Viele Staaten haben durch die Corona-Pandemie mehr Schulden angehäuft, während die Regierungen zugleich Milliarden in Unternehmen pumpten, um sie wegen der Lockdowns vor einem Kollaps zu bewahren. Der Bundestag hatte deshalb im April den Nachtragshaushalt 2021 mit einer Rekord-Neuverschuldung von bis zu 240 Milliarden Euro beschlossen. Nicht nur diese Summe muss durch neue Schulden gedeckt werden, sondern auch die Refinanzierung alter Verbindlichkeiten. Allein im Sommerquartal mussten rund 100 Milliarden Euro an Altschulden getilgt werden.
Am Entwurf für den Nachtragshaushalt (13.12.21) monierten Oppositionspolitiker, dass die Umwidmung von Teilen dieser Mittel für den Kampf gegen den Klimawandel in den kommenden Jahren nicht verfassungskonform sei. "Skandalös und verfassungsrechtlich bedenklich" nannte etwa CSU-Generalsekretär Markus Blume das Zustandekommen des Nachtragshaushalts. "Das FDP-Versprechen der soliden Finanzen hat keine Woche gehalten", erklärte er auf Twitter.
Auch von der Linken kam Kritik. "Die 60 Milliarden, die Christian Lindner aus Corona-Kreditermächtigungen für seinen Nachtragshaushalt umwidmet, zahlen insbesondere kleine und mittlere Einkommen, die den Schuldenberg des Bundes buckeln müssen. Und das nur, weil die Ampel eine Vermögensabgabe für 0,7 Prozent Superreiche blockiert", schrieb Fraktionschef Dietmar Bartsch auf Twitter.
Aus Regierungskreisen heißt es dagegen, die Umwidmung der Kreditermächtigungen sei vereinbar mit der im Grundgesetz festgeschriebenen Schuldenregel. An eine Krise wie die Corona-Pandemie habe bei der Schaffung der Schuldenregel niemand gedacht.
Christoph Heinemann: Herr Kindler, war das Kabinett gut beraten, Lindners Pläne durchzuwinken?
Sven-Christian Kindler: Ja. Das Kabinett hat eine sehr richtige Entscheidung getroffen. Mit diesem Nachtragshaushalt wird jetzt eine wichtige Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt. Denn die Pandemie hat ja gezeigt – und wir sind aktuell immer noch in einer schweren Pandemie. Wir haben eine außergewöhnliche Notlage des Staates und die führt dazu, dass wir nicht nur große gesundheitliche Kosten und Risiken haben, sondern auch viele schwerwiegende Folgen für die Wirtschaft, für Beschäftigung, und deswegen öffentliche Investitionen der richtige Weg aus dieser Pandemie sind. Gerade wenn man sich das wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz anguckt, stehen wir jetzt von einer großen Aufgabe der Transformation unserer Wirtschaft, und das wird nicht innerhalb eines Jahres zu bewältigen sein. Das wird mehrere Jahre dauern, genauso wie die Corona-Pandemie uns wirtschaftlich-ökonomisch noch mehrere Jahre beschäftigen wird. Somit ist es jetzt sinnvoll, 60 Milliarden Euro dem Energie- und Klima-Fonds zuzuführen, damit wir die Energiewende und die große Transformation der Wirtschaft langfristig und planungssicher auch gut finanzieren können.
Aussetzung der Schuldenbremse „gerechtfertigt“
Christoph Heinemann: Warum berücksichtigt die Bundesregierung nicht die verfassungsrechtlichen Bedenken des Wissenschaftlichen Beirates?
Kindler: Die Bundesregierung berücksichtigt die verfassungsrechtliche Lage. Ich halte das für verfassungsrechtlich nachvollziehbar und begründbar, so wie der Nachtragshaushalt jetzt vorgelegt wird. Wir haben eine außergewöhnliche Notlage. Die rechtfertigt die Ziehung des Artikel 115, ein Paragraph des Grundgesetzes, zur Aussetzung der Schuldenbremse.
