Es war noch einmal ein Temperamentsausbruch. Wüst auf ukrainisch fluchend, stieg die Angeklagte Nadjeschda Sawtschenko am letzten Verhandlungstag im Gericht im südrussischen Donezk auf die Bank in ihrem Glaskasten und zeigte dem Richter vor laufenden Fernsehkameras den Mittelfinger. Dann ließ sie einen Dolmetscher ihr Schlusswort verlesen.
"Ich erkenne meine Schuld nicht an und auch kein Urteil eines russischen Gerichts. Einen Schuldspruch werde ich nicht anfechten. Ich will, dass die gesamte demokratische zivilisierte Welt begreift, dass Russland ein Drittweltland mit einem totalitären Regime und einem diktatorischen Despoten ist, das Menschenrechte und internationales Recht mit den Füßen tritt."
Keine aussagekräftigen Dokumente in der Anklage
Die russische Staatsanwaltschaft hat 23 Jahre Haft für die Ukrainerin gefordert. Sie wirft der 34-jährigen Kampfpilotin mehrfachen Mord vor. Im Sommer 2014 soll sie den Aufenthaltsort zweier Mitarbeiter des russischen Staatsfernsehens im Donbass an das ukrainische Militär weitergegeben und danach illegal die Grenze nach Russland überquert haben. Die beiden russischen Fernsehmitarbeiter wurden bei einem Artillerieangriff getötet. Die Verteidigung argumentiert, Sawtschenko sei zu dem betreffenden Zeitpunkt bereits in Gefangenschaft der prorussischen Separatisten gewesen, und sie sei nach Russland entführt worden.
Viktoria Makarenko ist Reporterin der kremlkritischen Zeitung "Nowaja Gaseta" und hat weite Teile des Prozesses im Gerichtssaal verfolgt. "Meiner Ansicht nach gibt es weder direkte noch indirekte Beweise für Sawtschenkos Schuld. Ich habe auch die Anklageschrift gelesen. Ich hatte darin aussagekräftige Dokumente erwartet. Aber es sind nichts als Worte."
Fragwürdig ist nach Ansicht von Prozessbeobachtern vor allem die Behauptung der Anklage, Sawtschenko habe, nachdem sie von Separatisten gefasst und wieder freigelassen wurde, freiwillig die Grenze nach Russland überquert, anstatt zu den ukrainischen Truppen zurückzukehren.
Appelle von Steinmeier und Biden
Die Angeklagte, die 2014, bereits in russischer Haft, in das ukrainische Parlament gewählt wurde, hat mehrfach mit einem Hungerstreik gegen das Verfahren protestiert. Ihre Anwälte hoffen auf einen Austausch mit russischen Soldaten, die in der Ukraine gefangen sind. Zahlreiche westliche Politiker haben sich für eine Freilassung Sawtschenkos eingesetzt, darunter Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und US-Vizepräsident Joe Biden. Russlands Präsident Wladimir Putin indes ließ US-Präsident Barack Obama in einem Telefonat vor einer Woche wissen, dass Russland derlei Forderungen als Einmischung in die russische Gerichtsbarkeit verstehe und zurückweise. Zuletzt gab es Sorge um Sawtschenkos Gesundheitszustand. Ärzte aus der Ukraine wollten nach ihr sehen, erhielten aber keine Erlaubnis. Russlands Außenminister Sergej Lawrow begründete das so: "Der Richter war bereit, den Besuch der Ärzte zu erlauben. Aber weil Nadjeschda Sawtschenko vor Gericht nur darauf aus war, den Richter zu beleidigen, sah er sich zu keinem Entgegenkommen in der Lage."
In der Ukraine ist Sawtschenko längst zu einer Ikone des Widerstands gegen die russische Aggression geworden. Zur Urteilsverkündung sind mehrere Abgeordnete des ukrainischen Parlaments angereist.