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Nachrichtenschmelze im Kopf

Wir leben in tumultuarischen Zeiten: Eingebunden in komplexe Spielwiesen wie Facebook und Youtube, überschüttet von allerlei Bilder- und Nachrichtenfluten, Risiko- und Katastrophenmeldungen - wem ist es da zu verübeln, wenn ihm die Sinne versagen?

Von Burkhard Müller-Ullrich | 22.03.2011
    Viele Dinge haben nichts miteinander zu tun. Krieg und Erdbeben zum Beispiel. Oder Gadaffi und Tsunami. Aber in unserer Wahrnehmung kommen ganz unterschiedliche Übel zusammen und dann droht so etwas wie eine Nachrichtenschmelze. Dann stellt sich die Frage, ob unser psychischer Reaktor für solche Druck- und Hitzegrade ausgelegt ist.

    Leider kann man sich nicht das, was jetzt zu viel ist, für ruhigere Zeiten aufheben, fürs Sommerloch zum Beispiel. Jedenfalls erleben wir gerade das Gegenteil: eine Winterfülle an Informationen der bedrückenden Art – erst zwei Naturkatastrophen in Japan, dann ein Atomunfall und jetzt auch noch neue Kampfeinsätze an einer neuen Front.

    "Historical overdosing", würde Douglas Coupland, der Autor von "Generation X", sagen. Wir leben in einer Zeit, in der allzu viel zu passieren scheint. Ein Effekt ist: Die Menschen werden süchtig nach Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehnachrichten. Das Gegenteil davon heißt: "Historical Underdosing". Es scheint nichts los zu sein. Hauptsächliches Symptom: Die Menschen werden süchtig nach Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehnachrichten.

    Verschiedene Völker haben verschiedene Methoden mit dem durch Overdosing ausgelösten Seelenalarm, auch Panik genannt, umzugehen: Die Franzosen neigen zu revolutionärer Gewalt, die Engländer reagieren mit einer Doppelstrategie aus phlegmatischer Erscheinung und reaktiver Schnelligkeit, die Amerikaner mit ihrem naturgegebenen Neuanfangsoptimismus. Die Deutschen fragen nach der Haftungspflicht und beruhigen sich am ehesten, wenn sie den Opfern jedweden Geschehens nachweisen können, dass sie selber schuld sind.

    Es gibt nur wenige Zeitgenossen, die von der Massierung des öffentlichen Schreckens profitieren: Das sind all jene, die ihrerseits eine schlechte Nachricht zu verkünden haben. Massenentlassungen beispielsweise. Wer welche plant, sollte sie rasch durchziehen. Die Aufregung darüber geht garantiert in der allgemeinen Aufregung unter.

    Am Tag nach dem Tsunami wurde mit Zustimmung der Bundeskanzlerin auf einer Sitzung in Brüssel beschlossen, dass Deutschland statt mit bislang 123 Milliarden Euro nun mit 200 Milliarden für die EU-Pleiteländer einzustehen habe. Die hochbrandende Atomdebatte war da geradezu ein Glücksfall für die Regierung.

    Unser Gehirn ist bekanntlich nur beschränkt aufnahmefähig. Die Notabschaltung bei Reizüberflutung funktioniert auch nicht immer zuverlässig. Bei Erhitzung kann man versuchen, die Abklingbecken mit guten Nachrichten aufzufüllen. Unkontrollierbare Kettenreaktionen kommen im Gehirn zwar auch vor, aber sie sind selten. Es fehlt meist an der kritischen Masse.