„Die Staatsfinanzen sind massiv bedroht“
Heinemann: Entschuldigung, Herr Kindler! Das Geld wird doch für ganz andere Sachen ausgegeben.
Kindler: Nein! Es ist nicht so, dass bisher die Bundesregierung in ihren Haushalten davor nur Gelder für die Krankenhäuser und für die Pandemie im Rahmen des Gesundheitssystems bereitgestellt hat, sondern auch für breitere Teile, für große Investitionen, die notwendig sind für unsere Volkswirtschaft, weil viele Klimaschutzausgaben, viele Investitionen konnten während der Corona-Pandemie nicht erfolgen. Wir sehen auch, dass die Staatsfinanzen massiv bedroht sind durch die weltweite Klimakrise. Denken Sie nur an die großen Überflutungen, wo viele Menschen ums Leben gekommen sind, in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, die aber auch sehr teuer für den Haushalt waren. Insgesamt 30 Milliarden Euro [*] wird das Bund und Länder kosten. Deswegen ist eine aktive Bekämpfung der Klimakrise auch im Sinne nachhaltiger Staatsfinanzen.
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„Öffentliche Investitionen reizen viele private Investitionen an“
Heinemann: Die Frage ist nur, mit welchem Geld man das macht. Christian Lindner hat vor wenigen Minuten gesagt, er wolle das Geld einsetzen für Klimapolitik, für Wasserstoff-Strategie, für Stromkosten. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann hat der Deutsche Bundestag diese Schulden zweckgebunden für Corona-Maßnahmen beschlossen. Inwiefern kann der Bundesfinanzminister die dann einfach für andere Sachen ausgeben?
Kindler: Das stimmt so nicht. Der Deutsche Bundestag hat die Netto-Kreditaufnahme für die Deckung der nicht erfolgten Einnahmen zur Deckung der Ausgaben 2021 beschlossen, und der Deutsche Bundestag hat 2020 auch mit den Stimmen von Union und SPD beschlossen, 28 Milliarden Euro dem Energie- und Klima-Fonds zuzuführen, und zwar im Rahmen des Konjunktur- und Zukunftspakets. Das ist keine neue Entscheidung, sondern das folgt der Tradition der Großen Koalition aus dem letzten Jahr. Und es ist so, dass die großen wirtschaftlichen Einbrüche, die wir gesehen haben durch die Corona-Krise, die noch länger, mehrere Jahre anhalten werden, natürlich auch abgefedert werden müssen. Öffentliche Investitionen reizen viele private Investitionen an und gerade wenn wir öffentliche Investitionen jetzt fördern, dann müssen das natürlich Investitionen zum klimaneutralen Umbau unserer Volkswirtschaft sein. Da müssen wir auch die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus Karlsruhe zum Klimaschutz berücksichtigen. Deswegen halte ich das für vertretbar und sinnvoll und notwendig, was die Bundesregierung jetzt vorgelegt hat.
„Energiewende und Transformation unterstützen“
Heinemann: Das heißt, der Bundesfinanzminister kann Schulden, die aufgenommen wurden für die Corona-Maßnahmen, umetikettieren und für irgendetwas anderes ausgeben?
Kindler: Noch mal: Die Schulden wurden nicht alleine nur für Krankenhäuser oder für Gesundheitsämter oder Ähnliches aufgenommen, sondern die Kreditermächtigungen, die jetzt im Rahmen des Haushalts 2021 zur Verfügung stehen, werden nicht erhöht, werden aber zweckgebunden dem Energie- und Klima-Fonds zugeführt. Es ist völlig klar, auch in der verfassungsrechtlichen Literatur und in der Rechtsprechung, dass die Corona-Maßnahmen nicht nur die Krankenhäuser betreffen, sondern auch viele Wirtschaftsbereiche, die zum Beispiel geschlossen wurden oder eingeschränkt wurden, weswegen wir einen massiven wirtschaftlichen Einbruch haben. Um diese wirtschaftlichen Folgen abzufedern und zu mildern, müssen öffentliche Investitionen dabei helfen, dass die Wirtschaft wieder in Schwung kommt. Und natürlich ist klar: Wenn wir einen neuen Aufschwung wollen, dann muss der klimaneutral sein. Dann muss der vor allen Dingen Energiewende und Transformation unterstützen, damit wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Das ist alles korrekt und bisher auch so gemacht worden.
