Dirk-Oliver Heckmann: Frau Nahles, gestern haben die Polen Abschied genommen von Präsident Lech Kaczynski und seiner Frau Maria, heute die Beisetzung. Haben Sie das Gefühl, dass in Deutschland ausreichend Anteil genommen worden ist an dem Schicksalsschlag des Nachbarn?
Andrea Nahles: Also ich denke ja. Wir haben überall immer wieder Diskussionen gehabt, wie tragisch dieses Ereignis, gerade im Zusammenhang mit Katyn, ist, wo die gesamte Elite des polnischen Volkes bereits einmal grausam ermordet wurde. Und jetzt dieses tragische Unglück. Ich habe selber eine polnische Mitarbeiterin bei mir im Büro und habe mitbekommen, wie stark das also tatsächlich auch jeden einzelnen Polen berührt und wie sehr dieses Volk auch verstört ist durch dieses Ereignis. Und ich kann nur noch mal mein Mitgefühl aussprechen.
Heckmann: Ein tragisches Ereignis, dem aber auch die Chance innewohnt, beispielsweise die Beziehungen zwischen Polen und Russland zu verbessern, das hat man jetzt gesehen in den ersten Tagen schon. Müsste das für uns Deutsche auch Anlass sein, unser Verständnis für Polen und auch für die Empfindlichkeiten dort auf den Prüfstand zu stellen, denn das deutsch-polnische Verhältnis war ja auch ordentlich strapaziert in den letzten Jahren, vor allem durch die Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen?
Nahles: Ja, man sieht aber auch, dass es eben tatsächlich auch manchmal durch gute Gesten, durch ein echtes Mitgefühl, was auch von den russischen Entscheidungsträgern vermittelt wurde, dass da auch Bewegung reinkommt. Ich glaube und hoffe, dass die Solidarität, die die Polen jetzt erfahren haben und weiter erfahren in dieser schweren Zeit, dass das auch hilft, vielleicht alte Wunden zu heilen. Und es gibt nun mal alte Wunden, sowohl mit den Russen als auch ganz große natürlich mit Deutschen. Und ich wünsche mir zumindest, dass die jetzt immer noch schwelende Debatte um das Vertriebenengedenken jetzt vielleicht doch zu einer vernünftigen und für alle Seiten auch dann akzeptablen Lösung geführt wird.
Heckmann: Kommen wir zur Innenpolitik und damit vor allem zum Thema "Afghanistanpolitik". Am Karfreitag hat es einen Vorfall gegeben mit drei deutschen Soldaten, die ums Leben gekommen sind, einige wurden schwer verletzt. Bundesverteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg hat vor wenigen Tagen angekündigt in Afghanistan, jetzt mehr schwere Waffen in diese Krisenregion bringen zu lassen, also Haubitzen, mehr Schützenpanzer. Nun am Donnerstag ein erneuter Vorfall mit deutschen Toten. Spitzt sich die Lage in Afghanistan so zu, dass man sagen müsste, wir bräuchten eine Kursänderung?
Nahles: Wir haben auf jeden Fall eine Zunahme von massiven Angriffen. Wir hatten über Jahre eine sehr ruhige Situation im Norden von Afghanistan, das hat sich in den letzten Monaten geändert. Und ich muss sagen, dass ich sehr in Sorge bin. Jedes Mal trifft es mich, weil ich als Parlamentarierin - die Deutschen haben ja eine Parlamentsarmee – darüber entscheide, ob dieser Einsatz weiter verlängert wird, ob deutsche Soldaten da ihre Haut hinhalten. Und ich glaube, dass wir uns jetzt einen umfassenden Überblick über die Sicherheitslage machen müssen, die offensichtlich nicht im Griff ist und wo man wirklich sagen muss, dass wir nicht absehen können, ob die Strategie – jetzt mehr starkes Gerät da runterzuführen – ob das wirklich die Lösung ist. Ich mache zumindest ein Fragezeichen dahinter. Ich bin dafür, dass die Sicherheit jedes Soldaten definitiv verbessert wird, da – wo nötig – auch nachgelegt wird mit Ausrüstung. Aber ich glaube nicht, dass eine Eskalation der kriegerischen Handlungen da zu einer Verbesserung der Gesamtlage führt – was die Frage aufwirft, ob es eine koordinierte Strategie von NATO und den anderen Bündnispartnern jetzt geben muss, auch eine neue Lagebewertung. Ich jedenfalls wäre dafür, dass man sich jetzt die Zeit nimmt, um die Lage noch mal einzuschätzen.
Heckmann: Es scheint sich immer mehr zu bestätigen der Eindruck, dass der Begriff "Krieg", den jetzt auch die Bundesregierung, auch die Bundeskanzlerin im Munde führt, zutreffend ist!
Nahles: Ein Krieg ist eine Sache, die zwischen zwei Völkern erklärt wird – nach Definition des Völkerrechtes. Das ist hier nicht der Fall, wir haben keinen Krieg mit der afghanischen Regierung oder dem afghanischen Volk. Es gibt deswegen große Zurückhaltung aufseiten der SPD, sich diesen Begriff völkerrechtlich zu eigen zu machen. Und trotzdem sind es tatsächlich Situationen, die im Normalverständnis der Bevölkerung einfach nicht anders zu bezeichnen sind. Aber trotzdem geht es nicht um Begriffe, es geht nicht um Begriffe, sondern es geht darum: Schaffen wir es, das, was jetzt in dem neuen Mandat, wo die SPD noch mal zugestimmt hat, mit Bedingungen allerdings, dass die Bedingungen auch erfüllt werden können unter diesen neuen, offensichtlich verschärften Bedingungen. Das heißt: Gibt es die reale Chance auf einen Abzug, 2011 beginnend, und gleichzeitig die Möglichkeit, zunehmend Provinz für Provinz in die afghanische Selbstverwaltung zu übergeben, um damit auch die Präsenz von ausländischen Truppen vor Ort überflüssig zu machen. Das ist ja der Plan. Ist das noch möglich oder ist das nicht mehr möglich? Das ist die eigentliche Frage, die zu beantworten ist und nicht Begriffsklaubereien. Das scheint mir eine Ablenkungsdebatte zu sein zurzeit.
