Constanze Pilaski: Frau Borchers, Sie bearbeiten den Nachlass von Edith Gerson-Kiwi am Europäischen Zentrum für jüdische Musik in Hannover. Wie groß ist der Nachlass und was beinhaltet er?
Susanne Borchers: Der Nachlass hat zwei Teile. Zum einen ist es die private Forschungsbibliothek von Edith Gerson-Kiwi. Das sind ungefähr 1.400 Bücher. Dazu kommen Sonderdrucke von Wissenschaftlern, Wissenschaftlerinnen, mit denen sie in Kontakt stand. Und dazu kommen noch Zeitschriftenbände - ein größerer Bestand. Man merkt, dass das ihre Arbeitsbibliothek ist. Viele Bücher haben handschriftliche Einträge von ihr. Manche Bücher hat sie signiert. Wenn es Bücher sind, in denen sie selber veröffentlicht hat, dann hat sie das oft markiert – farbig. Oder sie hat das vorne reingeschrieben, auf welcher Seite ihre Veröffentlichung zu finden ist, oder hat eine Markierung geklebt. Also man merkt wirklich es ist ihre Arbeitsbibliothek.
Pilaski: Welchen Stellenwert hat Gerson-Kiwi in der jüdischen Kultur, können sie das ihrem Nachlass entnehmen?
Borchers: Sie gehört zu den Gründern der Musikwissenschaft in Palästina und Israel. Als sie 1935 in das Land kam, gab es die Musikwissenschaft an den Universitäten noch nicht. Das Fach wird erst Mitte der 60er-Jahre an den Universitäten etabliert. Sie hat zuerst ganz vielseitig gearbeitet, als Musikjournalistin, als Pianistin, Cembalistin, in der Musikerziehung. Sie hat Radiosendungen konzipiert, auch für den Schulfunk. Sie war in Deutschland in der Historischen Musikwissenschaft ausgebildet und hat sich mit alter Musik befasst. In Israel wendet sie sich der Musikethnologie zu. Und zwar durch die Zusammenarbeit mit Robert Lachmann in Jerusalem - seit Anfang 1936 bis 1939 hat sie mit ihm zusammengearbeitet und seine Arbeit später fortgeführt.
"Gerson-Kiwi hat versucht, ganz viel von den Einzeltraditionen zu dokumentieren"
Pilaski: Mit was hat sie sich als Musikwisschschaftlerin unter anderem beschäftigt?
Borchers: Sie hat Aufnahmen erstellt von den Musiktraditionen, die die verschiedenen jüdischen Gemeinschaften mitbrachten. Es kamen ja mit den Einwanderungswellen Juden aus aller Welt nach Israel. Alle hatten ihre eigenen Musiktraditionen durch die Jahrhunderte gepflegt. Und jetzt kamen sie in das Land und es war abzusehen, dass diese Tradition nicht alle halten würden und sich vieles vermischen würde. Sie hat eben versucht, ganz viel zu dokumentieren von diesen Einzeltraditionen.
Pilaski: Beim Forum wird von der Musikethnologin und Komponistin Brigitte Schiffer ein Werk aufgeführt. Kannten sich Gerson-Kiwi und Brigitte Schiffer?
Borchers: Die beiden kannten sich. Es gibt einen größeren Schriftwechsel auch in Ordnern mit Korrespondenz. Seit wann sie sich wirklich kannten, lässt sich daraus nicht wirklich ablesen. Die Korrespondenz, die wir haben beginnt 1968. Sie müssen sich aber schon früher gekannt haben, aber wie lange ist nicht absehbar. Der Ton dieser Korrespondenz ist vertraut und freundlich.
Pilaski: Wissen Sie, was diese beiden Personen sonst noch verbunden hat?
Borchers: Beide waren Pianistinnen, Cembalistinnen, beide haben sich mit Musikethnologie befasst. Beide auch mit Musikpädagogik. Und beide haben ab 1963 in Berlin zusammengearbeitet, an dem Institut für vergleichende Musik-Studien und -Dokumentation, das von Alain Daniélou gegründet wurde. Da haben sie sich auch regelmäßig getroffen.
Pilaski: Was bedeutete für Edith Gerson-Kiwi jüdische Tradition?
Borchers: Sie ist in Deutschland aufgewachsen in einer akkulturierten Familie. Durch die Situation im Nationalsozialismus wurde sie aus Deutschland vertrieben. Sie sah keine Zukunft für sich als Jüdin in Deutschland und hat deshalb das Land verlassen. In Palästina hat sie an der Aufbauarbeit im Land in ihrem Gebiet der Musikwissenschaft, der Musikerziehung mitgewirkt und hat das Land entscheidend geprägt. Die Identität für sie lag sicher in der Musik, darin die verschiedenen Musiktraditionen zu finden. Sie hat den Ansatz verfolgt, durch das vergleichen der verschiedenen Musiktraditionen Informationen zu gewinnen, Rückschlüsse auf die jüdische Musik älterer Zeiten zu ziehen. Eventuell bis hin zur biblischen Zeit. Da stand sie in einer Forschungstradition, die sie weitergeführt hat.
"Ein ganz spannendes Zeitdokument des 20. Jahrhunderts"
Pilaski: Was fasziniert sie an der Arbeit an dem Nachlass von Edith Gerson-Kiwi?
Borchers: Ich sehe den Nachlass als einen ganz spannendes Zeitdokument des 20. Jahrhunderts und Edith Gerson-Kiwi als eine Person mit einer beispielhaften Biografie einer Migrantin, die aus ihrem bisherigen Umfeld gerissen wird, vertrieben wird. Dann in einem neuen Umfeld mit dem, was sie mitbringt, Neues schafft und aufbaut und natürlich ist sie in diesem geschichtlichen Kontext zu sehen - ihre Arbeit und ihr Werk.
Pilaski: Vielen Dank für das Gespräch.