Das geniale Talent des Zeichners kombinierte Wolf Erlbruch mit dem sicheren Gespür des Grafikers für überwältigende visuelle Kompositionen. Mit seinen skurrilen Menschen- und Tierdarstellungen erzählte er pointiert von den Gefühlen seiner Helden.
Den größten Erfolg als Illustrator erzielte Erlbruch gleich zu Beginn seiner Karriere. Nachdem er 15 Jahre in der Werbung gearbeitet hatte, entwarf Erlbruch 1989 die Bilder zu Werner Holzwarths Geschichte „Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“. Mit dem empörten Maulwurf lernen auch die Kinder auf charmante Weise die Exkremente der Tiere zu unterscheiden. Als Wolf Erlbruch 2017 den Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis erhält, erinnert er sich im Deutschlandfunk, wie umstritten das Sujet seinerzeit in der Öffentlichkeit war.
„Es gibt so ein Tabu, dass man über sowas nicht redet. Das ist ja Quatsch. Und mit den Tieren hat es dann auch funktioniert. Ich hätte sicher keine Menschen nehmen können, das wäre ganz blöd geworden. So ging das dann tatsächlich irgendwann los mit dem Buch. Und es ging wirklich nur durch die Kinder los. Die Erwachsenen haben sich gesträubt bis zuletzt. Bis eben die Kinder gewonnen haben.“
Das Buch wurde letztlich in über 40 Sprachen übersetzt, und allein die Originalausgabe liegt bis heute in 50 Auflagen vor.
Sein gesamtes Künstlerleben verbrachte Erlbruch im Rheinland. 1948 in Wuppertal geboren, studierte er in Essen an der Folkwang Hochschule für Gestaltung Grafik-Design. Nach Jahren in der Werbebranche lehrte er als Professor zunächst von 1990 bis 1997 an der Fachhochschule in Düsseldorf, später an der Bergischen Universität in Wuppertal und schließlich bis 2011 an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Dieser große Mann mit der kleinen Brille und der leisen Stimme liebte seine Lehrtätigkeit, genoss den Austausch mit den jungen Leuten. Über die zahlreichen Ehrungen, die ihm zuteil wurden, hatte Erlbruch seine eigene Meinung: „Ich sehe die Preise als Kommunikation meiner Selbstzweifel an, und nicht als Ausräumung derselben“, gestand er in einem Interview. Mutig lieferte er sich den Launen der Kreativität aus und folgte konsequent seinem Motto:
„’Nur auf den Zufall ist Verlass.’ Steht bei mir im Atelier auf der Wand, ganz groß. Und das wird täglich bestätigt, weil ich immer nur zufällig meine Brille finde, zum Beispiel. Aber es ist Verlass auf den Zufall. Planen ist Unsinn für so ein kurzes Leben.“
Destillierte Weisheit
Nicht immer stellte sich der Zufall sogleich ein, denn Wolf Erlbruch benötigte zehn Jahre, um „Ente, Tod und Tulpe“ zu vollenden, eines der ergreifendsten Bilderbücher, die je über den Tod geschrieben und gezeichnet wurden. Auf den streng reduzierten Bildern vollzieht sich ein genialer Dialog zwischen einer Ente und dem Tod als Figur. Eine Geschichte, die ohne Happy End bleibt, ganz wie im richtigen Leben, die aber unvergleichlich zart in der Kraft ihrer Melancholie entwickelt ist. Hält man dieses Buch in den Händen, spürt man, wie die zehn Jahre Arbeit in Weisheit destilliert wurden und welch tiefsinniger Künstler Wolf Erlbruch war. Das zeigt er auch in seinem Bilderbuch „Die große Frage“. Ein Kind, ein Boxer, eine Großmutter, ein Gärtner und viele andere Menschen erklären, warum sie auf der Welt sind. In diesem Buch lotet Erlbruch die menschliche Existenz so aus, dass ihm über die Generationen hinweg Kinder und Erwachsene folgen können. Das war ihm stets ein zentrales Anliegen.
„Ich wollte etwas machen, das Eltern und Kindern gleichsam Spaß macht, das sie gerne lesen und angucken. Die Bilder sind ja zum Angucken da. Sie sind keine typischen Illustrationen für Kinderbücher, sie sind teilweise ziemlich skurril. Manchmal haben sie auch gewisse Härten. Aber Kinder stecken so etwas wunderbar weg.“
Der Körper als Barometer der Gefühle
Deshalb kommen in Erlbruchs Büchern keine von Erwachsenen zubereitete Kinderwelten vor. Er war davon überzeugt, dass Kinder ihre Abenteuer in der realen Welt erleben, und dass ihnen dort ausreichend Raum für ihre Fantasie geboten wird. In „Nachts“, einem seiner zahlreichen Meisterwerke, zeigt er uns einen kleinen Jungen, der mit seinem Vater durch die Nacht spaziert. Während der Erwachsene nur die Dunkelheit wahrnimmt, sieht das Kind in den Wolken und Häusern eine fliegende Mickey Mouse, einen Gorilla mit Armbanduhr oder eine Tulpe, die auf Rollschuhen fährt.
Diese Verbindung von Fantasie und Realität findet sich in der Wahl der Materialien wieder, mit denen Erlbruch arbeitete. Denn mit seiner makellosen Linienführung als Zeichner korrespondiert die Verwendung von Notenpapieren, Verpackungsmaterial, Landkarten oder Rechnungsbüchern in seinen expressiven Collagen. Voluminöse Erwachsenenkörper entstanden, die in ihrer karikierenden Überzeichnung mit Gefühlen wie Zorn, Hochmut, Trauer und Freude aufgeladen werden. Erlbruch liebte diese schönen Zumutungen, kühn spielte er mit der europäischen Bildtradition von der Renaissance bis zum Surrealismus und behielt dabei doch stets die Kinder im Blick. Aus seinem Humor und seiner Neugierde auf die Welt, speist sich das Abenteuer, das man beim Betrachten seiner Bücher erlebt, und das noch Generationen von kleinen und großen Menschen elektrisieren wird.