Heckmann: Es geht aber auch darum – und das hört man ja auch von den Soldaten – um das Bedürfnis, Situationen so zu bezeichnen, wie sie wahrgenommen werden. Und Ihr Parteichef, SPD-Chef Sigmar Gabriel, hat die Tatsache, dass die Bundesregierung jetzt von "Krieg" redet, jetzt zum Anlass genommen, ein neues Mandat ins Spiel zu bringen. Er hat gesagt: Eigentlich müsste die Bundesregierung jetzt in den Bundestag gehen und sich ein neues Mandat besorgen, wenn man die Geschäftsgrundlage sozusagen ändert. Der Verteidigungsminister zu Guttenberg sagt allerdings, das Mandat ist auf die Realitäten hin entsprechend ausgerichtet. Hat die SPD also dieses Mandat nicht richtig gelesen?
Nahles: Wir haben das wesentlich mitgestaltet dieses Mandat, indem wir konkret eine Abzugsperspektive – 2011 beginnend – dort hineinverankern konnten nach längeren Debatten, die auch öffentlich nachvollziehbar waren. Die SPD hat außerdem Kriterien entwickelt – das Mandat muss ja nach einem Jahr verlängert werden –, die dann auch von uns sehr ernst genommen werden, ob wir wirklich eine weitere Verlängerung rechtfertigen können. Das hängt davon ab, wie weit wir die selbst gesetzten Ziele – die Ausbildungskapazitäten der afghanischen Polizei, die Ausbildung von afghanischen Soldaten – wirklich deutlich nach oben zu fahren, um eben einen Abzug der internationalen Truppen zu ermöglichen. Das haben wir mit diesem Mandat gemacht. Wir brauchen deswegen kein neues Mandat, das hat auch Sigmar Gabriel gar nicht gefordert. Er hat nur gesagt: Wer von Krieg redet, der muss wissen, dass das nicht abgedeckt wird durch das, was wir derzeit auch in der deutschen Verfassung, in dem bisherigen Rahmen, diskutiert haben ...
Heckmann: ... das heißt, dann bräuchte es ja ein neues Mandat ...
Nahles: ... man braucht kein neues Mandat, wenn man es so geschickt anstellt und den Satz – "im umgangssprachlichen Sinne redet man von Krieg" – sagt. Das machen ja Guttenberg und Merkel die ganze Zeit. Das sind aber – noch mal – für mich Wortklaubereien. Es sind wieder deutsche Soldaten umgekommen, darum geht's jetzt nicht, ob das jetzt umgangssprachlich ein sogenannter Krieg ist oder ob das ein richtiger Krieg ist, das scheint mir nach dem Ereignis jetzt in dieser Woche nicht der entscheidende Punkt zu sein, sondern: Können wir die gesetzten Ziele erreichen? Ist ein Abzug und die Übergabe der Verantwortung an die afghanische Regierung möglich oder müssen wir - noch mal – auch im Verbund mit unseren internationalen Partnern Neues probieren? Ist alles getan, um die selbst gesteckten Ziele zu erreichen? Ich darf Ihnen was sagen: Mein Optimismus, dass das gelingt, war auch schon mal größer.
Heckmann: Aber ich möchte noch mal nachhaken. Gabriel hat gesagt: Wenn in dem Mandat wirklich von "Krieg" die Rede gewesen wäre, dann wäre die Abstimmung im Bundestag mit Sicherheit anders verlaufen. Das hört sich ein bisschen nach einem Versuch an, sich von der Regierungspolitik, der alten Regierungspolitik auch unter der SPD, abzusetzen.
Nahles: Wir sind nicht von der Regierungsverantwortung in die Verantwortungslosigkeit gewechselt. Das kann ich wirklich selbstbewusst für die SPD sagen. Wir haben, obwohl es in unserer eigenen Partei auch heftige Debatten gibt – und das ehrt auch eine sozialdemokratische Partei, wenn es solche Debatten um den Afghanistaneinsatz gibt – haben wir gesagt: Wir glauben, dass es richtig ist und wichtig ist, dass wir die afghanische Regierung und das afghanische Volk in die Lage versetzen, dass sie sich gegen Übergriffe der Taliban selber zur Wehr setzen können. Darum geht es. Und das ist unsere Verpflichtung, auch nachdem wir diesen Einsatz ja auch begonnen haben. Und demzufolge sind wir da nicht einfach in die Büsche, haben aber von der Bundesregierung verlangt, dass sie eine konkrete Abzugsperspektive benennt. Dazu stehen wir auch weiterhin, aber es muss auch wirklich eine konkrete Abzugsperspektive dann umgesetzt werden. Gerade die jüngeren Ereignisse zeigen, dass das dringender denn je ist.
Heckmann: Frau Nahles, der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus von der FDP hat gefordert, Leopard-II–Panzer nach Afghanistan zu entsenden, damit sich die Truppe dort besser verteidigen kann, damit man dort die Einrichtungen besser schützen kann. Die Bundeskanzlerin hat geantwortet: An vielen Stellen sei viel Inkompetentes gesagt worden, und Herr Königshaus fühlt sich nicht angesprochen. Zu Recht?
Nahles: Na ja, also ich bin sehr dafür, dass die Soldaten, wenn sie schon ihre Gesundheit und ihr Leben da gefährden, sich vernünftig verteidigen können und da auch eine entsprechende Ausrüstung haben. Aber diese Aufrüstung und Panzer nach Afghanistan: Das ist doch wirklich dem Umstand geschuldet, dass der neue Wehrbeauftragte einfach noch neu ist. Also, mit Verlaub: Ich glaube, da gibt es seriösere Ratgeber für die Bundesregierung als der neue Wehrbeauftragte.
