Mit der Ankündigung ihres Rücktritts als Partei- und Fraktionschefin der SPD hat Andrea Nahles den Politikbetrieb überrascht. Nahles erklärte am Sonntag in einem Schreiben an alle SPD-Mitglieder, "dass der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist" und sie die Möglichkeit eröffnen will, dass die Nachfolge in beiden Funktionen "in geordneter Weise" geregelt werden kann. Auch ihr Bundestagsmandat will Nahles zeitnah abgeben.
Nach den jüngsten Misserfolgen bei der Europawahl und der Wahl zur Bremer Bürgerschaft hatte Nahles zunächst noch angekündigt, sich am Dienstag vorzeitig in der Fraktion zur Wiederwahl als Vorsitzende zu stellen. Dlf-Korrespondent Frank Capellan sagte, Nahles habe offenbar in den vergangenen Tagen viel telefoniert und feststellen müssen, "dass sie sich, salopp gesagt, verzockt hat mit ihrer Vertrauensfrage" - der nötige Rückhalt in der Partei fehle offenbar, auch wenn die Parteispitze sich am Samstag noch solidarisch mit ihr erklärt habe.
In ihrer Erklärung schrieb Nahles: "Ich hoffe sehr, dass es euch gelingt, Vertrauen und gegenseitigen Respekt wieder zu stärken." Für Capellan "ein Hinweis darauf, dass sie sich in den vergangenen Tagen und Wochen schlecht behandelt fühlte." Es gab auch Solidaritätsbekundungen für Nahles, etwa diesen Tweet vom Parteikollegen Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt:
Weitere Kandidaten für die Wahl zum Fraktionschef am Dienstag gab es keine. "Der Worst Case für die SPD", schätzt Capellan die Situation jetzt ein - und vielleicht auch ein Ende der Großen Koalition. "Nun wird sich meiner Ansicht nach auch die Kanzlerinnenfrage stellen. Der Fortbestand der Großen Koalition ist in Frage gestellt. Man wird jetzt sicherlich seitens der SPD darauf drängen, diese Große Koalition zu beenden." Es zeichne sich ab, "dass eine Mehrheit der Sozialdemokraten nun den totalen Neuanfang, den vollständigen Bruch befürwortet".
Die Union rief ihren Koalitionspartner zur Besonnenheit auf - womöglich um Angela Merkels Kanzlerschaft nicht zu gefährden, vermutet Capellan. Allerdings hatte Vizekanzler Olaf Scholz am Wochenende nicht nur eine neue Große Koalition ab 2021 ausgeschlossen, sondern auch rote Linien zur Fortsetzung dieser gezogen: Ein Klimaschutz- und ein Einwanderungsgesetz müssten kommen, eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung, außerdem sollten Konzerne besteuert und der Kohleausstieg nicht in Frage gestellt werden.
Auch die CDU ist gefordert
Capellan rechnet mit heftigen, auch verfassungsrechtlichen Diskussionen, wie man zu Neuwahlen gelangen könne. Als Nächstes stelle sich die Frage, wie der Übergang bei der Union von Angela Merkel zu Annegret Kramp-Karrenbauer gestaltet werden könnte.
Die SPD muss jetzt schnell einen Sonderparteitag einberufen, um Nahles' Amt als Parteichefin neu zu vergeben. Die Zeit des Übergangs werde wohl die stellvertretende Parteichefin Malu Dreyer gestalten, Ministerpräsidentin aus Rheinland-Pfalz. Viele in der SPD wünschten sich schon länger sie als Parteivorsitzende, sagt Capellan. Das habe Dreyer aber bislang mit Verweis auf gesundheitliche Gründe abgelehnt.
Bei der Wahl zum Fraktionsvorsitz seien "nun diejenigen wieder im Rennen, die zurückgezogen hatten mit dem Hinweis darauf, dass sie nicht gegen Andrea Nahles antreten würden", darunter der Parteilinke Matthias Miersch, der Seeheimer Achim Post - oder der 2017 gescheiterte Kanzlerkandidat und Ex-Parteichef Martin Schulz.
Capellan spekulierte auch über ein Ende von Vizekanzler Olaf Scholz. "Scholz gilt doch vielen als Technokrat, als Verbündeter von Andrea Nahles, als Mann, mit dem kein Übergang zu gestalten sein wird. Ich denke, seine Zeit wird dann auch abgelaufen sein."
(fmay/gue)