„Sehr breiter Ermessungsspielraum“ im Haushalt
Heinemann: Das sieht der Wissenschaftliche Beirat anders. Er sagt, hier wird die Krise genutzt, um spätere Investitionen vorzufinanzieren. In diesem Wissenschaftlichen Beirat sitzen Expertinnen und Experten, ebenso wie beim Bund der Steuerzahler, der Lindners Vorhaben ebenfalls sehr harsch kritisiert hat. Wie bewerten sie diese Kritik?
Kindler: Ich halte diese Kritik für nicht zielführend. Es gibt andere Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtler, die das für nachvollziehbar und mit der Verfassung vereinbar halten. Das sieht auch die Bundesregierung so. Das sehen wir auch als Fraktion so. Im Kern ist es so, dass das Grundgesetz dem Haushaltsgesetzgeber bei der Beurteilung der haushaltspolitischen Maßnahmen einen sehr breiten Ermessungsspielraum gibt. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auch in den 80er-Jahren in einem Grundsatzurteil festgestellt. Im Kern ist ja die außergewöhnliche Notlage nicht nur auf die Pandemie beschränkt, sondern auch massive wirtschaftliche Einbrüche, und wir sehen auch, dass die Klimakrise massive wirtschaftliche Folgen hat für die Staatsfinanzen, für viele Unternehmen, für Beschäftigung. Deswegen ist es gut, wenn man die Abmilderung dieser Pandemie auch dazu nutzt, für öffentliche Investitionen, besser aus dieser Krise herauszukommen. Deswegen stehen diese Investitionen, die jetzt aus Restkredit-Ermächtigungen dem Energie- und Klima-Fonds zugeführt werden sollen oder getätigt werden sollen, auch im elementaren Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, in der viele Klimaschutz-Ausgaben nicht in dem Rahmen erfolgen konnten, wie sie eigentlich geplant waren.
Restkredit-Ermächtigungen nutzen für Energie- und Klima-Fonds
Heinemann: Welche Folgen hätte es, wenn Christian Lindners erste Maßnahme als Bundesfinanzminister verfassungswidrig wäre?
Kindler: Ich gehe nicht davon aus, dass sie verfassungswidrig ist. Im Gegenteil! Ich gehe davon aus, dass sie mit der Verfassung vereinbar ist. Es gibt eine sehr gute Begründung des Bundesfinanzministeriums und der Bundesregierung. Wir werden dazu auch eine Anhörung im Haushaltsausschuss durchführen, wo wir uns mit Ökonomen und Verfassungsrechtler*innen beraten werden, und dann im Parlament nächstes Jahr in der zweiten und dritten Lesung entscheiden, und ich gehe sehr stark davon aus, dass das bestätigt wird, dass wir Restkredit-Ermächtigungen nutzen können für den Energie- und Klima-Fonds, um die öffentlichen Finanzierungen gerade nach der Corona-Pandemie anzuschieben, um die wirtschaftlichen Folgen dieser Pandemie deutlich abzumildern.
60 Prozent Staatsverschuldung „nicht realistisch“
Heinemann: Herr Kindler, sprechen wir über weitere mögliche haushalts- oder finanzpolitische Risiken. Am Tag nach Olaf Scholz’ Wahl zum Bundeskanzler hat Frankreichs Präsident Macron eine Aufweichung der Stabilitätskriterien für den Euro gefordert. Das heißt, Frankreich möchte mehr Schulden machen als bisher erlaubt. Wird die Bundesregierung diesem Kurs folgen?