Heckmann: Demnächst, Frau Nahles, sagt Theodor zu Guttenberg im Kundus-Untersuchungsausschuss aus. Warten Sie seine Aussage ab, oder steht die Bilanz der SPD eigentlich schon fest nach dem Motto: Guttenberg ist belastet?
Nahles: Es gab ja nun sehr interessante, durchaus aufschlussreiche Zeugenaussagen von Generalinspekteur a.D. Schneiderhan und auch vom früheren beamteten Staatssekretär. Ich kann nur sagen, dass danach feststeht, dass der Rauswurf dieser beiden Personen mit der Begründung, man habe Guttenberg zentrale Informationen vorenthalten, sich als falsch herausgestellt hat. Deswegen bin ich sehr interessiert, was Herr von Guttenberg dazu sagt. Ich kann dazu nur anmerken, dass ich von einem Minister erwarte, dass er, wenn er Fehler macht, die dann wenigstens dann auch klar eingesteht. Es ist auf jeden Fall gravierend, weil er die Reputation von zwei sehr angesehenen hochrangigen Bundeswehrvertretern letztendlich auch beschädigt hat. Er hat auch einen weiteren General noch entlassen, und insoweit bin ich sehr interessiert, was Herr von und zu Guttenberg dazu sagt.
Heckmann: Für wie politisch angeschlagen halten Sie den Minister?
Nahles: Ich glaube, dass es darum geht, jetzt erst mal seine Zeugenaussage abzuwarten. Er ist mehrfach gestolpert über seine eigene Chuzpe – "Hier komme ich, jetzt mache ich mal den großen Auftritt" – das ist ja so seine Geste, mit der er sein Amt begonnen hat. Immer wieder sind das dann auch Fehler gewesen, es ist ja nicht der erste. Und deswegen kann ich nur hoffen, dass er wirklich zu dem Eigentlichen zurückfindet, nämlich dass er eine Verantwortung da hat, die entsprechend auch guten Rat braucht und gute und gründliche Abwägung von Fakten. Das hat er offensichtlich nicht gemacht, er hat wirklich sich nicht genügend eingearbeitet, die Fakten zur Kenntnis genommen und dann ein Urteil gefällt, was falsch war. Und das ist schon etwas, was mich beunruhigt, auch angesichts der sich zuspitzenden Sicherheitslage in Afghanistan selbst.
Heckmann: Jahrelang hat die Bundesregierung gefordert, dass Guantanamo geschlossen werden soll. Nun verhandelt die Bundesregierung offenbar auch ganz konkret über die Aufnahme von – wie es heißt – drei Insassen. Viele unionsregierte Bundesländer haben schon abgewunken, wollen das nicht haben. Aber auch die SPD-geführten Länder, mit Verlaub, drängeln sich da nicht vor. Betreibt die SPD also in diesem Punkt eine unmoralische Politik?
Nahles: Ich weiß zum Beispiel, dass der Ministerpräsident des Landes, aus dem ich komme, Kurt Beck, das nicht ausgeschlossen hat für Rheinland-Pfalz. Er hat damit auch aufgegriffen die Münchener zum Beispiel. Die werden übrigens von Rot-Grün geführt. Die haben auch Bereitschaft erklärt. Es ist ja nicht so, dass die Lage hier so wäre, dass das in der Situation ist, die sich da auf die SPD jetzt überwälzen lässt, mit Verlaub. Die Bundesregierung hat selber in Form von Innenminister de Maizière erklärt, dass er prüft, ob Guantanamo-Häftlinge aufgenommen werden. Dann hat es Sperrfeuer gegeben gegen den Innenminister aus den eigenen Reihen, unter anderem auch von Jürgen Rüttgers und anderen. Und damit ist dann Frau Merkel in die USA geflogen zu einem sehr wichtigen Termin. Es sind ja eine ganze Reihe von Gesprächen von Frau Merkel in den USA geführt worden. Sie konnte aber keine einheitliche Linie der deutschen Bundesregierung dort vortragen. Das finde ich schon peinlich genug.
Heckmann: Aber wäre es nicht an der Zeit, jetzt auch für die SPD zu sagen oder für ein SPD-regiertes Land den Finger zu heben und zu sagen: Okay, wir wären bereit?
Nahles: Wir warten jetzt die Prüfung ab. Die Bereitschaft grundsätzlicher Art der SPD ist seit Langem bekannt, dass wir sagen, dieses Gefängnis muss geschlossen werden. Barack Obama braucht dafür auch die Unterstützung der Verbündeten und wir können uns natürlich unter Berücksichtigung auch der eigenen Sicherheitsinteressen nicht völlig versperren. Das wollen wir auch nicht. Aber natürlich müssen auch die eigenen Sicherheitsinteressen geprüft werden. Das warten wir ab. Ich sage noch mal: Einigkeit existiert im Augenblick nicht in der Bundesregierung über diese Frage. Die SPD hat ihre grundsätzliche Position dazu klar gemacht.
Heckmann: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Andrea Nahles, Generalsekretärin der SPD. Kommen wir zur Sozialpolitik. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen von der CDU, die hat sich in diesen Tagen gegen Ausnahmen bei der Rente mit 67 ausgesprochen, man würde ja mit 66 nicht mehr das machen müssen, was man mit 16 Jahren gelernt habe und man könne sich ja auch auf Büroarbeiten verlegen. Was sagen Sie dazu?
