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Nachsitzen für eine Lehrstelle

Die Schulabbrecherquote ist in Deutschland erschreckend hoch. Und ohne Abschluss hat kaum ein Jugendlicher eine Chance auf eine Lehrstelle. Dabei suchen viele Betriebe Auszubildende. Am Oberstufenzentrum in Berlin können Jugendliche sich für einen Ausbildungsplatz qualifizieren.

Von Verena Kemna | 08.05.2010
    Die Zahlen im Berufsbildungsbericht sind Eckdaten für ein düsteres Szenario. Einerseits fehlen in Deutschland Fachkräfte, andererseits ist die Schulabbrecherquote mit 60.000 Jugendlichen pro Jahr noch immer alarmierend hoch.

    Ebenso alarmierend sind die Defizite vieler Schüler. Schlechte Deutschkenntnisse sowie allzu viele Rechtschreibfehler zeigen sich häufig schon im Bewerbungsschreiben. Einfache Rechenaufgaben überfordern viele der zukünftigen Auszubildenden. Aber auch Sprachkenntnisse in Englisch werden immer wieder als mangelhaft eingestuft. So blieben im vergangenen Jahr in einigen Lehrberufen bis zu 15 Prozent der Lehrstellen unbesetzt - es fehlten die geeigneten Bewerber.

    Bildungslotsen könnten ein Ausweg sein, das zumindest hofft Bundesbildungsministerin Annette Schavan. 3200 Bildungslotsen sollen demnächst in ganz Deutschland Schüler mit Lernschwierigkeiten ab der siebten Klasse begleiten. Modellversuche in einigen Bundesländern seien ermutigend, meint die CDU-Politikerin. Hans-Peter Schäfer von dem Bildungszentrum der Handwerkskammer Köln erklärt, wie es funktioniert.

    "Praktisch bedeutet das, dass wir in der siebten Klasse schon mit einer Potenzialanalyse beginnen. Hier sollen Neigungen und Fähigkeiten der Schüler festgestellt werden und wir wollen auch Hinweise geben und Empfehlungen aussprechen für eine mögliche zukünftige Berufswahl. In der Klasse acht wird es dann richtig spannend. Die Schüler sind zwei Wochen in unserem Haus und erleben einen Achtstundentag und das zehn Tage hintereinander."

    Von so viel Durchhaltevermögen und positiver Motivation ihrer Schüler können die Lehrer in einem Oberstufenzentrum in Berlin-Tempelhof nur träumen. Sie stellen immer wieder fest: Viele Schüler haben zu wenig Selbstdisziplin, auch das ist ein Mangel an Ausbildungsreife.

    "Man hat keine Motivation gehabt, zur Schule zu gehen, für die Schule zu lernen. Ich war ja immer diejenige, die faul war. Ich habe es nicht so ernst genommen. In der zehnten Klasse bin ich rausgeflogen von der Oberschule. Da hatte ich nur einen Hauptschulabschluss, muss alles noch mal nachholen. Also ich habe vier Jahre in den Sand geworfen. Hätte ich mir von Anfang an Mühe gegeben, wäre ich jetzt sogar schon mit der Ausbildung fertig."

    Im Klassenraum sitzen zwölf Schülerinnen und Schüler jeweils in Dreiergruppen vor einem Computer. Sie lernen, wie ein kaufmännischer Betrieb funktioniert. Sie arbeiten für fiktive Firmen, schreiben Rechnungen, verbuchen Warenein- und Warenausgänge. Einige tippen Artikelnummern in vorgegebene Formulare, andere laufen von einer Gruppe zur nächsten, wieder andere haben Computerspiele auf dem Bildschirm. Berufsschullehrer Ralf Beckenbach blättert in einem roten Klassenbuch. Zwei fehlen mal wieder unentschuldigt, sagt er, zeigt auf eine Liste. Die Hälfte der 30 Namen ist durchgestrichen.

    "Das sind die, die aufgegeben haben vor Ende des ersten Halbjahres, vor Ablauf der Probezeit; oder sie haben die Probezeit am Ende des ersten Halbjahres nicht bestanden und haben die Schule verlassen."

    Wer fünf Mal unentschuldigt fehlt oder im Probehalbjahr zwei Fünfen auf dem Zeugnis hat, fliegt raus, sagt Beckenbach. Schulabbrecher, die zu den 15 Prozent zählen, die laut Bildungsreport kaum noch eine Chance auf eine Berufsausbildung haben. Lehrer Beckenbach sieht in die Runde. Da sitzen Asis, Derya, Duygu, Ferhad, Chadi, Klaus und die anderen. Die jüngsten sind 18, die ältesten 21 Jahre alt. Alle haben zwar einen Hauptschulabschluss, aber eine Schulkarriere mit Brüchen.

