Am Tag bevor militante Palästinenser erneut Raketen auf Israel feuern und das israelische Militär mit den schwersten Luftschlägen seit Langem antwortet, steht Atif el Roula im Staub neben seinem weißen Mercedes. Wieder einmal. El Roula ist auf den Automarkt in Gaza-Stadt gekommen. Seit Wochen versucht er den 240D Baujahr 1982 zu verkaufen. Den Wagen hat er extra poliert.
"Ich stehe finanziell unter Druck. Über zehn Jahre habe ich den Mercedes gefahren. Ein sehr gutes Auto. Ich bin optimistisch. Und wenn Allah will, dann finde ich einen Käufer."
Der Mercedesstern des 240D ist abgebrochen. Auf die Motorhaube hat Atif el Roula eine Antenne geklebt, daran eine palästinensische Fahne. Doch statt Nationalstolz ist bei ihm eher Ratlosigkeit zu hören.
"Die Lage ist schwierig. Wenn es meiner Familie und mir besser ginge, würde ich nie verkaufen. Die Politik hätte längst etwas tun müssen für uns."
Käufe und Verkäufe laufen schlecht
Privatleute wie Atif el Roula kommen genau wie Händler auf den Automarkt in Gaza-Stadt. Es ein staubiger Platz neben einer Hauptverkehrsstraße. Motoren werden angelassen, um Kunden anzulocken. An Ständen wird arabischer Kaffee verkauft, schwarz mit Gewürzen.
Wer hierher kommt braucht Geduld, sagt einer, der was den Verkauf der Autos angeht, weniger optimistisch ist, als Atif el Roula. Er stellt sich als Händler vor. Nebenbei versucht er so etwas Geld zu machen, sagt er.
"Seit vier oder fünf Monaten komme ich her. Aber eigentlich schaut sich seitdem jeder nur um. Es wird weder verkauft, noch gekauft. Der Markt ist tot. Vorher war das anders, da konnte man noch etwas verdienen."
Andere Menschen in Gaza können von Autos nur träumen – geschweige denn von Treibstoff. Der ist knapp und teuer. Wegen der Knappheit und der Armut gehören Eselskarren zum Straßenbild. So auch in der Nachbarschaft von Fares al Atar. Der 28-Jährige hat im Norden Gazas eine Hütte für sich und seine sechsköpfige Familie gebaut. Aus Planen und Paletten.
"Ich habe früher mit meiner Familie zur Miete gewohnt. Dann habe ich meine Arbeit verloren. Vor sechs Jahren musste ich diese Hütte bauen, weil ich die Miete nicht mehr zahlen konnte. Sie steht neben dem Haus meiner Geschwister, weil da ist kein Platz mehr. Ich war Landarbeiter. Heute gibt es keine Arbeit mehr. Jetzt arbeite ich einen Tag von zehn als Tagelöhner und habe Schulden."
Viele fühlen sich von Politik im Stich gelassen
Der Gebetsruf des Muezzins halt durch die Ortschaft. Baracken oder Hütten wie die von Fares al Atar stehen neben unverputzten Häusern. Dazwischen stechen Fassaden ins Auge, die wie frisch gestrichen wirken.
Fares al Atar fühlt sich von der Politik – also der Hamas – im Stich gelassen. 2007 putschte sich die militante Partei in Gaza an die Macht. Im Westjordanland regiert hingegen weiter die Fatah-Partei von Palästinenserpräsident Abbas. Eine wirkliche Versöhnung gibt es nicht.
"Hoffnung habe ich keine mehr. Immer hieß es Gespräche, Verhandlungen und noch mal Gespräche. Nichts ist passiert. Ich glaube an nichts mehr. Und keiner kann sich wehren. Wir sind Gefangene der Parteibonzen. Wer revoltiert, kriegt eine auf die Schnauze. Du musst dich damit abfinden oder dich umbringen."
Das Schicksal des 28-jährigen Vaters teilen unzählige Menschen in der abgeriegelten Küstenregion. Nach Angaben der Vereinten Nationen vom Juni stieg die Arbeitslosenquote im Gazastreifen im ersten Quartal diesen Jahres auf rund 49 Prozent. Ein Ausweg ist nicht in Sicht. Junge Menschen, die den größten Anteil der Bevölkerung ausmachen, wachsen ohne Perspektive auf.
Ortswechsel: Umringt von seinen Enkelkindern empfängt der 70-jährige Kemal Hamda Sadak in seinem Wohnzimmer in Khan Younis im Süden des Gazastreifens. Er hofft, dass sich die Lage in Gaza irgendwann durch internationalen Druck ändert. Dass junge Menschen eine Arbeit finden. Das ihnen ein Ausweg bleibt zur Mitgliedschaft in militanten Gruppierungen.
"Es geht vor allem um die Uni-Absolventen, die jetzt keine Arbeit haben. Manchmal sehe ich welche in der Nachbarschaft, wie sie in einer Mülltonne nach Essen wühlen. Viele von denen sind 30 und älter. Die können nicht heiraten, keine Familie gründen. Das ist katastrophal."
