Kathrin Hondl: Sie hören den Deutschlandfunk, "Informationen und Musik" am 3. Oktober, dem Tag der deutschen Einheit. Zum 28. Mal gibt es diesen Nationalfeiertag des vereinten Deutschland jetzt, und irgendwann im Frühjahr war ja tatsächlich auch mal der Tag, seitdem die Berliner Mauer länger weg ist, als sie jemals stand. Kaum zu glauben, denn oft kann man ja das Gefühl bekommen, die Mauer sei, wenn überhaupt, gerade erst gefallen – zum Beispiel vor ein paar Tagen bei der Bundestagsdebatte zur Einheit, da wurde ein großes gesamtdeutsches Gespräch auf Augenhöhe gefordert. Zitat: "Hören wir einander zu?" Oder noch ein Zitat: "Anerkennung und gegenseitiges Kennenlernen". Der Schriftsteller Lukas Rietzschel ist jünger als das vereinte Deutschland, er kam 1994 in der sächsischen Oberlausitz auf die Welt, studierte in Kassel und lebt jetzt wieder in Sachsen, und zwar in Görlitz. "Mit der Faust in die Welt schlagen", so heißt der Debütroman von Lukas Rietzschel, gerade erschienen im Ullstein-Verlag. Und ich freue mich, jetzt mit ihm zu sprechen. Guten Morgen, Herr Rietzschel!
Lukas Rietzschel: Guten Morgen, hallo!
Hondl: Wie erleben Sie Einheit oder Uneinheit Deutschlands am 28. Tag der deutschen Einheit?
Rietzschel: Ja, ich bin da ehrlich gesagt zwiegespalten. Zum einen haben Sie natürlich vollkommen recht, ist die Mauer jetzt länger weg, als sie da war, aber die hallt so ein bisschen nach. Vor allem diese Nachwendezeit, die ist schon auch noch da, und die ist präsent, und vor allem diese Umbruchphase, die ist präsent, und man wird jetzt so ein bisschen damit konfrontiert, habe ich den Eindruck hier im Osten, mit den Verfehlungen dieses neuen Systems und dass es eben nicht einhalten konnte, was es versprochen hat. Da gehört also der wirtschaftliche Aspekt dazu, dass also natürlich dieser Kapitalismus erst mal auch eine Arbeitslosigkeit gebracht hat, die man vorher nicht kannte, dass er einen Mindestlohnsektor oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse mitgebracht hat, was man vorher so nicht kannte, und dass er einfach auch medial vorgeht und dass er auch ein politisches System mitgebracht hat, das man so überhaupt nicht gewohnt war. Und da sich wiederzufinden, das ist schon gar nicht so einfach, und da kann man in diesem Einheitsbericht gut lesen, wie sich natürlich die Löhne angleichen und wie das erst mal wirtschaftlich ganz gut funktioniert, aber dahinter, hinter diesen sanierten Fassaden, da ist noch eine Menge brüchig.
"Kassel war ein Kulturschock"
Hondl: Schauen wir mal hinter Ihre Fassade vielleicht, wie war das denn bei Ihnen? Also aufgewachsen sind Sie wie gesagt in Sachsen in den 90ern und 2000er-Jahren, und dann sind Sie zum Studieren nach Kassel gegangen. War dieser Schritt von Ost nach West ein großer Schritt, wie anders haben Sie Kassel erlebt im Vergleich zu Ihrer sächsischen Heimat?
Rietzschel: Ehrlich gesagt war das ein Kulturschock für mich, dann da rüberzufahren. Ich konnte nur in Kassel studieren, weil ich kein Abitur gemacht hab, und in Kassel darf man auch ohne Abitur mit der Fachhochschulreife studieren. Da bin ich also ungesehen in diese Stadt gefahren, und das waren eigentlich so zwei Ereignisse, die mich da echt schockiert haben: Das eine war das Aufbrechen meiner sehr homogenen Gesellschaftsform, die ich so kannte. Also auf einmal gab es da ja Migranten, das war ein türkisches Viertel, in das ich gezogen bin, und da gab's Moscheen und dann gab's türkische Bäcker, das hatte ich vorher nie gesehen. Das ist also schon so, dass das im Osten Deutschlands, in Teilen zumindest, gerade im ländlichen Raum, ist das ja so weit weg, diese Vorstellung, den täglichen Umgang mit ausländischen Personen zu teilen. Und das andere war: Meine WG, mein Zimmer war über dem Internetcafé, in dem damals vom NSU Halit Yozgat erschossen wurde. Ich hab also beides mitbekommen, diese Migration und aber auch – und das hat mich ja dann so schockiert – diesen rechten Extremismus, diese rechte Terrorzelle. Für mich war das völlig absurd, dass ich erst mal nach Kassel musste, in den Westen Deutschlands, um zu erfahren, was in Sachsen untergründig so grassierte. Und da schärfte sich dann auch mein Blick für den Osten noch mal ganz neu.