Nahles: Mein Vater war 45 Jahre am Bau und ich sage Ihnen, ich bin empört gewesen, als ich das gehört habe, wie man so etwas Realitätsfernes wirklich äußern kann. Das erschüttert. Sehen Sie, selbst wenn Sie den nach 35 Jahren, wo er am Bau war, mein Vater, um bei dem Beispiel mal zu bleiben, zu dem dann gesagt hätten: 'So, jetzt machst du mal den Bürojob hier in der Firma', also, was das soll. Es ist völlig an den Realitäten vorbei. Erstens mal ist der gerne Maurer gewesen. Das kann der auch. Und es ist etwas, was aus meiner Sicht wirklich fast schon eine wirkliche Entwertung auch von handwerklichen, körperlich anstrengenden Tätigkeiten, zum Beispiel auch von der Krankenschwester und anderen ist. Sicherlich gibt es Möglichkeiten, Menschen auch umzuschulen und zu qualifizieren. Aber die Formulierung von Frau von der Leyen war ja, dass das für alle möglich sein soll. Das geht völlig an den Realitäten vorbei. Und deswegen muss ich sagen, bin ich der Auffassung, dass sie das zurücknehmen soll. Es ist angebracht, weil wirklich viele Leute sich darüber zu Recht aufregen.
Heckmann: Die FDP hat in dieser Woche ihr Steuerkonzept vorgelegt. Demnach soll die Entlastung nur noch 16 Milliarden Euro betragen. Argumentiert wird, dass der Rest von den 24 Milliarden, die im Koalitionsvertrag festgelegt sind, eben schon vollzogen worden sind durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Es soll fünf Stufen statt drei Stufen geben und das Ganze soll auch erst ab 2012 starten und nicht im Jahr 2011. Manche sagen, die FDP habe sich der Realität angenähert. Gibt es also insofern noch einen Grund, an der Drohung festzuhalten, die ganze Sache über den Bundesrat zu blockieren, falls die SPD aus der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen siegreich hervorgehen würde?
Nahles: Die FDP hat gemerkt, dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland vernünftig sind und angesichts von Rekordverschuldung von 85 Milliarden Euro in diesem Jahr und einer wirklich schwierigen Lage von Kommunen und Städten Steuersenkungen für bestimmte Teile der Bevölkerung schlichtweg nicht sinnvoll sind und nicht finanzierbar sind. Deswegen rudert sie jetzt ein bisschen zurück. Aber dahinter steckt ja keine echte Erkenntnis. Es wird ja nur geschoben. Es wird ja nicht gesagt, dass man auf absehbare Zeit – und genau das wird der Fall sein – erkennt, dass Steuersenkungen nicht finanzierbar sind. Und deswegen halte ich das für ein taktisches Manöver vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl, um wirklich den negativen Trend gegen die FDP ein bisschen abzufedern. Aber jeder merkt doch, dass 16 Milliarden 16 Milliarden sind und dass die auch 2012 nicht für Steuergeschenke übrig sind, sondern dass wir lieber Schulden zurückfahren sollten und Schlaglöcher stopfen sollten. Und deswegen ist das von meiner Seite aus alter Wein in neuen Schläuchen.
Heckmann: Frau Nahles, seit fast einem halben Jahr ist Sigmar Gabriel Chef der SPD. Sie sind Generalsekretärin seitdem. Was ist eigentlich aus Ihrem Versprechen eines Aufbruchs geworden? Denn wenn man sich vorstellt, alles spricht vom Fehlstart der derzeitigen Bundesregierung, und die SPD, die kommt in keiner einzigen Umfrage über 26 Prozent. Die Union ist bei zehn Punkten mehr.
Nahles: Also, wir haben hier sehr wohl Aufbruchstimmung im wichtigsten Landesverband der SPD. Das ist immer noch Nordrhein-Westfalen. Wir haben eine Chance, hier Rot-Grün wirklich auch zu schaffen, also eine richtige Alternative auch mit Mehrheiten zu versehen. Das wäre wirklich ein großes Signal. Aber richtig ist auch, dass die Wählerinnen und Wähler, die uns ihr Vertrauen entzogen haben im letzten Jahr, noch lange nicht alle zurückgewonnen wurden. Und das wird auch noch eine Weile dauern auf der Bundesebene, denn da sind nun mal noch eine Reihe von Menschen, die jetzt sagen: 'Na, gucken wir mal, haben die wirklich etwas dazugelernt, sind die bereit, auch Korrekturen zu machen?' Ich glaube, da ist noch viel Vertrauensarbeit notwendig. Aber mein Eindruck ist, dass wir uns da auf der richtigen Spur bewegen. Und meine Erwartung war nie, dass wir das nach einem halben Jahr alles erledigt haben.
Heckmann: Oskar Lafontaine, der scheidende Chef der Linken, steht der Zusammenarbeit mit der SPD ja jetzt nicht mehr im Weg. Werden wir nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen das Tabu fallen sehen, nämlich die Zusammenarbeit mit den Linken im Westen?
Nahles: Ich muss sagen, dass ich große Zweifel hege, ob ich mich damit abfinden möchte, dass die Linken im Westen sich auf dem Niveau etablieren, wie das in den letzten Jahren bei den Umfragen und bei den Wahlen teilweise der Fall war.
Heckmann: Vielleicht ist es ein Faktum.
Nahles: Es kann sein, es kann aber auch sein, dass ihre kontinuierliche Weigerung, sich einer Realpolitik gegenüber zu öffnen, auch bei den Bürgerinnen und Bürgern durchfällt auf Dauer, zum Beispiel die Vorschläge hier im Land, das Wahlprogramm der Linken zur Verstaatlichung von allem, was nicht niet- und nagelfest ist, das ist doch jenseits von einem vernünftigen Politikansatz. Oder auch das neue Grundsatzprogramm der Linken auf der Bundesebene hat mich doch sehr enttäuscht, weil hier offensichtlich eben nicht Regierungsbeteiligung angestrebt wird.
Heckmann: Sie hätten sich etwas anderes gewünscht? Das hört sich danach an, ob Sie sich schon mit der Existenz der Linken in der Tat abgefunden hätten und nicht mehr versuchen würden, sie klein zu halten.
