Seinen letzten großen Auftritt verfolgte buchstäblich die halbe Welt, und zwar live, wie er vor dem Finale der Fußball-WM 2010 durch das Stadion gefahren wurde mit Pelzmütze und Wintermantel auf einem Golfmobil. Mit tosendem Vuvuzela-Lärm begrüßt, mit stehenden Ovationen bejubelt. Die WM nach Afrika zu holen, war seine letzte Mission, sagte Mandela. Er hat sie erfüllt. Und als es bei der FIFA in Zürich nach Jahren der Enttäuschung endlich verkündet wurde, da jubelte er: Ich fühle mich wie ein junger Mann mit 50.
“Well, I feel like a young man of 50"
Zu Hause wurde er gefeiert wie ein Popstar, ein Vorbild, ein Ideal, eine Symbolfigur, eine lebende Ikone, ein Heiliger fast. Kinder fangen zu schreien an, alten Frauen schießen Freudentränen in die Augen, standfesten Männern bleiben plötzlich die Worte weg, wenn er auftaucht. Wie hier an seinem 90. Geburtstag in Kliptown, Soweto.
Auf der Bühne steht dann wie immer ein Ohrensessel für ihn bereit. Ein Markenzeichen für die letzten Auftritte Mandelas. Immer erreicht er ihn nur unter Mühen, von seiner Frau Graca Machel gestützt, oder seiner Assistentin, der kräftigen Burin Zelda La Grange. Jeder leidet mit im Saal. Aber mit einem Kalauer vertreibt er sofort jeden schon trauerumflorten Gedanken:
"Einen realen 90Jährigen zu sehen, scheint eine unwiderstehliche Versuchung zu sein.“
Typisch Mandela! So hat er die halbe Welt gewonnen. Der Jazz-Musiker Sipho Hotstix Mabuse spielte mal in London für Mandela und seine Freunde? Bill Clinton, Morgan Freeman, Oprah Winfrey. Präsidenten wie auf einer Hühnerstange.
"All diese Größen. Die mächtigsten Männer der Welt. Die bekanntesten Künstler. Aber glaubt mir: In seiner Gegenwart wurden alle gleich.“
Zeitzeugen: Nelson Mandela hatte eine magische Energie
Es gibt seriöse Zeitzeugen, sogar Journalisten, sie beschwören nach einem Händedruck Nelson Mandelas eine magische Energie verspürt zu haben. Wenn es denn nur so einfach gewesen wäre, dann hätte Nelson Rohlihlahla Mandela sicher noch ein paar Hände mehr geschüttelt bis zu seinem Tod. Das macht ihn aus, Mandela, der sich wie kein Zweiter in der Welt das Recht herausnahm, George W. Bush für seine Irak-Strategie zu kritisieren und einen Dummkopf zu nennen. Nicht immer war er der Grandseigneur, der Elder Statesman, der höfliche Moralapostel mit dem mahnenden Zeigefinger. Er konnte auch richtig grantig sein, bestätigen die Frauen, die ihm am nächsten waren: Assistentin Zelda La Grange und Ehefrau Graca Machel. Dickköpfig sei er gewesen.
"Aber was heißt das schon, wenn man ihn als Sturkopf beschreibt, das ändert doch nichts. Was er für sein Land getan hat, für Afrika, für die Welt, das ist viel, viel wichtiger als die Feststellung, dass er dickköpfig ist.“
So sahen ihn die Südafrikaner: als Ehrenmann, als lächelnden Großvater der Nation, als charmanten Bezirzer mit einer unter Politikern seltenen Gabe: Selbstironie. Sie müssen wissen, sagt er, als er eine Frage nicht richtig versteht, ich bin schon über 100 Jahre alt.
“You must remember? 100 years old."
Und schon hat er jeden Saal gewonnen. Immer gut für einen Kalauer und auch im hohen Alter noch Manns genug, um jungen Reporterinnen die Schamesröte ins Gesicht zu treiben.
“Just come closer“
Mandela und seine Schwäche für Frauen
Kommen Sie doch mal etwas näher, sagt er bei einer Pressekonferenz zu einer jungen Fernsehreporterin, die gerade ihren ganzen Mut aufgebracht hat, um im dicht gedrängten Pressepulk die Eröffnungsfrage zu stellen.
“I prefer to come closer."
