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Nachruf auf Manoel de Oliveira
Ein Meister der Verfremdung

Der Portugiese Manoel de Oliveira wurde oft der älteste aktive Filmregisseur der Welt genannt. Seine Karriere begann in der Stummfilm-Ära, aber er war bis zuletzt aktiv. Insgesamt schuf de Oliveira mehr als 50 Spiel- und Dokumentarfilme. 2004 bekam er in Venedig den Goldenen Löwen für das Lebenswerk. Jetzt ist er mit 106 Jahren gestorben.

Von Josef Schnelle | 02.04.2015
    Der portugiesische Filmregisseur Manoel de Oliveira im Jahr 2010
    War mitunter für seinen hintergründigen Humor bekannt: Manoel de Oliveira (picture alliance / dpa / Ian Langsdon)
    In Wim Wenders Liebeserklärung an Lissabon, "Lisbon Story", hatte der Regisseur Manoel de Oliveira 1995 einen denkwürdigen Auftritt als Darsteller und nutzte die Gelegenheit, seine Kinotheorie zu erläutern. Seine Stimme hat das Timbre eines Predigers, seine Augen glühen durch die dicken Brillengläser hindurch, und am Ende wackelt er durch die Straßen Lissabons wie Charlie Chaplin mit dem Stöckchen. Es geht um das Generalthema seiner Filme: den Zweifel an einer verlässlich dokumentierbaren Wirklichkeit.
    "Die einzige Wirklichkeit ist die Erinnerung. Aber die Erinnerung ist eine Erfindung. Leben wir doch sowieso in beständigem Zweifel, und doch stehen wir erstaunlicherweise mit beiden Beinen auf der Erde und genießen das Leben."
    Das hat der Sohn einer großbürgerlichen Familie aus Porto gründlich getan. Als Erbe der väterlichen Fabrik und durch seine Heirat auch noch Großgrundbesitzer vertrieb er sich die Zeit mit Automobilsport, war ein gern gesehener Gast an den Stammtischen der Bohème. Noch viel lieber ging er ins (noch stumme) Kino, kaufte sich auch eine Kamera zum Zeitvertreib und war dann sogar 1934 der Star als Darsteller im ersten ausschließlich in Portugal hergestellten Tonfilm "Das Lied von Lissabon", Regie: Cotinelli Telmo. Zu dieser Zeit hatte er aber schon selbst seinen ersten Film gedreht, geschnitten und produziert. "Harte Arbeit am Douro-Fluß" war 1931 ein stummer Dokumentarfilm über die Menschen am rechten Flussufer in Porto. Nach seinem ersten Spielfilm "Aniki - Bóbó", einer Dreiecksliebesgeschichte zwischen Kindern, hagelte es 1942 in Salazars Portugal heftige Proteste wegen der angeblichen Amoralität des Films.
    "Vale Abraào" - die portugiesische Madame Bovary
    Manoel de Oliveira zog sich daraufhin fast 20 Jahre lang vom Film zurück. Bis er 1963 mit "Acto da Primavera", der Filmversion eines mittelalterlichen Mysterienspiels, wieder auf sich aufmerksam machte. Seine wichtigsten Filme entstanden aber ab 1972, darunter Titel wie "Das Verhängnis der Liebe" von 1978 und 1985 die siebenstündige Verfilmung von Paul Claudels Drama "Der seidene Schuh", die Kultstatus erreichte. Manoel de Oliveiras Filme waren seitdem das ganz besondere Salz in der Suppe des europäischen Autorenfilms. Mal ließ er die bürgerliche Gesellschaft einer Opernpremiere zu Schweinen mutieren in dem komplett gesungenen Film "Os Cannibais", Gespenster treten auf in "Os Convento", Im Konvent, philosophische Dialoge führte er mit und über Gott, und immer wieder zeigte er Frauen, die an der Verwirklichung ihrer Wunschwelten aus Glück, Liebe und Harmonie scheitern: wie in "Vale Abraào", seiner portugiesischen Madame-Bovary-Variante. Manoel de Oliveiras Schatz an Verfremdungstechniken war ebenso groß wie sein hintergründiger Humor böse zuspitzen konnte. Michel Piccoli, häufiger Darsteller in de Oliveiras Filmen, beschreibt ihn so:
    "Er ist ein Mann von außerordentlicher, fast diabolischer Autorität. Und gleichzeitig scherzt er gerne"
    Unermüdlich lieferte de Oliveira bis zuletzt fast jedes Jahr einen Film. Zunehmend mit der Tendenz zum Bilanzziehen. In seinem Film "O Gebo e a Sombra", "Von Gebo und dem Schatten", sitzen 2012 alte Schauspieler und Weggefährten Oliveras zusammen: Michael Lonsdale, Claudia Cardinale und Jeanne Moreau. Das Leben fällt ihnen schwer, und in jedem Satz, den sie sagen, schwingt das ganze Werk Manoel de Oliveiras mit. Erlauben Sie einem Künstler, seine Liebe in Musik auszudrücken, sagt ein Mann in der düsteren Stube. Manoel de Oliveiras Musik war das Kino.