Ganz egal, wo man ist auf der Welt. Am Beginn einer Karriere heißt es immer: Üben, Üben, Üben. Zwei, drei Stunden am Tag, sagt André. Aber das reicht nicht aus, wenn man große Vorbilder hat.
"Ich liebe Hillary Hahn! Einmal war ich bei ihr im Konzert und hab sie danach kennen gelernt."
Es muss ja nicht gleich eine Musikerkarriere wie die von Hillary Hahn sein. Doch selbst für eine einfache Musikerlaufbahn sind die Bedingungen für brasilianische Musiker wie André denkbar ungünstig. André lebt in Heliopolis, der größten Favela Brasiliens. 200.000 Menschen leben hier auf engem Raum, der Blick fällt auf rohe Backsteinwände und blaue Wassertanks. Mitten auf der wuseligen Estrada das Lagrimas, der Tränenstraße, liegt das Instituto Baccarelli.
Sinfonieorchester des Instituts ist in der Welt unterwegs
Während André in einer schmucklosen Übezelle Tonleitern spielt, lärmt nebenan die musikalische Früherziehung. 1.200 Kinder und Jugendliche zwischen vier und 28 Jahren kommen regelmäßig ins Institut. Sie spielen in vier Orchestern, singen in 16 Chören. Das Sinfonieorchester des Instituts hat schon beim Bonner Beethovenfest gespielt, war im Vatikan und den Vereinigten Staaten. In jedem großen brasilianischen Orchester sitzen Absolventen des Instituts. Eine von ihnen ist Tamires Camisaca. Gerade hat sie die Nachricht bekommen, dass sie in einem Orchester am Stadttheater von Sao Paulo Horn spielen wird. Schaut sie zurück, kann sie es gar nicht glauben.
"In meiner Familie ist niemand musikalisch. Am Anfang fanden sie das daher ganz nett und unterstützten mich nach Kräften. Aber irgendwann sagten sie zu mir: Das reicht jetzt, du musst nun Geld verdienen."
Aber mit der Musik aufzuhören, war für Tamires Camisaca keine Option. Sie zog von zu Hause aus, schlug sich durch – und verbrachte jede freie Minute im Instituto Baccarelli. Eine Wunschkarriere fest vor Augen, die aber für viele Kinder und Jugendliche eben das bleibt: ein frommer Wunsch. Aber darum geht es auch gar nicht, sag Edmilson Venturelles, einer der Leiter des Instituts.
"Wir haben herausgefunden, dass die Musik bei den Kindern eine ganze Reihe von Kernkompetenzen fördert."
Logisches Denken, sagt er, Disziplin, Zusammenarbeit, Arbeitsteilung,
"Selbst die Absolventen, die keine Musiker werden, können so auf dem Arbeitsmarkt punkten. Und das ist der große Effekt, den wir bei den meisten Jugendlichen hier bewirken wollen."
Jugendliche kommen oft aus sozial schwachen Familien
Für die Jugendlichen ist die musikalische Ausbildung ein Blick in eine andere Zukunft. Viele von ihnen, so wie auch André und Tamires, kommen aus sozial schwachen Familien. Sie sind besonders anfällig für die Verlockungen der organisierten Kriminalität: schnelles Geld und Anerkennung.
"Die Kunst gibt ihnen eine Bühne und eine Botschaft. Sie gibt ihnen eine Stimme und das Recht, diese auch zu erheben. Denn die Mehrheitsgesellschaft spricht ihnen das Recht darauf ab – so ergeht es den meisten Bewohnern einer brasilianischen Favela, die ein Leben in Armut führen."
Was im Instituto Baccarelli örtlich begrenzt ist, findet weiter nördlich, im Bundesstaat Bahia, schon flächendeckend statt. In jeder größeren Stadt gibt es ein Musikprojekt, ähnlich dem Instituto Baccarelli. Hier findet die Grundausbildung statt. Wollen die Kinder tiefer in die Musik eintauchen, dann können sie an Probespielen teilnehmen, erst für die kleineren regionalen Orchester und schließlich für die vier großen Orchester des Bundesstaates. Bis sie irgendwann mit dem Jugendsinfonieorchester von Bahia auf große Tour gehen. Dirigiert wird das Orchester von Marcos Rangel:
"Diese Pyramidenform gibt den Kindern immer wieder die Möglichkeit sich selbst zu entscheiden. Am Anfang spielen sie nur in ihrer Heimatstadt. Außer pünktlich zu sein und ab und zu auf der Bühne zu stehen gibt es keine Verpflichtungen. Wenn sie es dabei belassen wollen, haben sie aber zumindest schon mal das gelernt. "
Das Projekt ist inspiriert vom venezolanischen El Sistema. Der Dirigent José Antonio Abreu hat in den 70ern ein landesweites Projekt gegründet, aus dem Musiker wie der Dirigent Gustavo Dudamel hervorgegangen sind.
"Und darin liegt der Schlüssel für die Veränderung. Wenn die Jugendlichen verstehen, dass sie die Entscheidung für ein besseres Leben selbst in der Hand haben, dann können sie mit dieser Haltung einiges bewirken."
Hier kommen unterschiedlichste Menschen zusammen
Fast 7.000 Kinder erreicht das Projekt im ganzen Bundesstaat Bahia. Bis 2022 sollen es nochmal doppelt so viel sein, erklärt Ricardo Castro, der das Projekt vor 12 Jahren ins Leben gerufen hat.
"Wir glauben, dass die Orchester und Ensembles der einzige Ort sind, an dem Menschen mit unterschiedlicher Religion, Meinung und sozialer Herkunft noch friedlich zusammen kommen können – und dass alles mit dem Ziel, mit Musik etwas Schönes zu schaffen."
Das klingt zunächst etwas pathetisch, allerdings gehört Brasilien zu den ungleichsten Ländern der Welt. Die Mittelschicht schottet sich in gesicherten Wohnanlagen vor der ausufernden Kriminalität ab, schickt ihre Kinder auf Privatschulen und wählt rechts. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder aus armen Verhältnissen andere Lebensentwürfe kennenlernen, ist gering. Brasilien steckt seit einigen Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise: Die Arbeitslosigkeit steigt rasant und auch der Politik fehlt es an Steuereinnahmen, um Änderungen anzustoßen. Marcos Rangel:
"Der Staat kann nicht mehr für alles verantwortlich sein. Wir müssen die Verantwortung mit der Zivilgesellschaft teilen, mit Unternehmen."
Die Regierung unter Präsident Bolsonaro hat vor kurzem das Gesetz geändert, mit dem Unternehmen Kulturprojekte fördern können. Kleinere Projekte, die wie das Instituto Baccarelli einen sozialen Fokus haben, sollen bevorzugt werden. Die großen Profi-Orchester werden allerdings benachteiligt: 80 Prozent der Projekte, so heißt es, werden im nächsten Jahr nicht mehr fortgeführt werden können. Es wird also weiter viel musikbegeisterten Nachwuchs aus den Favelas geben. Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Krise in Brasilien fragt sich nur, ob sie – als Musiker oder auch nicht – davon auf dem Arbeitsmarkt profitieren können.