Wir treffen Ahmed in einem Studentenwohnheim in Bonn. Er lebt seit zwei Jahren in Deutschland, er konnte Syrien 2013 verlassen. Kontakt nach Hause hat er jeden Tag, entweder telefonisch oder über das Internet. Sein Vater und seine Geschwister wohnen bis heute in Damaskus, seine Mutter ist vergangenes Jahr dort gestorben.
Der Stadtteil Midan, in dem Ahmed aufwuchs, liegt im Herzen der syrischen Hauptstadt, nur einen Steinwurf von der biblischen Altstadt entfernt. Vor dem Krieg war das Viertel bekannt für seine Restaurants und vor allem für die berühmten syrischen Süßigkeiten, für alle Sorten Baklava, mit Pistazien, Honig und Mandeln. Im Krieg kamen die Gefechte näher, irgendwann verlief die Front fast in Sichtweite von Ahmeds Haus. Eines Tages kam sein Friseur nicht mehr zurück, er war beim Benzinholen erschossen worden. Alltag im Krieg.
"Sie hören jeden Einschlag"
Das Viertel Jarmuk grenzt im Süden an Midan, es ist der Puffer zwischen Zentrum und Vorstadt. Ahmeds Vater wohnt bis heute nur ein paar hundert Meter von Jarmuk entfernt, so wie seine Schwestern und sein Bruder. "Sie hören, wie die Bomben fallen. Sie hören jeden Einschlag", sagt Ahmed. "Das Haus, in dem sie leben, zittert dann. Die Mauern beben. Erst gestern sagte meine Schwester: Es wird immer schlimmer hier." Ein paar Stunden nach unserem Treffen spricht Ahmed auch mit seinem Bruder. Die Sorge um die Familie daheim ist jeden Tag präsent.
Ahmed ist 29 Jahre alt. Als Kind war er oft in Jarmuk. Seine Mutter ging dort auf den Obst- und Gemüsemärkten einkaufen. Romana-Salat, Tomaten, Minze, Zitronen, die klassischen Zutaten für den Damaszener Salat. Der kleine Ahmed trug seiner Mutter die Taschen nach Hause. Und in Jarmuk gab es eine Schule der Vereinten Nationen. Drei Jahre lang ging Ahmed dorthin: "Die Ausbildung war gut, ich hatte viele Freunde", sagt er.
Jarmuk ist längst kein Flüchtlingslager mehr. Es ist ein Stadtteil von Damaskus. Vor dem Krieg, sagt Ahmed, lebten dort hunderttausende Menschen. Die meisten waren Palästinenser, die schon vor vielen Jahren kamen. Sie flohen aus ihrer Heimat, nach den Kriegen mit Israel. Sie blieben in Damaskus, viele sind hier geboren. Aber in Jarmuk lebten schon vor dem Krieg auch Syrer. "Die Menschen haben sich gut verstanden", sagt Ahmed. "Damals war es egal, ob Du Sunnit warst oder Alawit." Das ist heute anders.
In Jarmuk gab es feine Modegeschäfte
Palästinenser sind Geschäftsleute - so ist Ahmed auch Jarmuk in Erinnerung geblieben. "In dem Viertel gab es vor dem Krieg viele teure Modegeschäfte. Alle internationalen Marken. Für so einen Laden musstest Du als Geschäftsmann eine Million Euro hinlegen", erzählt Ahmed. Begonnen hat der Handel vor vielen Jahren: "Früher war das hier ein Bauchladen", sagt er und lacht. "Es waren erst kleine Geschäfte, und dann wurde das größer und hat sich immer weiter entwickelt. Bis 2011 konntest Du in Jarmuk alles kaufen, Benetton, Boss und Adidas." Gefälscht? "Nein, die Sachen waren echt." Noch 2010 verbringt Ahmed Abende mit Freunden im Café in Jarmuk. Ein Stadtteil wie viele andere, trotz seiner besonderen Flüchtlingsgeschichte.
