In Israel ist die Ära von Benjamin Netanjahu vorerst beendet. Er wurde abgelöst durch ein Acht-Parteien-Bündnis: eine breite Allianz aus rechtskonservativen, moderaten und linken Kräften sowie Ra'am - einer arabische Partei. Premierminister wird für die ersten zwei Jahre Naftali Bennett, Vorsitzender der Partei "Jamina" (übersetzt: "Die Rechte"). Danach soll er das Amt an Jair Lapid von der liberalen Zukunftspartei ("Jesch Atid") übergeben. Bis dahin ist Lapid Außenminister.
Die neue Regierung hat eine wackelige Waffenruhe und eine große Zahl komplexer Konflikte übernommen. Was ist von Bennett und Lapid zu erwarten im Hinblick auf die Zwangsräumungen in Sheikh Jarrah. Wie steht die neue Regierung zur Siedlungspolitik? Und wie steht sie zu den "Abraham-Abkommen", den so genannten Friedensverträgen mit Ländern wie den Vereinigten arabischen Emiraten oder Bahrain?
Die neue Regierung Israels will sich gegenüber der Hamas im Gazastreifen gar nicht so sehr von der alten Regierung abheben. Das liegt auch daran, dass der alte Verteidigungsminister der neue Verteidigungsminister ist: Der frühere Armeechef Benny Gantz. Sowohl unter Premier Benjamin Netanjahu als auch unter dem neuen Premier Naftali Bennett versucht sich Israel an einem Spagat: Die Regierung will Stärke gegenüber der Hamas demonstrieren, ohne damit einen neuen Krieg auszulösen. Das klingt kompliziert und ist es auch. Auch vermeintlich kleine Angriffe aus dem Gazastreifen - etwa Luftballons mit Brandsätzen - sollen von der israelischen Armee nun mit Härte vergolten werden. Das hatte die Armee nach dem Ende der letzten kriegerischen Auseinandersetzung klargestellt.
Gleichzeitig hat Israel - ohne das groß zu verkünden - die Blockade des Gazastreifens in den letzten Wochen immer weiter gelockert. Nach einer zwischenzeitlichen Unterbrechung der Waffenruhe, ist es nun seit etwa zwei Wochen weitgehend ruhig. Kritikerinnen und Kritiker warfen Ex-Premier Netanjahu manchmal vor, ein Interesse an einer Eskalation mit der Hamas zu haben. Weil diese sein politisches Überleben sichere. Dieser Vorwurf wurde nie erhärtet. Sicher ist aber: Die neue Acht-Parteien-Regierung hat absolut kein Interesse an einer neuen kriegerischen Auseinandersetzung. Denn diese könnte - auch wegen der Beteiligung einer arabischen Partei - zum Ende des fragilen Bündnisses führen.
Auch hier gibt es keine großen Unterschiede zur früheren Regierung. Ost-Jerusalem ist völkerrechtlich durch Israel besetzt. Israel betrachtet das Gebiet aber als natürlichen Bestandteil seines Staatsgebietes. Auch die neue Regierung verweist deshalb auf Gerichte, die den Status von Grundstücken und Häusern in Ost-Jerusalem klären müssten. Ein sehr politisches Konfliktthema wird damit nach der Darstellung Israels entpolitisiert. Durch Israels Regierung geht dabei ein Riss: Die linken und die arabische Partei lehnen die Methoden und Pläne der rechtsnationalen Siedler, Palästinenser aus Ost-Jerusalem zu vertreiben, ab. Die rechten Parteien im Bündnis repräsentieren diese Siedler aber teilweise. Deshalb wird das Thema möglichst ausgespart, um keine Regierungskrise zu riskieren. Dennoch kann die neue Regierung die Ereignisse in Ost-Jerusalem beeinflussen: So könnte eine neue Führung der Polizei auf mehr Deeskalation der Sicherheitskräfte drängen.