Nahles: Das glauben Sie aber mal nicht. Das ist ein politischer Gegner, der aus meiner Sicht, wenn man ihn hier in Nordrhein-Westfalen bei der Landtagswahl unterstützen würde, auf jeden Fall schon den Nachteil hätte, dass man die Stimme verschenkt, weil – wie gesagt – die gar nicht regieren wollen. Deswegen sollte man eben anders entscheiden. Zum Zweiten, ich komme aus Rheinland-Pfalz, wir haben im nächsten Jahr Landtagswahl, wir werden wirklich überall versuchen, die Linkspartei unter fünf Prozent zu drücken. Im Westen ist das meiner Meinung nach möglich.
Heckmann: Hannelore Kraft hält sich eine Zusammenarbeit mit der Linken de facto offen. Sie schließt es nicht offiziell aus. Denken Sie nicht, dass eine solche Strategie nicht auch viele SPD-Wähler verunsichert?
Nahles: Hannelore Kraft erklärt, dass sie eine verantwortliche Regierung bilden wird. Und darauf verlassen wir uns mal, denn ich glaube ihr das. Ich weiß, dass sie so denkt.
Heckmann: Pardon, wenn die Linke nicht regierungsfähig ist, dann könnte sie ja auch sagen, sie schließt es aus.
Nahles: Wir haben eine klare Position, dass die Landesparteien über ihre Koalitionspräferenzen auf Landesebene entscheiden. Das sage ich als SPD-Generalsekretärin, und ich meine das auch ernst. Ich glaube, dass Hannelore Kraft nach dem 9. Mai hier eine verantwortliche Politik machen wird und eine verantwortliche Regierungsbildung betreiben wird. Und eines kann man sagen: Die Linkspartei will in Nordrhein-Westfalen nicht regieren. Jede Stimme für sie ist eine verlorene.
Heckmann: Sie hören das Interview der Woche mit Andrea Nahles hier im Deutschlandfunk. Frau Nahles, zum Abschluss eine Frage an Sie als bekennende Katholikin. Morgen vor fünf Jahren wurde Kardinal Ratzinger zum Papst gewählt. Benedikt XVI steuert die katholische Kirche derzeit durch eine schwere Krise. Ich denke, das kann man sagen vor dem Hintergrund des Missbrauchskandals. Ist es eigentlich in diesen Tagen für Sie schwer, sich als Katholikin zu definieren?
Nahles: Nein, aber ich finde vieles, was in den letzten Wochen ans Licht gekommen ist, bedrückend. Dass es hier offensichtlich über Jahrzehnte systematische Vertuschung gegeben hat, belastet also wirklich jeden, mit dem ich in den letzten Wochen darüber gesprochen habe. Und trotzdem sage ich, gerade jetzt sollten sich aktive, auch jüngere Katholiken einmischen. Sie sollten, wenn sie Kritik haben, die auch artikulieren. Das ist in einer Krisensituation oft das einzig Gute, was man machen kann, um Sachen auch voranzutreiben. Ich komme aus dem Bistum Trier, wo Stephan Ackermann, der Bischof von Trier, beauftragt ist mit der Aufklärung der Missbrauchsfälle. Und was ich beobachte, ist, dass die das mit großem Ernst auch betreiben. Wir haben da jetzt eine Hotline, die wird regelrecht überlaufen und es wird sehr ernst daran gearbeitet. Also ich sage mal, es kann auch eine Chance sein, wirklich an dieser Front auch noch mal ein Stück weit mehr Glaubwürdigkeit auch für die katholische Kirche zu gewinnen, weil – vieles war eben unter dem Deckel, vieles ist auch unter den Teppich gekehrt worden in den letzten Jahrzehnten, und das ist möglicherweise eine Chance, da ehrlicher zu sein und das Ganze aufzuarbeiten.
Heckmann: Ein ganz kurzes Wort: Bilanz des Papstes?
Nahles: Ich glaube, er ist ein großer Theologe. Ob er ein großer Menschenfischer ist, das wage ich mal in ein gewisses Fragezeichen einzukleiden. Aber ich denke, dass er in jedem Fall bemüht ist, dieses große Schiff katholische Kirche, wo über eine Milliarde Menschen sich zugehörig fühlen, so verantwortlich wie möglich durch schwierige Gewässer zu führen. Er hat auch sehr klare Worte gefunden an die irischen Bischöfe, weil es dort ja auch erhebliche Missstände und massive Missbrauchsfälle gegeben hat. Also, ich denke, dass man jetzt auch sehen muss, wie das in den nächsten Jahren weitergeht. Auch gerade jetzt in diesen Wochen ist er natürlich sehr gefordert, dass eben auch die sich immer ausweitenden Missbrauchsfälle auch weiter sauber aufgeklärt werden. Ich denke nicht, dass Papst Benedikt einer ist, der große Reformen einleiten wird in der katholischen Kirche. Das erwarte ich zumindest nicht.
Heckmann: Frau Nahles, ich bedanke mich für das Gespräch.
Andrea Nahles: Also ich denke ja. Wir haben überall immer wieder Diskussionen gehabt, wie tragisch dieses Ereignis, gerade im Zusammenhang mit Katyn, ist, wo die gesamte Elite des polnischen Volkes bereits einmal grausam ermordet wurde. Und jetzt dieses tragische Unglück. Ich habe selber eine polnische Mitarbeiterin bei mir im Büro und habe mitbekommen, wie stark das also tatsächlich auch jeden einzelnen Polen berührt und wie sehr dieses Volk auch verstört ist durch dieses Ereignis. Und ich kann nur noch mal mein Mitgefühl aussprechen.
Heckmann: Ein tragisches Ereignis, dem aber auch die Chance innewohnt, beispielsweise die Beziehungen zwischen Polen und Russland zu verbessern, das hat man jetzt gesehen in den ersten Tagen schon. Müsste das für uns Deutsche auch Anlass sein, unser Verständnis für Polen und auch für die Empfindlichkeiten dort auf den Prüfstand zu stellen, denn das deutsch-polnische Verhältnis war ja auch ordentlich strapaziert in den letzten Jahren, vor allem durch die Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen?
