Archiv

Die Nacht von Sevilla 82
Die Empörung gegen den Fußballgott

Am 8. Juli 1982 besiegte Deutschland bei der Fußball-WM in Spanien die französische Nationalmannschaft im Halbfinale im Elfmeterschießen. Das Spiel ging als „Nacht von Sevilla“ in die Geschichte ein. Toni Schumacher wurde zum deutschen Helden und in Frankreich zum Antihelden, weil er den Franzosen Battiston bei einem Foul schwer verletzte – und auf dem Platz keine Reue zeigte. Dieses Spiel hat noch immer große Bedeutung.

Stephan Klemm und Albrecht Sonntag im Gespräch mit Jessica Sturmberg |
Der Franzose Patrick Battiston liegt nach dem Foul durch Toni Schumacher im WM-Halbfinale 1982 gegen Deutschland auf dem Boden.
Der Franzose Patrick Battiston liegt nach dem Foul durch Toni Schumacher im WM-Halbfinale 1982 gegen Deutschland auf dem Boden. (IMAGO/Sven Simon)
Der Sportjournalist Stephan Klemm hat ein Buch über die „Nacht von Sevilla“ geschrieben, der Soziologe Albrecht Sonntag lebt seit mehr als 30 Jahren in Frankreich und hat sowohl die deutsche als auch die französische Staatsbürgerschaft. Beide werfen einen Blick zurück auf ein Fußballdrama, das in Frankreich ganz anders in Erinnerung geblieben ist als in Deutschland.
Albrecht Sonntag, Professor für Europastudien an der ESSCA Ecole de Management, erklärt warum Schumacher aus französischer Sicht der Schurke des enormen Dramas war: „Wegen des nicht geahndeten schlimmen Fouls an Patrick Battiston in der 57. Spielminute. Und es sind diese Bilder, die in Frankreich im kollektiven Gedächtnis hängen geblieben sind.“ Der niederländische Schiedsrichter hatte das Foul nicht gesehen, wodurch Schumacher der sehr wahrscheinlichen roten Karte entging:

„Dieses unglaubliche Drama, in dem der Fußball alles hervorgezaubert hat, was er an Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auf den Platz bringen kann“

Laut Stephan Klemm kam erschwerend hinzu, dass Schumacher sich „danach auch wirklich katastrophal verhalten hat, indem er nämlich sich überhaupt gar nicht um den Spieler gekümmert hat“. In der damaligen deutschen Wahrnehmung war Toni Schumacher aber der Held der Partie. Schließlich hatte er im Elfmeterschießen zwei Mal pariert und die deutsche Mannschaft damit ins Finale geführt. Den eleganteren Fußball hatte aber die französische Mannschaft gespielt, war in der Verlängerung sogar 3:1 in Führung gegangen und wähnte sich schon im so heiß ersehnten Finale. Erstmals war ein französisches Team auf diesem Niveau gekommen, auf dem ihr ein WM-Titel zugetraut wurde.
Der Soziologe Sonntag erklärt die noch heute empfundene Besonderheit des Spiels damit, dass der Fußball in der Nacht von Sevilla alles „hervorgezaubert hat, was er an Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit auf den Platz bringen kann“. Anders als in Hollywoodfilmen hätte sich das Drama aber nicht zum Guten gewendet, sondern zugunsten der Bösen, in diesem Fall der Deutschen.

Franzosen waren empört, Deutsche schauten schon aufs Finale

In Deutschland, so Klemm, habe man sich nach dem Spiel mit der Aufarbeitung der negativen Seite des Halbfinals, dem Foul Schumachers und der Verletzung Battistons, nicht mehr beschäftigt, sondern sich dem Finale gegen Italien gewidmet. Das lag auch daran, dass nach dem Spiel an einem Donnerstagabend die Zeitungen am nächsten Tag nur kurze, schnelle Berichte verfassten und am Samstag schon der Blick auf das Finale und den Gegner Italien gerichtet war.
In Frankreich ist die damalige Niederlage aber weiterhin stark im kollektiven Gedächtnis verankert. Die Partie, erklärt der Sportjournalist, sei noch im Jahr 2021 von der französischen Fachzeitschrift „France Football“ zur Nummer eins unter 50 Spielen gewählt worden. Der Soziologe Sonntag erklärt das so: „Vielleicht sind es ja die tragischen Niederlagen, die sich viel stärker niederschlagen im kollektiven Gedächtnis. Vielleicht sind die Erinnerungen an die gemeinsame Traurigkeit weniger vergänglich als die Erinnerungen an zahlreiche gemeinsame Triumphe.“
Stephan Klemm, Sportjournalist und Autor des Buches "'82 - Die Nacht von Sevilla. Ein deutsch-französisches Fußballdrama".
Stephan Klemm, Sportjournalist und Autor des Buches "'82 - Die Nacht von Sevilla. Ein deutsch-französisches Fußballdrama". (Deutschlandradio - Jessica Sturmberg)

Battiston hat mit Spätfolgen zu kämpfen

Battiston, so Klemm, habe bis heute mit Spätfolgen zu kämpfen – mit Kopfschmerzen, mit dem Sehvermögen und mit dem Kiefer. Schumacher habe sich schockiert und betroffen gezeigt, als Klemm ihn mit dieser Tatsache konfrontiert habe. Aber auch er hatte negative Folgen des Spiels gespürt und sowohl Morddrohungen von deutschen Zuschauern erhalten als auch mit Depressionen zu kämpfen gehabt.
Beide Gesprächspartner würdigten, dass Battiston sich in der Folge des Spiels als perfekter Gentleman verhalten habe. Er habe immer eine beruhigende Wirkung auf den Volkszorn ausüben wollen, so Sonntag. Zudem habe er sich in einer Fernsehsendung dafür ausgesprochen, die antideutschen Ressentiments ruhen zu lassen, sagte Klemm. Das müsse man ihm hoch anrechnen.
Karl-Heinz Rummenigge erzielt das Tor zum 2:3 im Halbfinale gegen Frankreich bei der Fußball-WM 1982 in Spanien.
Karl-Heinz Rummenigge erzielt das Tor zum 2:3 im Halbfinale gegen Frankreich bei der Fußball-WM 1982 in Spanien. (IMAGO/Sven Simon)

"Meilenstein der Fußballgeschichte"

Für Albrecht Sonntag ist die Partie aus der binationalen Perspektive herauszulösen und als „ein Meilenstein in der Fußballgeschichte“ zu sehen. Nicht nur, weil es das erste Elfmeterschießen bei einer WM gab, sonder vor allem: "Es ist ein Spiel, von dem auch Michel Platini gesagt hat, dass es absolut jede mögliche Emotion, die in einem Fußballstadion entstehen kann, in einem Spiel zusammengepackt hat.“