Ra'am will zeigen, dass an arabischen/palästinensischen Parteien in Israel kein Weg vorbei führt. Zur Erinnerung: Ohne Ra'am hätte die neue Regierung gar keine Mehrheit. Ra'am will auch zeigen, dass sich politische Beteiligung für arabische/palästinensische Israelis lohnt. So wurde Ra'am von der neuen Regierung zugesichert, Beduinendörfer in der Wüste Negev anzuerkennen und dort ein Krankenhaus zu bauen. Dass Ra'am Teil der Regierung ist, ist eine Chance. Eine Chance, zu zeigen, dass Kooperation auch zwischen rechten israelischen Parteien mit arabischen Israelis möglich ist. Manche hoffen, dass die Kooperation das Land auch nach der Gewalt zwischen Juden und Arabern im Mai heilen kann. Allerdings: Ra'am steht nur für einen Teil der arabischen/palästinensischen Bevölkerung Israels und wird von vielen äußerst skeptisch betrachtet.
Die Erwartungen halten sich in Grenzen. Premier Bennett machte schon in seiner Antrittsrede klar: Die Regierung will sich auf Gemeinsamkeiten konzentrieren und Konfliktthemen aussparen. Die Besatzung des Westjordanlandes und Israels Siedlungspolitik ist so ein Konfliktthema. Ein Thema aussparen, bedeutet: Die bisherige Politik wird eher fortgeführt. Also etwa der Ausbau von Siedlungen im Westjordanland. Die linken und die arabische Partei im Bündnis kritisieren das bisher kaum.
Vor kurzem kam die Regierung den Siedlern eines Außenpostens, der sogar nach israelischem Recht illegal ist, entgegen: Die Einwohner von Evyatar müssen den Außenposten zwar verlassen. Dort soll es nun aber eine Religionsschule samt Armeepräsenz geben. De facto wird Evyatar also nicht geräumt. Beobachter werten das als deutliches Zeichen, dass die neue Regierung gegenüber Siedlern im Westjordanland nicht anders auftreten wird. Israels Premier Bennett hat angekündigt, den Konflikt zu "verkleinern", also etwa Reibungspunkte an Checkpoints abzubauen. Das könnte in der Tat das Leben der Palästinenser erleichtern. Eine Rückkehr zu Verhandlungen mit den Palästinensern oder ein Bekenntnis zu einer Zweistaatenlösung ist das aber absolut nicht.
Hier hat der Architekt der neuen Regierung sofort Akzente gesetzt: Yair Lapid. Alternierender Premierminister und aktuell Außenminister. Zwar wird sich im Verhältnis zu Ägypten (Zusammenarbeit der Armeen und Geheimdienste, kalter Frieden der Menschen) und Syrien und dem Libanon (kein Frieden) nicht viel ändern, der Blick auf Jordanien ist aber spannend. Jordanien war lange Zeit der wichtigste arabische Verbündete der USA und Israels. Unter Premier Netanjahu und US-Präsident Trump litt das Verhältnis aber. Zugunsten von Saudi-Arabien. In seiner ersten Rede im Außenministerium stellte Yair Lapid klar: Er wolle das wieder reparieren. Jordanien sei ein enorm wichtiger Verbündetet. Ohnehin tritt Lapid deutlich diplomatischer auf, als Vertreterinnen und Vertreter der früheren Regierung.
Yair Lapid reist kürzlich als erster israelischer Außenminister in die Vereinigten Arabischen Emirate. Die neue Regierung betrachtet die Annäherung mit gleich großem Enthusiasmus wie die alte. Auf das neue Bündnis kommt aber eine Menge Arbeit zu: Die neuen Abkommen müssen mit Leben gefüllt werden. Und: Die Akzeptanz der Annäherung mit Israel ist in Teilen der Zivilbevölkerung - vor allem im Sudan und in Marokko - noch ausbaufähig.
In Washington und vielen - nicht allen! - Hauptstädten der EU war fast schon ein Seufzer der Erleichterung hörbar, als das vorläufige Ende der Ära Netanjahu als Premier feststand. Politisch gibt es auch zwischen Bennett und den Bündnispartnern Differenzen. Menschlich klappt es aber deutlich besser. Netanjahu betonte seine Nähe zu den Trumps, Bolsonaros und Orbans dieser Welt. Das kam bei den US-Demokraten und vielen EU-Staaten nicht gut an. Mit der neuen Regierung - etwa mit Yair Lapid – ist das Verhältnis auf diplomatischer Ebene schon jetzt deutlich entspannter geworden. An den Streitthemen – vor allem der israelischen Besatzung des Westjordanlandes – ändert das aber erst einmal nichts.