Ich bevorzuge es, wenn junge Frauen nah herankommen, sagt er breit grinsend, und die Nachwuchsjournalistin läuft knallrot an. Er hatte eine Schwäche für Frauen, kein Zweifel. Für Models, Schönheitsköniginnen, Sängerinnen und Hollywood-Starlets fand er immer noch einen Platz im Terminkalender, und wenn die Naomi Campbells, Spice Girls und Charlize Therons dieser Welt auch noch ein karitatives Anliegen vorbringen, umso besser. Mandela begleiten viele Frauengeschichten.
Sie beginnen mit einer Winnie, aber nicht der Winnie, vor fast 80 Jahren, die sich viele Jahre später erinnert, dass er bei seinem Antrittsbesuch kaum mit Messer und Gabel umgehen konnte. Den Freundinnen soll bald eine standesgemäße Ehe folgen, aber Rohlihlahla, der Problememacher, wie sein afrikanischer Name übersetzt wird, geht vor dem arrangierten Bündnis auf die Flucht.
1940 taucht er in Johannesburg auf, um im Fernstudium sein Jura-Examen zu machen. In dem Hinterhof im Township Alexandra, wo er wohnte, erinnert sich die zehn Jahre jüngere Gladys Mthetho noch heute genau, wie eitel der Student Rohlihlahla seine Schuhe wienerte. Vor allem aber, wie er ihre hübsche Tante Didi umgarnte.
Seine erste Ehe mit Evelyn Ntoko Mase fällt mit seinem Beitritt zum ANC zusammen und hält seinen politischen Ambitionen nicht stand.
1948 kommt die National Party (NP) der Buren an die Macht und baut kontinuierlich die Rassentrennung aus. Die Apartheid wird zur Staatsdoktrin.
1952 eröffnet Mandela mit seinem Studienfreund Oliver Tambo das erste schwarze Anwaltsbüro Südafrikas.
1956 steht er das erste Mal vor Gericht, wegen Hochverrats, muss aber freigesprochen werden. In dieser Zeit lernt er die schöne Sozialarbeiterin Nomzamo Winnifred Madikizela kennen. Winnie ist selbst kämpferisch engagiert und steht auch während des Prozesses in jeder Hinsicht zu ihm. Ihre beiden Töchter, Zenani und Zindzi, werden in dieser Zeit gezeugt.
1961 baut er, der spätere Friedensnobelpreisträger, den militärischen Flügel des ANC auf, Umkonto we Sizwe, Speer der Nation. Taucht unter, muss sich verstecken, unter anderem auf der Lillisleaf-Farm am Rande von Johannesburg.
Aus Nelson, dem Staatsfeind, wird David, der Gärtner. Heute ist Liliesleaf ein Gästehaus und Manager Nick Wolpe dessen Vater, ein Kampfgefährte Mandelas, hier ebenfalls Zuflucht fand, glaubt trotz aller Sabotage- und Widerstandspläne, dass Mandela im Herzen schon damals eher Pazifist war.
"Eines Tages stand Nelson hier mit seinem Luftgewehr und Hazel Goldreich, die Hausherrin, zog ihn auf, dass er ja doch nie was treffen würde. Da war Nelson wohl in seiner männlichen Ehre gekränkt und dachte sich, der werde ich es zeigen. Und dann hat er sehr zu seinem eigenen Erstaunen einen jungen Vogel abgeschossen. Neben ihm stand der jüngste Sohn des Hauses, der fünfjährige Paul. Der fragte Nelson: Wie sich die Mama von dem Vogel jetzt wohlfühlt? Nelson erzählte viel später, als er 1991 zum ersten Mal nach seiner langen Gefangenschaft wieder hierher kam, dass diese Bemerkung ihn sehr beeinflusst hat und dass er sich danach geschworen hat, niemals das Leben eines anderen Lebewesens zu beenden.“
Ein toter Vogel als Angelpunkt der Geschichte? Kaum zu glauben, aber es gibt unzählige solcher, eher beiläufiger Anekdoten, die den Mythos Mandela formen.
1962 wird Mandela erneut verhaftet und zu fünf Jahren Haft verurteilt. Er ist 44 und kommt nicht mehr frei, bis er 71 ist. Im berühmten Rivonia-Prozess werden ihm als Hauptangeklagten 150 Sabotageakte angelastet. Der Anwalt Mandela verteidigt sich selbst.