Nahles: Ja, man sieht aber auch, dass es eben tatsächlich auch manchmal durch gute Gesten, durch ein echtes Mitgefühl, was auch von den russischen Entscheidungsträgern vermittelt wurde, dass da auch Bewegung reinkommt. Ich glaube und hoffe, dass die Solidarität, die die Polen jetzt erfahren haben und weiter erfahren in dieser schweren Zeit, dass das auch hilft, vielleicht alte Wunden zu heilen. Und es gibt nun mal alte Wunden, sowohl mit den Russen als auch ganz große natürlich mit Deutschen. Und ich wünsche mir zumindest, dass die jetzt immer noch schwelende Debatte um das Vertriebenengedenken jetzt vielleicht doch zu einer vernünftigen und für alle Seiten auch dann akzeptablen Lösung geführt wird.
Heckmann: Kommen wir zur Innenpolitik und damit vor allem zum Thema "Afghanistanpolitik". Am Karfreitag hat es einen Vorfall gegeben mit drei deutschen Soldaten, die ums Leben gekommen sind, einige wurden schwer verletzt. Bundesverteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg hat vor wenigen Tagen angekündigt in Afghanistan, jetzt mehr schwere Waffen in diese Krisenregion bringen zu lassen, also Haubitzen, mehr Schützenpanzer. Nun am Donnerstag ein erneuter Vorfall mit deutschen Toten. Spitzt sich die Lage in Afghanistan so zu, dass man sagen müsste, wir bräuchten eine Kursänderung?
Nahles: Wir haben auf jeden Fall eine Zunahme von massiven Angriffen. Wir hatten über Jahre eine sehr ruhige Situation im Norden von Afghanistan, das hat sich in den letzten Monaten geändert. Und ich muss sagen, dass ich sehr in Sorge bin. Jedes Mal trifft es mich, weil ich als Parlamentarierin - die Deutschen haben ja eine Parlamentsarmee – darüber entscheide, ob dieser Einsatz weiter verlängert wird, ob deutsche Soldaten da ihre Haut hinhalten. Und ich glaube, dass wir uns jetzt einen umfassenden Überblick über die Sicherheitslage machen müssen, die offensichtlich nicht im Griff ist und wo man wirklich sagen muss, dass wir nicht absehen können, ob die Strategie – jetzt mehr starkes Gerät da runterzuführen – ob das wirklich die Lösung ist. Ich mache zumindest ein Fragezeichen dahinter. Ich bin dafür, dass die Sicherheit jedes Soldaten definitiv verbessert wird, da – wo nötig – auch nachgelegt wird mit Ausrüstung. Aber ich glaube nicht, dass eine Eskalation der kriegerischen Handlungen da zu einer Verbesserung der Gesamtlage führt – was die Frage aufwirft, ob es eine koordinierte Strategie von NATO und den anderen Bündnispartnern jetzt geben muss, auch eine neue Lagebewertung. Ich jedenfalls wäre dafür, dass man sich jetzt die Zeit nimmt, um die Lage noch mal einzuschätzen.
Heckmann: Es scheint sich immer mehr zu bestätigen der Eindruck, dass der Begriff "Krieg", den jetzt auch die Bundesregierung, auch die Bundeskanzlerin im Munde führt, zutreffend ist!
Nahles: Ein Krieg ist eine Sache, die zwischen zwei Völkern erklärt wird – nach Definition des Völkerrechtes. Das ist hier nicht der Fall, wir haben keinen Krieg mit der afghanischen Regierung oder dem afghanischen Volk. Es gibt deswegen große Zurückhaltung aufseiten der SPD, sich diesen Begriff völkerrechtlich zu eigen zu machen. Und trotzdem sind es tatsächlich Situationen, die im Normalverständnis der Bevölkerung einfach nicht anders zu bezeichnen sind. Aber trotzdem geht es nicht um Begriffe, es geht nicht um Begriffe, sondern es geht darum: Schaffen wir es, das, was jetzt in dem neuen Mandat, wo die SPD noch mal zugestimmt hat, mit Bedingungen allerdings, dass die Bedingungen auch erfüllt werden können unter diesen neuen, offensichtlich verschärften Bedingungen. Das heißt: Gibt es die reale Chance auf einen Abzug, 2011 beginnend, und gleichzeitig die Möglichkeit, zunehmend Provinz für Provinz in die afghanische Selbstverwaltung zu übergeben, um damit auch die Präsenz von ausländischen Truppen vor Ort überflüssig zu machen. Das ist ja der Plan. Ist das noch möglich oder ist das nicht mehr möglich? Das ist die eigentliche Frage, die zu beantworten ist und nicht Begriffsklaubereien. Das scheint mir eine Ablenkungsdebatte zu sein zurzeit.
Heckmann: Es geht aber auch darum – und das hört man ja auch von den Soldaten – um das Bedürfnis, Situationen so zu bezeichnen, wie sie wahrgenommen werden. Und Ihr Parteichef, SPD-Chef Sigmar Gabriel, hat die Tatsache, dass die Bundesregierung jetzt von "Krieg" redet, jetzt zum Anlass genommen, ein neues Mandat ins Spiel zu bringen. Er hat gesagt: Eigentlich müsste die Bundesregierung jetzt in den Bundestag gehen und sich ein neues Mandat besorgen, wenn man die Geschäftsgrundlage sozusagen ändert. Der Verteidigungsminister zu Guttenberg sagt allerdings, das Mandat ist auf die Realitäten hin entsprechend ausgerichtet. Hat die SPD also dieses Mandat nicht richtig gelesen?