Kindler: Ich halte es für sinnvoll, dass es jetzt einen Prozess gibt zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen allen Partnerinnen und Partnern in der Europäischen Union im Zusammenhang mit der Europäischen Kommission, über den Stabilitäts- und Wachstumspakt neu nachzudenken. Der Pakt hat in der Krise seine Flexibilität bewiesen, aber schon vorher war klar, dass es dazu einen Reformprozess geben muss. Den hat die Europäische Kommission auch angekündigt. Denn es ist ja zum Beispiel nicht nachvollziehbar, dass viele Partnerinnen und Partner in Europa in den nächsten Jahren auf 60 Prozent Staatsverschuldung kommen werden. Das ist nicht realistisch. Völlig klar ist, dass es natürlich kein Kaputtsparen in Europa nach der Corona-Krise geben darf, sondern dass wir sinnvolle kluge Maßnahmen brauchen, um einerseits haushaltspolitische Stabilität und Solidität zu gewähren, aber auch Wachstum und Beschäftigung und den klimaneutralen Umbau unserer Volkswirtschaft über Investitionen finanzieren zu können. Dazu wird es sinnvolle Gespräche auf europäischer Ebene geben müssen und da muss man sagen, dass es an der Stelle auch Reformbedarf gibt.
Niedrigzinsen und Investitionsstau in Europa
Heinemann: Ich habe jetzt noch nicht ganz verstanden, wo das enden soll. Die Kriterien heißen ja Stabilitätskriterien. Das heißt: Wenn sie nicht befolgt würden, dann führte das ja zur Instabilität. Wir haben bereits Niedrigzinsen, wir haben Inflation, die die Sparvermögen auffressen. Bekämen wir dann auch noch eine Weichwährung dazu?
Kindler: Das halte ich für Quatsch, sondern es heißt ja Stabilitäts- und Wachstumspakt. Beide Teile sind wichtig, Stabilität und nachhaltiges Wachstum sind wichtig. Ich teile zum Beispiel die Einschätzung des Chefs des Europäischen Stabilitätsmechanismus, Klaus Regling, dass wir auch die Realität betrachten müssen und nicht von theoretischen Annahmen ausgehen dürfen, wenn wir uns die europäischen Staatsfinanzen angucken. Sie haben es gerade erwähnt: Wir haben sehr niedrige Zinsen. Das bedeutet für die Tragfähigkeit der europäischen Staatsfinanzen einzelner Länder auch bei hohen Schulden oder höheren Schuldenständen eine bessere Schuldentragfähigkeit. Gleichzeitig haben wir einen großen Investitionsstau in Europa. Wir haben einen großen klimaneutralen Umbau vor uns. Wir müssen konkurrieren mit anderen Regionen in der Welt bei der Digitalisierung wie USA und China. In so einer Situation wäre es nicht sinnvoll, wenn man sagt, alles bleibt so wie es ist und wir gucken uns nicht die Realität an, sondern man muss im Kern auch gucken, was sind sinnvolle kluge Lösungen, um einerseits haushaltspolitische Stabilität zu garantieren, aber gleichzeitig auch nachhaltiges Wachstum und Investitionen finanzieren zu können.
Heinemann: Das heißt, schuldenpolitisch brechen jetzt die Dämme?
Kindler: Nein! Ich glaube, dass man die Realität betrachten muss. Ich glaube, wir haben ja in Griechenland und in anderen Staaten gesehen. Wenn man sich in einer Krise noch mehr kaputtspart und noch mehr spart, hat man am Ende mehr Schulden, weil man sich massiv in eine Rezession hineinspart und die Investitionen wegkürzt, die so wichtig sind für diesen Umbau. Denn am Ende ist die Frage bei einer Schuldenstandsbetrachtung, wieviel wirtschaftliche Entwicklung habe ich und wieviel Kreditaufnahme habe ich oder Kredite auf der anderen Seite. Gerade in einer schweren Phase der Rezession und in einer schweren Phase der Pandemie, in der wir sind, jetzt zu sehr harten Sparmaßnahmen zurückzukommen, das wäre sehr gefährlich für die Stabilität der Staatsfinanzen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
[*] An dieser Stelle haben wir einen Transkriptionsfehler korrigiert.