Barbara Demick tut das, wofür viele Journalisten unter dem Druck der Aktualität oft keine Zeit haben: sie schreibt langsam, recherchiert über Jahre, verbringt viele, viele Stunden mit ihren Interviewpartnern. In der Vergangenheit ist es ihr damit gelungen, beispielsweise in "Im Land des Flüsterns" den Alltag in Nordkorea lebendig werden zu lassen. Die gleiche Methode wendet sie in ihrem neuen Buch an, "Buddhas vergessene Kinder." Demick beschreibt das Leben von einem knappen Dutzend Personen in Ngaba, einer Stadt am östlichen Rand des tibetischen Hochplateaus.
"Ich arbeite gerne mit Mikrokosmen. Ich nehme mir einen kleinen Ort vor und schaue mir von dort das große Ganze an. Ich wollte mir eine tibetische Stadt vornehmen, um die Struktur des Alltags zu begreifen, denn Tibet ist ja so unendlich groß. Und als ich anfing zu suchen, musste es einfach Ngaba sein."
Die Wahl war nicht zufällig. Die tibetische Stadt Ngaba mit gerade mal 15-tausend Einwohnern gehört administrativ zur Provinz Sichuan und hat traurige Berühmtheit erlangt durch die vielen Selbstverbrennungen dort. Fast ein Drittel der über 150 Selbstverbrennungen seit 2009 fanden in Ngaba und dem dortigen großen Kloster Kirti statt.
Gespräche mit Einwohnern und Exilanten
Dieser Ort ist für ausländische Journalisten kaum zugänglich, zeitweise überstieg die Zahl der Soldaten und Polizisten die Zahl der Einwohner um ein Mehrfaches. Dass es Demick, viele Jahre China-Korrespondentin der Los Angeles Times, dennoch gelang, die Stadt mehrfach zu besuchen, Interviews zu führen und Menschen aus Ngaba zu finden, die mittlerweile im Exil in Indien leben und daher offener sprechen können, macht das Besondere ihres Buches aus. Hier kommen Menschen zu Wort, die sonst keine Stimme haben, deren Geschichten und Geschichte meist ungehört bleiben.
"Ich wollte den Lesern ein Gefühl für die Tibeter von heute geben, wie ihr Leben aussieht, normale Leute. Wie bei meinen früheren Büchern, versuche bei den Lesern Empathie zu wecken für Menschen, die sehr fremd scheinen, deren Namen sie nicht aussprechen können, die so ganz anders aufgewachsen sind."
Unter den Protagonisten: Pemba, die noch als Mädchen mit einem Verwandten zwangsverheiratet wurde und sich als Verkäuferin auf einem Markt durchschlägt; der Basketball-begeisterte Nomaden-Sohn Dongtuk, der Mönch wird, gegen die Regeln des Klosters rebelliert und dann gegen die Chinesen. Einziger Ausweg ist schließlich die Flucht nach Indien. Oder Gonpo: Sie war die Tochter des letzten tibetischen Königs der Region Ngaba, später angepasste Vorzeige-Tibeterin im kommunistischen China, auch sie lebt heute in Indien im Exil.
Historische Daten bilden den Rahmen
Ihre Erinnerungen verwebt Demick geschickt mit historischer Forschung. So war Ngaba bereits in den 1930er Jahren einer der ersten Orte, wo Tibeter und Chinesen aufeinandertrafen – die Kommunisten von Mao Zedong kamen bei ihrem Langen Marsch durch Ngaba und führten sich wie Besatzer auf.
"Mao selbst kam nicht durch Ngaba, aber der Oberkommandierende der Roten Armee, Zhu De, wählte für (seine Unterkunft) die Versammlungshalle des Klosters Kirti, die größte der Gegend. Die Rotarmisten rissen Bodendielen und Dachsparren heraus, die ihnen als Brennholz dienten, und zogen Thangkas von den Wänden, um die Leinwände als Sitzgelegenheiten zu verwenden. Kupferschalen und Silberstatuen wurden zur Herstellung von Kugeln eingeschmolzen."
Auch der chinesische Einmarsch in Tibet 1950, die Massaker an der Zivilbevölkerung, die Zwangskollektivierungen, der Aufstand von 1959 und die Zerstörungen während der Kulturrevolution haben sich tief ins kollektive Bewusstsein eingegraben. Vielleicht, so Demick, sind die historischen Wunden in Ngaba besonders tief und ist die Kleinstadt deshalb immer wieder Ort des Widerstands.
"In der Vergangenheit hatten Tibeter noch erbittert gegen die Rote Armee angekämpft, aber bei den Selbstverbrennungen richtete sich die Gewalt nach innen."
Die eigene Identität leben
Demick recherchiert aufwendig und mit einem genauen Blick für Details. Sie erfindet nichts dazu, sagt sie, auch keine Dialoge. Sie weiß um das Trügerische der Erinnerung, versucht, Aussagen durch historische Belege zu untermauern. Wie bei einem Puzzle entsteht aus vielen Einzelteilen ein differenziertes Gesamtbild – von einem Tibet, das unter Chinas Gewaltherrschaft furchtbar gelitten hat und leidet, das aber auch profitiert von sozialem und ökonomischem Fortschritt unter der Kommunistischen Partei. Und von Menschen, deren Träume und Hoffnungen sich von denen anderer gar nicht so sehr unterscheiden:
"Sie wollen reisen können, ihre eigene Sprache sprechen, ihrer eigenen Religion nachgehen und ihrem Lebensstil folgen. Viele haben mir immer wieder gesagt, sie wären bereit den China-Traum von Xi Jinping zu unterstützen – aber dieser Traum sei halt nicht für sie da."
Auch das macht Demick in ihrem spannenden und lesenswerten Buch deutlich: Die Tibeter wollen einfach nur sie selbst sein, frei in ihren Gedanken und Entscheidungen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Barbara Demick: "Buddhas vergessene Kinder. Geschichten aus einer tibetischen Stadt"
Aus dem Amerikanischen von Barbara Steckhan und Karola Bartsch
(Droemer Verlag, München)
384 Seiten, 22 Euro.
Aus dem Amerikanischen von Barbara Steckhan und Karola Bartsch
(Droemer Verlag, München)
384 Seiten, 22 Euro.