommentar, aber mit einer zusätzlichen in gesperrten Großbuchstaben gesetzten Überschrift versehen, die im Weiteren stets den Autorenkommentar ankündigt: Hier fehlt er aber einfach. Und eine Bildunterschrift besagt durch eine kleine Verschiebung in der Grammatik genau das Gegenteil von dem, was später im Text zu lesen ist.

    Was also kann man aus dem Buch mitnehmen? Eine wichtige Einsicht für den Umgang mit der NS-Vergangenheit im Westen formuliert die bekannte Hochschullehrerin Christina Thürmer-Rohr gleich zu Beginn:

    "'Nie wieder Krieg' – darüber herrschte Einvernehmen. Aber "Nie wieder Auschwitz" hat damals niemand gesagt. Über die Vernichtung und die Vernichter von Juden, Polen, Zigeuner, Schwulen et cetera wurde nicht gesprochen, Alle waren irgendwie Opfer, es gab keine Täter, jedenfalls keine deutschen Täter."

    Das Buch spricht in der Vielfalt der Stimmen sehr unterschiedliche Aspekte des Soziallebens in beiden deutschen Staaten an, von der "Onkelehe" im Westen und deren finanziellen Hintergründe, über die Stigmatisierung der Kriegerwitwen, Flüchtlinge und deren Kinder bis hin zu den katastrophalen Zuständen in DDR-Gefängnissen. Da ist ein bewegender, unter die Haut gehenden Bericht einer, wie viele andere auch, zu Unrecht einsitzenden Frau zu finden. Sie gebiert im Gefängnis eine Tochter; das Kind wird ihr weggenommen. Nachdem sie Jahrzehnte später die bei Adoptiveltern in der DDR aufgewachsene Tochter ausfindig gemacht hat, lehnt diese sie wegen der vormaligen Gefangenschaft ab.

    In den letzten Kapiteln wird das Buch reflektierter und erscheint umsichtiger, zum Beispiel bei den Überlegungen zur Selbststilisierung der Deutschen als Opfer, die in Ost wie West gleichermaßen zu finden war. Der Genozid ist in der DDR kaum Thema gewesen, wohl aber das Leiden der Widerstandskämpfer:

    "Indem sich die DDR als Nachfolgerin der Widerstandskräfte verstand, katapultierte sie sich auf die Seite der Sieger",

    schreibt Helga Hirsch. Im Westen wie im Osten wurden Lebenslügen aufgebaut, um endlich wieder zu leben – so könnte ein, wenn auch nicht allzu überraschendes Resümee des Buches lauten.

    Helga Hirsch: Endlich wieder leben! Die Fünfziger Jahre im Rückblick von Frauen.
    Siedler Verlag 2012, 287 Seiten, 19,90 Euro