Ein Mitarbeiter in Frei Ottos "Entwicklungsstätte für den Leichtbau" in Berlin Zehlendorf erzählte einmal, wie er seinem Chef einen Gefallen tun wollte. Er putzte das schon reichlich verwitterte, von weißen Korrosionsschichten überzogene Firmenschild aus Aluminium wieder blank. Aber: Frei Otto freute sich nicht, er schimpfte. Seit Monaten hatte er das Wirken der Natur am künstlichen Stoff beobachtet und nun tilgte ein Banause diese interessanten Spuren! Der Mitarbeiter versuchte, den Fauxpas wieder gutzumachen, indem er sich hingebungsvoll in die Kraftlinien der Deckenbalken für den deutschen Pavillon hineinversetzte und das Modell schön wie einen menschlichen Knochen modellierte.
Mit diesem Pavillon zur Weltausstellung von Montreal begann 1967 nicht nur die internationale Karriere des Ingenieur-Architekten Frei Otto, sondern auch die seines Mitstreiters Behnisch, dessen Zeltkonstruktionen - wie zum Beispiel die zur Münchner Olympiade 1972 - meist auf Modellversuche und Berechnungen von Frei Otto zurückgingen. Der war studierter Architekt, aber doch so sehr Konstrukteur, dass er einmal einen öffentlichen Dialog mit dem römischen Kollegen Paolo Porthoghesi verweigerte. Auch Porthoghesi hatte für sich auch die Organologie und Bionik als Grundlage der Gestaltung entdeckt, aber doch eher, wie Otto monierte, in einem neobarocken, dekorativen Sinne. Während seine, Frei Ottos, plastische Gestaltungen, präzise den Aufbaugesetzen der Natur folgten. Schon seit den frühen 60ern hatte er am Lehrstuhl Hans Poelzigs die Studenten mit Beispielen versorgt wie dem vom Grashalm, der sich millionenfach, aber unbeschadet im Wind bewegt; mit Schnitten durch Knochen und Veranschaulichung der tragenden und lastenden Materialen, der Druck- und Zuglinien - zu einer Zeit, als noch rein formal über den spitzen Winkel bei Scharoun gegen das Rechteck aus der Mies-Schule gestritten wurde. Frei Otto galt hier als bunter Vogel, den man sich aber im Unibetrieb der 60er großmütig leistete.
"Damals galt der Zeltbau nicht als Architektur, er galt so als Hinterhofarchitektur."
Frei Otto verfolgte seinen Weg unerschütterlich weiter, eine Berufung an die TU Stuttgart und die Gründung des "Instituts für leichte Flächentragwerke" erschlossen ihm die nötigen Ressourcen für die systematische Forschung. Die Energiekrise Mitte der 70er-Jahre, der Bericht des Club of Rome bestärkten ihn im unermüdlichen Suchen nach Einsparmöglichkeiten in den Konstruktionsweisen, die das Bauwesen, im Gegensatz zum Flugzeugbau, bis heute auszeichnen. Im Bauwesen sichert man sich zigfach ab, Säulen und Träger sind mehrfach dicker als sie sein müßten. Frei Otto setzte dagegen: Mit besserer Kenntnis der Materialeigenschaften und der unterschiedlichen Zug- und Druckpotenziale von Stahl, Beton, Netzen, Textilflächen und Hölzern seien diese Verschwendungen zu vermeiden - und man fände sogar zu einer neuen Ästhetik, die mit der Schönheit der Pflanze und des Spinnennetzes konkurrieren könnte.
"Es geht eigentlich in der lebenden Natur hauptsächlich darum, wer kann mit geringerer Masse eine größere Kraft ausüben - das ist der Stärkere. Oder wer kann schneller weglaufen, auch weil er geringere Masse hat und so die Frage mit geringem Aufwand an Material, ist die Schlüsselfrage.
Als Umweltschutz, Ressourceneinsparung, intelligente Konstruktionen Mainstream wurden, war Frei Otto schon da: Der Mann, der das neue Minimalprodukt auch berechnen und realisieren konnte. Aus der peniblen Modellarbeit mit Seifenblasen über Drahtmodellen, mit Hängekonstruktionen, die versteift und umgedreht wurden entstanden die berühmten zeltartigen Dachkonstruktionen und frei geformten Kuppeln. Aber nicht nur die Multihalle in Mannheim, die Vogelvoliere im Münchner Tierpark, ein Konferenzzentrum in Mekka gingen aus dem Stuttgarter Institut hervor, sondern auch Modelle für flexible, rasch zu montierende Häuser und Shelter aus einheimischen Materialien in Drittweltländern. Freilich musste auch an den Zelten immer weiter experimentiert werden, denn durch aufwendige Sicherheitsverstärkungen erschien im Endergebnis doch oft schwerfälliger, was im Modell noch so federleicht gewirkt hatte.
Vom Modell hielt Frei Otto übrigens immer viel mehr als vom Computer.
"Der Architekt, wenn er an solchen Modellen arbeitet, dann bekommt er ein Verständnis für den Bau. Ich hab einmal gesagt, ein Architekt sollte mit verbundenen Augen seinen Bau selbst begehen können. Er sollte so drinstehen, dass er ihn begreift."
Heute bedienen sich die aktuellen Architekturströmungen wie selbstverständlich der computergenerierten mehrfach gekrümmten Oberflächen der Otto’schen Erfindungen, oder vielmehr: Findungen. Das frühe Wagnis ist zum architektonischen Erbe geworden.