Nahles: Wir haben das wesentlich mitgestaltet dieses Mandat, indem wir konkret eine Abzugsperspektive – 2011 beginnend – dort hineinverankern konnten nach längeren Debatten, die auch öffentlich nachvollziehbar waren. Die SPD hat außerdem Kriterien entwickelt – das Mandat muss ja nach einem Jahr verlängert werden –, die dann auch von uns sehr ernst genommen werden, ob wir wirklich eine weitere Verlängerung rechtfertigen können. Das hängt davon ab, wie weit wir die selbst gesetzten Ziele – die Ausbildungskapazitäten der afghanischen Polizei, die Ausbildung von afghanischen Soldaten – wirklich deutlich nach oben zu fahren, um eben einen Abzug der internationalen Truppen zu ermöglichen. Das haben wir mit diesem Mandat gemacht. Wir brauchen deswegen kein neues Mandat, das hat auch Sigmar Gabriel gar nicht gefordert. Er hat nur gesagt: Wer von Krieg redet, der muss wissen, dass das nicht abgedeckt wird durch das, was wir derzeit auch in der deutschen Verfassung, in dem bisherigen Rahmen, diskutiert haben ...
Heckmann: ... das heißt, dann bräuchte es ja ein neues Mandat ...
Nahles: ... man braucht kein neues Mandat, wenn man es so geschickt anstellt und den Satz – "im umgangssprachlichen Sinne redet man von Krieg" – sagt. Das machen ja Guttenberg und Merkel die ganze Zeit. Das sind aber – noch mal – für mich Wortklaubereien. Es sind wieder deutsche Soldaten umgekommen, darum geht's jetzt nicht, ob das jetzt umgangssprachlich ein sogenannter Krieg ist oder ob das ein richtiger Krieg ist, das scheint mir nach dem Ereignis jetzt in dieser Woche nicht der entscheidende Punkt zu sein, sondern: Können wir die gesetzten Ziele erreichen? Ist ein Abzug und die Übergabe der Verantwortung an die afghanische Regierung möglich oder müssen wir - noch mal – auch im Verbund mit unseren internationalen Partnern Neues probieren? Ist alles getan, um die selbst gesteckten Ziele zu erreichen? Ich darf Ihnen was sagen: Mein Optimismus, dass das gelingt, war auch schon mal größer.
Heckmann: Aber ich möchte noch mal nachhaken. Gabriel hat gesagt: Wenn in dem Mandat wirklich von "Krieg" die Rede gewesen wäre, dann wäre die Abstimmung im Bundestag mit Sicherheit anders verlaufen. Das hört sich ein bisschen nach einem Versuch an, sich von der Regierungspolitik, der alten Regierungspolitik auch unter der SPD, abzusetzen.
Nahles: Wir sind nicht von der Regierungsverantwortung in die Verantwortungslosigkeit gewechselt. Das kann ich wirklich selbstbewusst für die SPD sagen. Wir haben, obwohl es in unserer eigenen Partei auch heftige Debatten gibt – und das ehrt auch eine sozialdemokratische Partei, wenn es solche Debatten um den Afghanistaneinsatz gibt – haben wir gesagt: Wir glauben, dass es richtig ist und wichtig ist, dass wir die afghanische Regierung und das afghanische Volk in die Lage versetzen, dass sie sich gegen Übergriffe der Taliban selber zur Wehr setzen können. Darum geht es. Und das ist unsere Verpflichtung, auch nachdem wir diesen Einsatz ja auch begonnen haben. Und demzufolge sind wir da nicht einfach in die Büsche, haben aber von der Bundesregierung verlangt, dass sie eine konkrete Abzugsperspektive benennt. Dazu stehen wir auch weiterhin, aber es muss auch wirklich eine konkrete Abzugsperspektive dann umgesetzt werden. Gerade die jüngeren Ereignisse zeigen, dass das dringender denn je ist.
Heckmann: Frau Nahles, der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus von der FDP hat gefordert, Leopard-II–Panzer nach Afghanistan zu entsenden, damit sich die Truppe dort besser verteidigen kann, damit man dort die Einrichtungen besser schützen kann. Die Bundeskanzlerin hat geantwortet: An vielen Stellen sei viel Inkompetentes gesagt worden, und Herr Königshaus fühlt sich nicht angesprochen. Zu Recht?
Nahles: Na ja, also ich bin sehr dafür, dass die Soldaten, wenn sie schon ihre Gesundheit und ihr Leben da gefährden, sich vernünftig verteidigen können und da auch eine entsprechende Ausrüstung haben. Aber diese Aufrüstung und Panzer nach Afghanistan: Das ist doch wirklich dem Umstand geschuldet, dass der neue Wehrbeauftragte einfach noch neu ist. Also, mit Verlaub: Ich glaube, da gibt es seriösere Ratgeber für die Bundesregierung als der neue Wehrbeauftragte.
Heckmann: Demnächst, Frau Nahles, sagt Theodor zu Guttenberg im Kundus-Untersuchungsausschuss aus. Warten Sie seine Aussage ab, oder steht die Bilanz der SPD eigentlich schon fest nach dem Motto: Guttenberg ist belastet?
Nahles: Es gab ja nun sehr interessante, durchaus aufschlussreiche Zeugenaussagen von Generalinspekteur a.D. Schneiderhan und auch vom früheren beamteten Staatssekretär. Ich kann nur sagen, dass danach feststeht, dass der Rauswurf dieser beiden Personen mit der Begründung, man habe Guttenberg zentrale Informationen vorenthalten, sich als falsch herausgestellt hat. Deswegen bin ich sehr interessiert, was Herr von Guttenberg dazu sagt. Ich kann dazu nur anmerken, dass ich von einem Minister erwarte, dass er, wenn er Fehler macht, die dann wenigstens dann auch klar eingesteht. Es ist auf jeden Fall gravierend, weil er die Reputation von zwei sehr angesehenen hochrangigen Bundeswehrvertretern letztendlich auch beschädigt hat. Er hat auch einen weiteren General noch entlassen, und insoweit bin ich sehr interessiert, was Herr von und zu Guttenberg dazu sagt.
Heckmann: Für wie politisch angeschlagen halten Sie den Minister?