Hondl: Und sind Sie deshalb dann auch nach dem Studium in Kassel wieder zurückgegangen in die sächsische Provinz und ausgerechnet nach Görlitz, also nicht zum Beispiel nach Leipzig, wie man es ja vielleicht bei einem angehenden Schriftsteller erwarten könnte.
Rietzschel: Ja, gut, also Leipzig und Berlin, die langweilen mich da so ein bisschen, weil da ist alles, da ist Kultur, da ist Universität, das hab ich ja in Görlitz nun gerade nicht. Die Stadt ist zweisprachig durch die Grenzlage, sie ist erst mal günstig, und sie ist irgendwie näher an dem dran, was ich glaube, was gesellschaftlich brisant ist, was die Gesellschaft umtreibt, als in diesem sehr aufgeklärten, toleranten, jungen, auch Künstlerblasen in den Großstädten und in den urbanen Zentren. Ich hab einfach für mich gemerkt, erst mal ist das Heimat, das darf man auch nicht unterschätzen, ich bin also emotional schon auch gebunden an die Menschen hier, an die Landschaft, an die Gegend, an die Stimmung. Und andererseits ist das für mich eine Aufgabe gewesen, mich politisch zu engagieren, teilzuhaben, dagegenzuhalten, gegen die AfD, die hier das Direktmandat geholt hat für den Bundestag, die sich immer mehr breit macht, und das ist Kampf. Hier geht es wirklich um reine demokratische Beteiligung, Beteiligungsformen und darüber hinaus auch um Kulturangebote. Und diese bereitzustellen für die Stadt, für die Bevölkerung und darüber hinaus eben dann auch demokratische Beteiligungsmaßnahmen zu ermöglichen. Ich hab einfach für mich gemerkt, das ist das, wo ich wirken und wie ich arbeiten will, und eben nicht in der Großstadt, sondern schon da, wo es ein bisschen schwieriger wird, wo es ein bisschen behäbig ist und wo es manchmal einfach auch wehtun kann. Das merke ich hier am täglichen Umgang mit der AfD und mit all diesen auch rechtsextremen und rechtsextrem gerichteten Personen.
"Wir müssen einen Überbau schaffen"
Hondl: Jetzt haben Sie viel über Kulturangebote gesprochen, und ein ganz großes haben Sie ja jetzt gemacht Anfang September, Ihr Debütroman "Mit der Faust in die Welt schlagen", der hat sie ja wirklich auch schlagartig sehr bekannt gemacht. Viele Kritiker empfanden diesen Coming-of-Age-Roman über zwei Brüder in der Oberlausitz und ihren Weg in die Neonazi-Szene so als Buch der Stunde. "Spiegel Online" hat gefragt: "Hat Lukas Rietzschel mit Mitte 20 das Buch geschrieben, das erklärt, wie junge Sachsen zu rechten Gewalttätern werden?" Haben Sie das, Herr Rietzschel, beziehungsweise wollten Sie das?
Rietzschel: Nein, erst mal wollte ich es gar nicht, und ich hab das jetzt auch nicht forciert, und dann ist es halt ein Roman. Es ist ja eben nicht ein Sachbuch, was uns irgendwas erklären kann, und dieser Text, wie jeder Text, emanzipiert sich von mir, emanzipiert sich vom Autor, von der Autorin, das heißt, was darin gelesen wird, das geb ich nicht vor. Ich werte auch meine Figuren nicht, ich werte auch die Stimmung nicht, aber dadurch, dass nun eben Chemnitz wieder anstand, genauso wie vorher all diese Ereignisse mit Bautzen – nehmen Sie Pegida, Freital, Heidenau. Aber die Frage war ja schon da, warum Sachsen, warum ausgerechnet dort und warum immer wieder und warum so radikal. Und die Frage hatte ich mir ja auch 2014 gestellt, als ich angefangen hatte zu schreiben, und hab für mich auch keine Antwort so richtig gefunden. Das Einzige, was mir klar war, die Antwort liegt in der Vergangenheit, und da müssen wir einen Überbau schaffen und eben nicht wie journalistische Texte, die vielleicht mal kurz kommen, die kurz den Scheinwerfer drauf richten und wieder gehen, sondern lang die Perspektive mit sehr vielen Familienmitgliedern, mit den Freunden alle drumherum, das alles einzubinden, das war der Anspruch. Ob mir das gelingt, das kann ich auch nicht beurteilen, auch das machen die Leserinnen, die Leser, macht die Presse, ich hab einfach nur ein Buch geschrieben.
Hondl: Ja, ein Buch, einen Roman, und der erzählt ja nicht nur, wie ich es vorhin angedeutet habe, so die Radikalisierungsgeschichte von diesem Philipp und besonders Tobi, dem jüngeren der beiden Brüder, der beschreibt ja in gewisser Weise auch wirklich die Radikalisierung oder das politische Entgleiten fast schon einer ganzen Gesellschaft oder zumindest eines Großteils davon. Wollten Sie mit diesem Roman denn auch Verständnis oder vielleicht sogar Empathie ermöglichen, schaffen für die Situation der Menschen in Ostdeutschland, in Sachsen?