Vier Stunden Strom am Tag
Der 70-Jährige hat auch andere Zeiten erlebt. Seine Enkel aber wachsen auf mit nur vier Stunden Strom am Tag.
"Wir haben Batterien aufgebaut und angeschlossen. Wenn wir Strom haben, dann werden die geladen und so kommen wir schon durch. Nachts haben wir dann ein wenig Licht von kleinen Lampen."
Der Gazastreifen ist kleiner als der Stadtstadt Bremen. Er grenzt an Israel und Ägypten. Beide Länder riegeln ihn ab. Sie argumentieren mit Sicherheitserwägungen. Was die Wasser- und Stromversorgung angeht, ist das Gebiet auf die Palästinensische Autonomiebehörde angewiesen. Ohne Hilfe von außen geht nichts mehr in Gaza.
Heute sind allein mehr als die Hälfte der Bewohner vom örtlichen UN-Hilfswerk, kurz UNRWA, abhängig. Dessen Chef: der Deutsche Matthias Schmale.
"Wenn wir etwa eine Million Menschen nicht mehr mit Nahrungsmitteln versorgen würden, dann würde es hier Hunger geben. Unsere Nahrungsmittelhilfe ist im Moment keine Reaktion, sie dient dazu, den Hunger zu verhindern. Und wenn unsere 275 Schulen zumachen müssten, dann hätten wir es mit 270.000 Kindern zu tun, die keine Alternative haben. Die dann auf der Straße oder zu Hause rumlungern würden."
Schmale führt die UNRWA durch schwere Zeiten. Die USA, traditionell größter Geldgeber, haben in diesem Jahr bislang nur etwa 60 statt zuletzt 360 Millionen Dollar gezahlt.
Hilfswerk musste Mitarbeitern kündigen
Weil dem Hilfswerk nun auch in Gaza Geld fehlt, hat Schmale rund hundert Mitarbeitern gekündigt. Andere müssen fortan in Teilzeit arbeiten. Dienstleistungen werden zugunsten der Lebensmittelhilfe und der Schulen zurückgefahren.
Die Entscheidung macht den Deutschen zum Feindbild für manche Mitarbeiter. Er empfängt deshalb im Hotel. Teppiche, Blick aufs Meer. Nur dort kann er derzeit arbeiten. Bodyguards schirmen Schmale ab:
"Ich fühle mich wie der Kapitän eines Schiffs, der vom Steuerrad entfernt wurde und in seiner Kabine arbeiten muss. Das geht nicht. Man kann kein Schiff durch schwierige Wellen manövrieren, ohne das Steuerrad in der Hand zu haben. Das ärgert mich. Das ist im Prinzip eine Meuterei unseres eigenen Personals."
Der Innenhof der UNRWA-Zentrale in Gaza Stadt gleicht währenddessen einem Protestcamp. Plakate überall. Mitarbeiter streiken. Sie fürchten das Schlimmste, denn die UNRWA gab ihren 13.000 Beschäftigten bislang Sicherheit. Das sagt die Gewerkschaftlerin Amal El Batsh. Kaum eine andere Institution im von der radikal-islamischen Hamas regierten Gaza zahlt ihre Gehälter so zuverlässig.
"Es gibt viele Arbeitslose. Und da haben vielleicht viele geheiratet, weil ihr Partner einen Vertrag mit der UNRWA hat. Das hilft dann der ganzen Familie, dem Bruder, der Schwester, dem Neffen und so weiter. Und deshalb hat das Auswirkungen auf die Wirtschaftslage und die soziale Situation in Gaza."
Zukunft der UNRWA ungewiss
Dieser Tage machen zudem Berichte aus den USA die Runde, wonach die Regierung Donald Trumps die UNRWA zerschlagen, und Millionen Palästinensern den Flüchtlingsstatus entziehen will. Die Organisation habe die Situation der palästinensischen Flüchtlinge verstetigt und nicht geholfen, wird ein US-Regierungsvertreter zitiert. Von diesen US-amerikanischen Erwägungen hält Matthias Schmale, der die UNRWA in Gaza leitet, nichts:
"Das bedeutet, dass man das Thema Gerechtigkeit für die Vertreibung von vor siebzig Jahren vom Tisch nimmt und das ist aus unserer Sicht moralisch und politisch nicht zu rechtfertigen."
Wie die Zukunft, der UNRWA vor dem Hintergrund des aktuellen US-Kurses aussieht ist offen. Offiziell heißt es, die amerikanische Finanzhilfe liege auf Eis, solange die Palästinenser nicht zu Friedensverhandlungen mit Israel bereit sind.
Ebenso ungewiss ist die Zukunft des Gazastreifens selbst – mit seiner Bevölkerung, die sich teils weiter radikalisiert, teils aber auch resigniert, angesichts der schwierigen humanitären und wirtschaftlichen Lage.