"Die Musik ist ein Prozess, der als Prozess erlebt werden muss: Nur dann kann sie beim Hörer eigene Prozesse anstoßen." Was wie ein bloß klug formulierter Allgemeinplatz klingt, war doch das tief empfundene Credo eines der produktivsten Komponisten unserer Zeit.
Die Kämpfe von einst waren längst Geschichte, als der 60-jährige Wolfgang Rihm es im Gespräch formulierte, doch sie klingen darin nach: der Aufruhr des jungen Shootingstars, der sich in den frühen 1970er-Jahren mit Trotz und Polemik gegen die Generation der Väter auflehnte. Und gegen ihre Musik, die vorgab, systematisch und quasi wissenschaftlich zu sein, und die verstanden, aber nicht unbedingt erlebt werden wollte. Rihm war nicht der Einzige, der dieser gleichsam „objektiven“ Kunst damals ein empörtes "Ich, Ich, Ich" entgegenschrie – aber er war der mit Abstand erfolgreichste.
Der Komponist der großen Worte
"Uns muss es schütteln vor Energie, oder wir müssen lautlos sein vor Leere, dann sind wir Komponisten. Ich will bewegen und bewegt sein", sagte Wolfgang Rihm. Der Komponist liebte große Worte – und ließ ihnen Taten folgen. Niemand komponierte so schnell und so viel wie er. Mit Elektronik und neuen Medien konnte Rihm nichts anfangen, sonst aber mit allem, was das Metier ihm bot: vom Klavierstück bis zum abendfüllenden Musiktheater.
Streichquartette, sinfonische Musik, Konzerte, Orchesterlieder, sogar Märsche – Rihm wollte und konnte alles. Schaffenskrisen und Schreibblockaden, darunter mochten wohl die Kollegen leiden. Musik war nie etwas, wofür Wolfgang Rihm kämpfen musste. Sie war ganz einfach in ihm, Teil seines Daseins.
Rihm wurde mit Ehrungen überschüttet
"Während der Endphase eines Stückes häufen sich Wunsch- und Vorstellungsbilder für anderes. Und das ist genau die Synapse: Wenn ich das Stück abgeschlossen habe, dann bin ich schon in einem Zustand, der das nächste ermöglicht", sagte er einst in einem Interview.
Und so wuchs die Musik in ihm und aus ihm heraus. Schon als Fünfzigjähriger wurde Rihm international auf Festivals gefeiert und mit Ehrungen überschüttet. Aufträge kamen zuhauf aus den besten und größten Häusern, Intendanten, Journalisten und Kuratoren hofierten ihn und wollten möglichst dicht dran sein an einem, der so sehr der Vorstellung vom Genie entsprach. Die Fachkritik hielt sich eher bedeckt und erhob gelegentlich Zweifel an einer Musik, die vielleicht einen Tick zu dringlich daherkam und zu erschüttert war und sich gelegentlich zu nivellieren drohte in ihrem Pathos.
Hinter dem Künstler steckte ein umwerfend freundlicher Mensch
Dass Rihm dabei in Gremien und Jurys ebenso omnipräsent war wie in den Konzertsälen und Opernhäusern, ließ manchen schon vom deutschen Staatskomponisten reden. Doch alle Zweifel verstummten, wenn man ihm persönlich gegenüberstand oder -saß, im Gespräch oder bei einem Glas Wein. Hinter dem so maßlos begabten und gebildeten Künstler Wolfgang Rihm steckte ein umwerfend freundlicher, offener, neugieriger und auch sehr diesseitiger Mensch.
Und wie Wolfgang Rihm selbst sagte: "Glauben Sie nicht, dass ich ein Mensch sei, der das Leben daneben vergisst. Ich finde, aus dem Lebensvollzug entsteht dieses Produzieren. Das Produzieren ist ein integraler Bestandteil dieses Lebensvollzugs, der auch den Lebensgenuss mit einbezieht."