Die letzte PISA-Studie liegt nun fast sechs Monate zurück. Derzeit arbeiten die Bildungsforscher der OECD schon an der nächsten Ausgabe für Dezember 2021. In der PISA-Studie werden zum Beispiel die Kompetenzen der 15-jährigen Schülerinnen und Schüler im Bereich Mathematik international verglichen.
OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher beschreibt im Interview mit dem Dlf unter anderem, wie sich die Coronakrise auf die Schule auswirken könnte.
Regina Brinkmann:Wie tragen sie der derzeitigen besonderen Situation Rechnung bei der nächsten PISA-Studie?
Andreas Schleicher: Zunächst einmal hat die Coronakrise gezeigt, dass es auch darum geht, einen weiteren Bereich von Kompetenz abzudecken. Der nächste PISA-Zyklus wird deswegen auch kreatives Denken noch mal besonders berücksichtigen, aber auch soziale, emotionale Kompetenz, denn eins haben wir gesehen: In einer Krise wie dieser kommt es drauf an, ob Schüler ihre eigenen Lernziele setzen können, ob sie ihr Lernen selbstständig gestalten können, auch unabhängig jetzt von Bildungseinrichtungen. Und ich denke, das ist wichtig, das zu berücksichtigen, auch im Hinblick auf die zukünftige Gestaltung von Bildung.
Brinkmann: Wie wollen Sie diese Kompetenzen, diese sozialen, kreativen Kompetenzen denn abfragen?
Schleicher: Ja, für kreatives Denken sind wir schon relativ weit, dort geht es um einen Test, wo Schüler alternative Lösungswege entwickeln müssen, auch selber die Originalität ihrer Lösung bewerten müssen. Das ist schon relativ weit gediehen. Bei sozialen, emotionalen Kompetenzen ist es noch schwieriger. Wir haben uns zunächst mal auf das Growth Mindset fokussiert, also inwieweit sehen Schüler ihre eigenen Möglichkeiten, ihre Lernwege zu gestalten, und das wird zunächst noch mal eine Selbstbefragung sein, also noch keine direkte Messung.
Wir werden aber auch die Erfahrungen, die junge Menschen gemacht haben in dieser Krise, abfragen. Das ist, glaube ich, auch wichtig. In verschiedenen Schulen, verschiedenen Ländern haben die Schüler ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Und ich denke, daraus können wir lernen auch für die Zukunft.
Brinkmann: Jetzt haben Sie schon mal so drauf hingewiesen, dass es ein neues Testmodul geben soll. Werden mathematische Kompetenzen so wie immer überprüft. Oder fließt dabei auch die besondere Situation mit ein, unter der Schülerinnen und Schüler das zu Hause und mehr oder weniger gut digital betreut erlernen mussten?
Schleicher: Ja, also Mathematik wird ein Schwerpunkt sein der nächsten PISA-Studie. Aber wie gesagt, es geht auch darum, kreatives Denken stärker zu berücksichtigen. Wir haben auch ein Modul zum Computational Thinking. Also Mathematik ist heute eben nicht nur Rechnen, sondern auch: Verstehen Schüler, wie ein Algorithmus funktioniert? Also wir haben uns sehr auf die Zukunft fokussiert hier. Das sind neue Aspekte, die wir bei PISA mit aufnehmen.
Aber auch auf die Lernbedingungen und das Lernumfeld in der Coronakrise werden wir eingehen, also inwieweit sind Schüler in der Lage und auch darauf vorbereitet, ihr Lernen selber in die Hand zu nehmen, wie sie es ja jetzt notgedrungen mussten? Aber da kann man eigentlich auch Möglichkeiten für die Zukunft sehen. Digitalisierung wird eine entscheidende Rolle spielen. Auch das hat die Coronakrise gezeigt, dass wir besser werden müssen, digitale Möglichkeiten kreativer im Unterrichtsgeschehen zu nutzen. Und auch dazu werden wir den Schülern Fragen stellen.
"Soziale Ungleichheit im Bildungssystem in Deutschland noch einmal deutlich verstärkt"
Brinkmann: Also wird das ein PISA-Test, der in besonderem Maße belegen wird, wie gut es mit der digitalen Bildung klappt?