Jetzt, 2015, ist Frühling. Die Lage in Jarmuk ist hoffnungslos. Die syrische Armee kesselte das Viertel vor langer Zeit ein, niemand konnte mehr hinein oder heraus. Nach den Demonstrationen 2012 gegen das Assad-Regime begannen die Kämpfe. Sie waren von Anfang an unübersichtlich. Beteiligt waren die Rebellen der Freien Syrischen Armee - eine Truppe aus Deserteuren und Freiwilligen. Hinzu kamen verschiedene bewaffnete, palästinensische Gruppen. Eine ist etwa die "Beit al-Makdis", die der Hamas nahesteht. Auch die islamistische Nusra-Front mischt mit. Sie steht Al-Kaida nahe.
Doch die Welt schaute erst nach Jarmuk, als vor einigen Wochen die Terroristen des sogenannten "Islamischen Staates" in das Stadtviertel stürmten, möglicherweise mit Schützenhilfe der Nusra-Front. "Keiner weiß genau, was jetzt in Jarmuk geschieht", sagt Ahmed. "Der IS behauptet, den größten Teil des Viertels zu kontrollieren." Wie viele Menschen sind noch in Jarmuk? Vielleicht 15.000 Palästinenser, aber Ahmed hat gehört, dass auch noch 30.000 Syrer dort leben. 45.000 Menschen, eingekesselt.
"Sie essen heißes Wasser mit Gewürzen"
Für die Bevölkerung wird die Situation von Woche zu Woche schwieriger. "Die Leute haben fast nichts zu essen", sagt Ahmed. "Heute kochen sie Wasser mit Gewürzen." Es kommen kaum noch Hilfslieferungen durch. Wer konnte, ist geflohen. Eine unerträgliche Lage: Jarmuk ist ein Todeslager geworden. So sagt es UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon, und der ist sonst eher spröde im Ausdruck.
Jarmuk macht Angst über die Grenzen des Viertels hinaus. Die Menschen im Stadtzentrum weiter nördlich befürchten, dass der IS sich einen Weg in die Innenstadt bomben könnte. Die Taktik, mit Selbstmordanschlägen den Weg an Kontrollpunkten freizusprengen, ist schrecklich bekannt. Die Angst, sagt Ahmed, führt zu paradoxen Reaktionen: "Die Menschen in Damaskus sind im Moment tatsächlich dort zufrieden, wo Assad noch die Macht hat. Denn dort gibt es Wasser und Brot, und die Lage ist ruhiger."
"Bitte, lasst uns zurück zu den Juden"
Er klickt auf seinem Laptop. Der Stadtplan von Damaskus erscheint. Er zeigt hierhin und dorthin, zeigt, wo seine Verwandten leben und auf welchem Hausdach die Armee ihre Kanonen positioniert hat. Ahmed bekommt regelmäßig neue Informationen aus Jarmuk, er folgt im Internet mehreren Medien-Aktivisten, die dort zu überleben versuchen. Es gibt bei Facebook eine Reihe von Quellen, nur verifizieren lassen sich die Berichte selten. "Sie sagen, dass der IS die Menschen dazu zwingt, fröhliche Filme zu machen. Sie sollen zeigen: Es ist gut, dass der IS gekommen ist." Es gibt auch Berichte, nach denen der IS an einigen Stellen in Jarmuk die Flagge der Nusra-Front gehisst hat. Manche spekulieren, dass der IS bald wieder abziehen und den Islamisten der Nusra die Kontrolle überlassen will.
Für die Menschen in Jarmuk ist das einerlei: Sie leben zwischen den Fronten, zwischen Armee und IS und Nusra - und den verschiedenen Palästinensermilizen, die sich auch nicht einig sind darüber, was getan werden kann und mit wem man sich verbündet. Die Verzweiflung der Palästinenser, die seit Jahrzehnten in der syrischen Hauptstadt leben, ist grenzenlos. Nichts könnte das deutlicher machen als ein Video, das Ahmed auf Facebook gesehen hat. Wir schauen uns den Film zusammen an. Überprüfen können wir die Aufnahme nicht. Aber sie könnte authentisch sein: Ein älterer Palästinenser spricht in die Kamera. Er hält seinen UNO-Ausweis von 1948 hoch und sagt: "Wir sterben vor Hunger. Bitte, lasst uns zurück zu den Juden. Lasst uns dorthin zurück. Das war nicht so schlimm wie die Lage in Jarmuk."