Rietzschel: Genau, zumindest die Perspektive schärfen, mal draufzeigen, was hier los ist, und eben auch die Nachwendezeit zu beleuchten. Und für mich war das schriftstellerisch schon auch eine Herausforderung, an diesen Figuren dranzubleiben, für die auch Empathie mitzubringen und auch vom Leser auf eine gewisse Art und Weise auch abzuverlangen, denn was diese Figuren ja im Roman teilweise gar nicht sind, ist ja eben, empathiefähig zu sein. Das ist dann schon auch schwierig, also wie nah kann ich einer Figur sein, die anderen gar nicht nah sein möchte, die das ablehnt, die andere ablehnt. Das war für mich eine Herausforderung, das eben mal zu beleuchten in der Nachwendezeit, also nicht nur dieses, ja, wir haben den Mauerfall und wir haben einen Bruch, sondern was ist danach eigentlich schiefgelaufen, wie sind die Leute ins Straucheln geraten, wie haben die versucht, irgendwie den Kopf über Wasser zu behalten. Und in welchen absurden Versuchen das sich dann äußert, sehen Sie ja, wie diese Familie am Anfang völlig auf dem grünen Acker dieses Einfamilienhaus baut, weil sie jetzt die Möglichkeit haben, weil die Kredite da sind, weil sie einfach glauben, das ist jetzt so das Ding und wir machen das jetzt, in diesem neuen Deutschland haben wir teil am Wohlstand. Aber dass das nicht so richtig aufgeht, das erfährt man in dem Roman nicht.
"Ich dachte, ich sei ein Nestbeschmutzer"
Hondl: Wie ist der Roman eigentlich so in Ihrer Heimat aufgenommen worden, also haben Sie Kommentare bekommen, was weiß ich, von Ihren ehemaligen Mitschülern, aus der Familie, von Nachbarn zum Beispiel?
Rietzschel: Ich hab wirklich gedacht eine ganze Weile, dass ich da jetzt als der Nestbeschmutzer ankomme, dass ich jetzt der bin, der jetzt schon wieder Ostdeutschland, das Themenfeld, mit dem Themenfeld Rechtsextremismus verbindet. Aber es ist eben genau das Gegenteil eingetreten. Hier sind Leute auf mich zugekommen und meinten, wir haben das auch so erlebt, und das ist gut, dass die nicht gewertet wurden, diese Figuren. Und da muss man auch aufpassen, dass man die Verlierer nicht als Verlierer bezeichnet, nur weil man das so wahrnimmt, das sind sie ja gar nicht, oder es gibt eben dann nicht das Gute und das klar Böse. Ich glaube, diese Bevormundung ist vor allem das, was hier so aufstößt, und das lass ich ja nun ganz bewusst raus. Ich hab überwiegend positive Resonanzen bekommen, vom Literarischen mal abgesehen, da kann man mal drüber streiten, aber zumindest inhaltlich kam das dann doch für mich erschreckend gut an, ehrlich gesagt.
Hondl: Ja, um jetzt vielleicht zum Schluss unseres Gesprächs dann doch noch mal einen Politiker zu zitieren, den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der hat jetzt zum Tag der deutschen Einheit besonders die Rolle von Kunst und Kultur sehr betont – Motto: Kultur verbindet. Teilen Sie also diese Hoffnung, diese Idee?
Rietzschel: Das glaube ich schon ganz, ganz stark, dass Kultur was Verbindendes hat und dass vor allem Kunst Perspektiven eröffnen kann, weiten kann, und das Idealbild von Kunst ist, also für mich zumindest, dass man einen Einfluss hat auf die Zivilgesellschaft, dass man die unterstützen kann, dass man auch Politik vielleicht irgendwie erreicht, nicht nur durch Petitionen, sondern dadurch, dass man vielleicht mal fragen würde, was Angela Merkel eigentlich so für Bücher liest. Also mich würde das schon mal interessieren, denn das sagt ja auch was über Personen. Ich glaube, dass diese Konfliktlinie heute da verläuft, zwischen all denen, die sich global orientieren, und all denen, die national nicht geistig, aber dann örtlich vor allem zurückbleiben, die die Möglichkeiten nicht wahrnehmen, an dieser geöffneten Welt teilzuhaben und teilzunehmen, und dass die sich eben dann auch schwerer zurechtfinden in dieser globalisierten Welt. Und da müssen wir gucken, dass wir die alle irgendwie dabei behalten, dass wir die einbinden, und ich hoffe, dass in meinem Fall die Literatur da einen Beitrag leisten kann.
Hondl: Die Somewheres und die Anywheres. Vielen Dank! Lukas Rietzschel war das, Schriftsteller aus Sachsen, "Mit der Faust in die Welt schlagen", so heißt sein Debütroman, Anfang September erschienen im Ullstein-Verlag. Vielen herzlichen Dank!
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