Mandelas Rede wird zum Vermächtnis einer ganzen Generation
"Ich habe gegen weiße Vorherrschaft gekämpft. Ich habe gegen schwarze Vorherrschaft gekämpft. Ich habe dem Ideal einer demokratischen und freien Gesellschaft gedient, in der alle Menschen harmonisch zusammenleben mit den gleichen Lebenschancen. Das ist ein Ideal, für das ich zu leben hoffe. Es ist ein Ideal, für das ich, wenn es sein muss, aber auch zu sterben bereit bin.“
Seine Rede geht um die Welt, wird zum Vermächtnis einer ganzen Generation. Doch das Gericht gibt sich unbeirrt. Am 11. Juni 1964 spricht Richter Quartus de Wet das Urteil: Lebenslänglich.
“In the constistence…life imprisonment"
18 Jahre verbringt Mandela auf der Strafinsel Robben Island vor Kapstadt, auf die schon die Holländer renitente Sklaven verbracht hatten. Mandela, von dem kein Foto mehr an die Öffentlichkeit gelangt, wird zum berühmtesten Gefangenen der Welt.
Gezielt baut der ANC Winnie Mandela und später auch ihre beiden Töchter Zindzi und Zenani zur hübschesten PR-Kampagne der Welt auf. Im Gefängnis auf Robben Island, später in Kapstadt, dann als Luxusgefangener mit eigenem Haus, Pool und Koch in der Nähe der Weinstadt Paarl, zieht Mandela sogar die Wärter in seinen Bann. Der eine bäckt ihm Weihnachtskuchen, der andere, Donald Carter, nimmt heimlich seine Tagebücher an sich:
"Mir war klar, dass es sich um bedeutende Dokumente handelt, die leicht vernichtet werden könnten. Und ich wusste auch, dass sie niemand bei mir vermutete. Bei mir waren sie sicher.“
33 Jahre später gibt Carter die Tagebücher zurück. Mandela nimmt es mit dem ihm typischen versöhnlerischen Humor.
"Was Sie hier gerade erlebt haben, könnte man beschreiben als: alter Mann übergibt anderem alten Mann zwei alte Tagebücher.“
Frei kommt Mandela erst 1990, als 71-Jähriger, als der letzte weiße Präsident Südafrikas, Frederik de Klerk, endlich keine Vorbedingungen mehr für die Entlassung stellt.
“I wish to put…unconditionally"
Das Volk ist außer sich, als der hochgewachsene, hagere, aufrecht gehende Mandela Hand in Hand mit Winnie aus dem Gefängnis schreitet und noch am selben Tag sein 26 Jahre altes Vermächtnis vom Rivonia-Prozess wiederholt:
“I have fought against white domination…"
Noch ist das Bild des Traumpaares Nelson und Winnie intakt, auch wenn er ihr, eher im Spaß, schon an diesem Tag mit Scheidung droht. Nelson Mandela will bei seiner Rückkehr sein Lieblingsessen auf dem Tisch haben, wie sich seine Tochter Zindzi Mandela im ARD-Interview erinnert:
"Meine Mutter macht ein Nudel-Hackfleischgericht mit mehreren Lagen Pasta und Gehacktem, ziemlich scharf. Für meinen Vater standen die Schichten auch immer für ihre verschiedenen Seiten, sie ist ja sehr temperamentvoll, und schon eine kleine Portion kann einen ziemlich satt machen. Er hat sie damit aufgezogen: Wenn bei meiner Heimkehr keine Pasta auf dem Tisch steht, lass ich mich scheiden.“
Scheiden lässt sich Mandela nach langem Zögern erst 1996. Winnies Vorgeschichte, ihre kriminellen Aktivitäten und wohl auch ihre Affären, scheinen ihm das Herz zu brechen.
"Ich hoffe, Sie haben Verständnis für meinen Schmerz, sagte Mandela und beendet die kürzeste Pressekonferenz seines Lebens.“
Es ist nicht die einzige private Niederlage
Drei seiner sechs Kinder sind gestorben, darunter beide Söhne. Einer war gerade 22 Jahre alt, 1969, er kam bei einem Autounfall ums Leben. Mandela saß da schon Jahre hinter Gittern. Der älteste Sohn, Magkato, ein zurückgezogener aber erfolgreicher Anwalt, starb erst vor wenigen Jahren an Aids. Auch eine Tochter starb und die zweite, Tochter Maki aus erster Ehe, wurde nie richtig warm mit ihm. Er war der Vater für die ganze Welt, sagt sie einmal, aber nicht für mich. Sie hat ihn kaum gekannt. Auch das Verhältnis zu Tochter Zenani war deshalb lange angespannt. Schwester Zindzi dagegen hat zu ihrem Vater, der viele Jahre nur ein Phantom war, in seinen letzten Lebensjahren zurückgefunden. Gern erinnert sie sich, wie sie ihn anstelle der First Lady ins Weiße Haus begleiten durfte und der Papa ihr richtig peinlich war, wegen seiner Tischmanieren.