    "Also wir haben die Schüler, die im normalen Werdegang keine Lehrstelle bekommen haben, die nicht einen so guten Schulabschluss hatten, dass sie eine Chance hatten, eine Lehrstelle zu bekommen. Unser Bildungsgang ist die zweitletzte Chance. Das heißt also, auch für die, die das hier nicht bestehen, gibt es dann nur noch die Chanc, in irgendwelchen Gesellschaften Lehrgänge zu machen, die vom Staat finanziert werden. Und das ist dann die allerletzte Chance. Danach bleibt nur die Straße oder der Stadtpark."

    Seit Monaten haben die Jugendlichen nur ein Ziel. Alle wollen den mittleren Schulabschluss, den MSA, schaffen. Das entspricht der früheren Mittleren Reife. Als hätten sie das Zeugnis bereits in der Tasche, bewerben sich viele schon jetzt um eine Lehrstelle; zum Beispiel Duygu Telyaker: zierlich, schulterlange braune Haare, rotlackierte Fingernägel.

    "Dann möchte ich eine Ausbildung beginnen, weil: Die Chancen sind ja auch mehr, wenn man den mittleren Schulabschluss hat. Und dann möchte ich eine Ausbildung beginnen, für drei Jahre dann halt. Im Flughafen irgendwas, egal. Mein Traumberuf, irgendwo rumzufliegen."

    Die 18-Jährige steht immer wieder auf, kann kaum zehn Minuten auf dem Stuhl sitzen bleiben.

    "Ich war auf einer Gesamtschule, da habe ich diesen mittleren Schulabschluss gemacht, habe ihn nicht bestanden. Das Problem lag am Englisch. Ja, ich bin deswegen durchgefallen."

    Englisch, Deutsch und Mathematik sind Kernfächer beim MSA. Lehrer Beckenbach schüttelt den Kopf. Viele in der Klasse haben so große Defizite, das lässt sich in einem Jahr nicht nachholen. Duygu gibt er eine Chance, wenn sie es schafft, sich zu konzentrieren. Die junge Türkin liest auf ihrem Bestellzettel die Firmenbezeichnung OHG. Was das bedeutet, hat sie schon wieder vergessen.

    "Hat mein Lehrer vorhin zwar gesagt, aber ich weiß auch nicht, was das heißt. Irgendwas mit Handel oder so."

    Klassenlehrer Beckenbach hält Blickkontakt mit seinem Kollegen Wilfried Brandes. Beide unterrichten gemeinsam betriebspraktische Datenverarbeitung. An seinem Monitor sieht Wilfried Brandes sofort, wenn die Schüler falsche Mengen angeben, falsche Rabatte eintragen. Viele sind einfach nur schusselig.

    "Einige schaffen das nicht, konzentriert an einer Aufgabe kontinuierlich durchzuarbeiten. Dann fehlen unwahrscheinlich viele Deutschkenntnisse, auch Mathematik, Englisch auch. Das haben wir natürlich auch bei den anderen Berufsschülern, dass da Deutschkenntnisse fehlen. Die können keine Texte lesen. Und ich glaube, dass die gar nicht so schlecht in Mathe wären, wenn sie die Textverarbeitungsaufgaben verstehen würden."

    Ferhad gilt als Klassenclown. Er trägt eine Kette um den Hals, den Schirm seiner Baseballmütze hat er in den Nacken gedreht. Ferhad gibt sich optimistisch, von Selbstkritik keine Spur.

    "Jetzt mal gucken, wenn der MSA gut läuft, mache ich hoffentlich nächstes Jahr Abi. Und danach hoffentlich zur Polizei. Na ja, Deutsch zwischen Eins und Zwei, Mathe zwischen Drei und Zwei und Englisch eine glatte Drei. Englisch ist nicht meine Stärke."

    Die Prognose der beiden Lehrer ist eindeutig. Höchstens die Hälfte der Schüler in dieser Klasse wird in den nächsten Wochen den mittleren Schulabschluss bestehen. Wer es schafft, hat viele Perspektiven.

    "Eigentlich denke ich, ja. Wenn sie mit einer guten Leistung hier rauskommen. Es werden ja Leute gesucht in fast allen Berufen."