Schleicher: Absolut. Ich denke, das ist ja auch wichtig, nicht nur in Bezug auf diese jetzige Krise, sondern auch in Bezug auf die zukünftige Gestaltung von Bildungsprozessen. Also die Digitalisierung schafft fantastische Möglichkeiten, Lernen spannender zu machen, interaktiver, kollaborativer. Ich denke, es geht auch darum, dass Schüler einen breiteren Zugriff haben auch auf Ressourcen. Und das Lernen kann interaktiver sein. Also ich denke, die Digitalisierung schafft fantastische Möglichkeiten, Lernen interessanter und auch personalisierter zu gestalten. Ich denke, die PISA-Studie ist ein geeignetes Instrument, zu sehen, inwieweit das in verschiedenen Ländern fortgeschritten ist, auch gerade jetzt noch mal beschleunigt in dieser Krise.
Brinkmann: Ja, und wenn Sie sich da Deutschland angucken: Stimmt Sie das in irgendeiner Weise hoffnungsfroh, wie die Situation jetzt hier gerade bewältigt wird? Oder sehen Sie da so eine Art verlorenes Bildungsjahr für die Schülerinnen und Schüler, dessen Auswirkungen Sie womöglich noch in weiteren PISA-Studien entdecken werden?
Schleicher: Ich denke, auf der einen Seite gibt es viele Schüler, denen das gut gelungen ist, die auch sehr gut unterstützt worden sind durch ihr Umfeld, häusliches Umfeld, das Umfeld der Schule. Also viele Schulen haben das gut in den Griff bekommen. Aber ganz sicher auch gibt es einen großen Teil von Schülern, die dort sehr stark benachteiligt worden sind. Im Grunde hat diese Krise die soziale Ungleichheit im Bildungssystem in Deutschland noch einmal deutlich verstärkt, und ich denke, das wird sich sicherlich auch irgendwo in Resultaten dann niederschlagen. Aber ich denke, Deutschland – auch durch den Digitalpakt – hat das in die Hand genommen jetzt, ich glaube, bei der Ausstattung von Schulen geht vieles voran. Den größten Mangel sehen wir immer noch bei der Vorbereitung der Lehrkräfte und Schulleitung. Also da liegt Deutschland auch, lag Deutschland in der letzten PISA-Studie noch deutlich zurück.
"Stundendeputate in Deutschland recht hoch"
Brinkmann: Wie sollten sie denn aus Ihrer Sicht unterstützt werden?
Schleicher: Ja, zum einen mal sind die Stundendeputate in Deutschland recht hoch, das heißt, Lehrkräfte haben relativ gesehen weniger Zeit. Wenn wir das mit Ländern in Asien vergleichen zum Beispiel oder auch Nordeuropa: Dort haben Lehrkräfte einfach mehr Zeit, sich an der Gestaltung von Unterrichtskonzepten zu beteiligen, auch digitale Medien nicht nur zu nutzen, sondern auch zu entwickeln. Ich glaube, das ist sehr wichtig. Lösungen werden eigentlich immer am besten von den Menschen umgesetzt, die sie auch irgendwo mit entwickeln. Und das ist in Deutschland zu sehr, in meinen Augen, getrennt. Also die Lehrkräfte unterrichten und andere Leute entwickeln die Lösungen. Ich glaube, das muss man besser miteinander verbinden. Das ist einfach ein Zeitfaktor.
Ich denke, es geht aber auch darum einfach, bessere Weiterbildungsmaßnahmen anzubieten. Wenn Sie heute nach Singapur schauen, da sind die Lehrkräfte selbstverständlich mit mehr als 100 Stunden pro Jahr beteiligt im Grunde an Entwicklung und Professionalisierung. Das ist wichtig in meinen Augen, aber auch einfach die gemeinsame Arbeit der Lehrkräfte. Und was heute in Deutschland noch die Ausnahme ist, dass Lehrkräfte sich andere Unterrichtseinheiten anschauen, gemeinsam im Schulverband an neuen Lösungsansätzen arbeiten, das muss in der Zukunft die Regel werden.
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