"Er hat doch wirklich sein Brot in den Haferbrei getunkt, wie das wohl im Gefängnis einige Häftlinge machen. Eine sehr eigenartige Angewohnheit, gerade wenn man Staatsgast ist. Wir haben gefrühstückt, im berühmten Blair House, dem Gästehaus des Präsidenten, und er tunkte doch tatsächlich wieder sein Brot in die Haferflocken.“
Seine dritte Frau, Graca Machel, Witwe des früheren mosambikanischen Präsidenten Samora Machel, sieht großzügig über seine Marotten hinweg. Mit ihr findet er seinen familiären Frieden wieder. Sie berät ihn, ist seine Freundin. Mandela hält um ihre Hand an, zahlt den traditionellen Brautpreis in Kühen, heiratet sie 1998 an seinem 80. Geburtstag.
“He was very lonely….could give him back."
"Er war sehr einsam, damals. Und nach all den Jahren im Gefängnis hatte er sich nicht so sehr nach dem Glanz einer Politikerkarriere gesehnt. Er wünschte sich vor allem ein normales Familienleben. Und das, wenn ich das in aller Bescheidenheit sagen darf, habe ich ihm zurückgegeben.“
Kurz nach der Hochzeit zieht sich Mandela endgültig zurück, 1999 aus der Politik und 2003 auch aus dem öffentlichen Leben:
Mandelas Rückzug aus der Öffentlichkeit
"Wir hoffen, dass die Menschen Verständnis für unsere Entscheidung haben und uns die Möglichkeit für ein deutlich ruhigeres Leben eröffnen. Wir danken Ihnen schon jetzt für Ihr Entgegenkommen. Rufen Sie mich nicht an. Ich rufe Sie an.“
Seither ist er nur noch bei Benefizveranstaltungen zu sehen und auf Videobotschaften. Die wenigen Gäste, die ihn besuchen dürfen, sucht er sich aus. Fußballer gehören dazu, Schauspieler, ausgewählte Politiker. Auch Angela Merkel wird 2007 von ihm empfangen.
"Es war ein sehr bewegender Moment, Nelson Mandela zu erleben und mit ihm zu sprechen. Und seine große Botschaft heißt, wir brauchen Frieden auf der Welt, und die Konfliktlösung muss friedlich erfolgen. Und ich glaube, die vielen Konflikte, die wir auch auf dem afrikanischen Kontinent haben, zeigen uns, dass dies der richtige Weg ist, und wir sollten seine Botschaft beherzigen.“
Seiner Partei, dem Afrikanischen Nationalkongress (ANC) bleibt er loyal ergeben. Auch als sie sich im Machtkampf zwischen seinem Nachfolger Thabo Mbeki und dessen Rivalen Jacob Zuma fast spaltet. Sein Enkel, Mandla Mandela, der als Häuptling und Parlamentsabgeordneter Anspruch auf sein politisches Erbe erhebt, gilt als Zuma-Unterstützer. So sieht man auch Opa Nelson Rohlihlahla vor der Wahl auf zwei Kundgebungen im Zuma-T-Shirt. Ein Triumph für den neuen Mann.
Man hätte gern ein offeneres Wort gehört von Väterchen Tata Madiba bei seiner letzten öffentlichen Rede 2008 vor Hunderten Geburtstagsgästen. In Soweto belässt er es bei einer knappen und allgemeinen Kritik. Sein Credo formuliert er anders:
"Wenn ein 90-Jähriger aus dem heutigen Anlass einen ernsthaften Rat geben darf, dann sollten Sie, unabhängig von Ihrem Alter, menschliche Solidarität, Mitgefühl für andere, zum Leitmotiv ihres Handelns machen.“
2010 erscheint eine intime Mandela-Biografie
Im WM-Jahr 2010 erscheint eine ungewöhnlich intime Mandelabiografie mit Tagebuchaufzeichnungen und Interviews, die seine Tochter Zindzi und ein enger Kampfgefährte führen. Sein größtes Anliegen ist, dass er als Mensch gesehen wird, und nicht als Heiliger in die Geschichte eingeht. Die Welt wird es ihm nicht leicht machen damit. Sie stellt ihn schon jetzt, kurz nach seinem Tod, in eine Reihe mit Mahatma Gandhi oder Martin Luther King.