Nahles: Ich glaube, dass es darum geht, jetzt erst mal seine Zeugenaussage abzuwarten. Er ist mehrfach gestolpert über seine eigene Chuzpe – "Hier komme ich, jetzt mache ich mal den großen Auftritt" – das ist ja so seine Geste, mit der er sein Amt begonnen hat. Immer wieder sind das dann auch Fehler gewesen, es ist ja nicht der erste. Und deswegen kann ich nur hoffen, dass er wirklich zu dem Eigentlichen zurückfindet, nämlich dass er eine Verantwortung da hat, die entsprechend auch guten Rat braucht und gute und gründliche Abwägung von Fakten. Das hat er offensichtlich nicht gemacht, er hat wirklich sich nicht genügend eingearbeitet, die Fakten zur Kenntnis genommen und dann ein Urteil gefällt, was falsch war. Und das ist schon etwas, was mich beunruhigt, auch angesichts der sich zuspitzenden Sicherheitslage in Afghanistan selbst.
Heckmann: Jahrelang hat die Bundesregierung gefordert, dass Guantanamo geschlossen werden soll. Nun verhandelt die Bundesregierung offenbar auch ganz konkret über die Aufnahme von – wie es heißt – drei Insassen. Viele unionsregierte Bundesländer haben schon abgewunken, wollen das nicht haben. Aber auch die SPD-geführten Länder, mit Verlaub, drängeln sich da nicht vor. Betreibt die SPD also in diesem Punkt eine unmoralische Politik?
Nahles: Ich weiß zum Beispiel, dass der Ministerpräsident des Landes, aus dem ich komme, Kurt Beck, das nicht ausgeschlossen hat für Rheinland-Pfalz. Er hat damit auch aufgegriffen die Münchener zum Beispiel. Die werden übrigens von Rot-Grün geführt. Die haben auch Bereitschaft erklärt. Es ist ja nicht so, dass die Lage hier so wäre, dass das in der Situation ist, die sich da auf die SPD jetzt überwälzen lässt, mit Verlaub. Die Bundesregierung hat selber in Form von Innenminister de Maizière erklärt, dass er prüft, ob Guantanamo-Häftlinge aufgenommen werden. Dann hat es Sperrfeuer gegeben gegen den Innenminister aus den eigenen Reihen, unter anderem auch von Jürgen Rüttgers und anderen. Und damit ist dann Frau Merkel in die USA geflogen zu einem sehr wichtigen Termin. Es sind ja eine ganze Reihe von Gesprächen von Frau Merkel in den USA geführt worden. Sie konnte aber keine einheitliche Linie der deutschen Bundesregierung dort vortragen. Das finde ich schon peinlich genug.
Heckmann: Aber wäre es nicht an der Zeit, jetzt auch für die SPD zu sagen oder für ein SPD-regiertes Land den Finger zu heben und zu sagen: Okay, wir wären bereit?
Nahles: Wir warten jetzt die Prüfung ab. Die Bereitschaft grundsätzlicher Art der SPD ist seit Langem bekannt, dass wir sagen, dieses Gefängnis muss geschlossen werden. Barack Obama braucht dafür auch die Unterstützung der Verbündeten und wir können uns natürlich unter Berücksichtigung auch der eigenen Sicherheitsinteressen nicht völlig versperren. Das wollen wir auch nicht. Aber natürlich müssen auch die eigenen Sicherheitsinteressen geprüft werden. Das warten wir ab. Ich sage noch mal: Einigkeit existiert im Augenblick nicht in der Bundesregierung über diese Frage. Die SPD hat ihre grundsätzliche Position dazu klar gemacht.
Heckmann: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Andrea Nahles, Generalsekretärin der SPD. Kommen wir zur Sozialpolitik. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen von der CDU, die hat sich in diesen Tagen gegen Ausnahmen bei der Rente mit 67 ausgesprochen, man würde ja mit 66 nicht mehr das machen müssen, was man mit 16 Jahren gelernt habe und man könne sich ja auch auf Büroarbeiten verlegen. Was sagen Sie dazu?
Nahles: Mein Vater war 45 Jahre am Bau und ich sage Ihnen, ich bin empört gewesen, als ich das gehört habe, wie man so etwas Realitätsfernes wirklich äußern kann. Das erschüttert. Sehen Sie, selbst wenn Sie den nach 35 Jahren, wo er am Bau war, mein Vater, um bei dem Beispiel mal zu bleiben, zu dem dann gesagt hätten: 'So, jetzt machst du mal den Bürojob hier in der Firma', also, was das soll. Es ist völlig an den Realitäten vorbei. Erstens mal ist der gerne Maurer gewesen. Das kann der auch. Und es ist etwas, was aus meiner Sicht wirklich fast schon eine wirkliche Entwertung auch von handwerklichen, körperlich anstrengenden Tätigkeiten, zum Beispiel auch von der Krankenschwester und anderen ist. Sicherlich gibt es Möglichkeiten, Menschen auch umzuschulen und zu qualifizieren. Aber die Formulierung von Frau von der Leyen war ja, dass das für alle möglich sein soll. Das geht völlig an den Realitäten vorbei. Und deswegen muss ich sagen, bin ich der Auffassung, dass sie das zurücknehmen soll. Es ist angebracht, weil wirklich viele Leute sich darüber zu Recht aufregen.
Heckmann: Die FDP hat in dieser Woche ihr Steuerkonzept vorgelegt. Demnach soll die Entlastung nur noch 16 Milliarden Euro betragen. Argumentiert wird, dass der Rest von den 24 Milliarden, die im Koalitionsvertrag festgelegt sind, eben schon vollzogen worden sind durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Es soll fünf Stufen statt drei Stufen geben und das Ganze soll auch erst ab 2012 starten und nicht im Jahr 2011. Manche sagen, die FDP habe sich der Realität angenähert. Gibt es also insofern noch einen Grund, an der Drohung festzuhalten, die ganze Sache über den Bundesrat zu blockieren, falls die SPD aus der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen siegreich hervorgehen würde?
Nahles: Die FDP hat gemerkt, dass die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland vernünftig sind und angesichts von Rekordverschuldung von 85 Milliarden Euro in diesem Jahr und einer wirklich schwierigen Lage von Kommunen und Städten Steuersenkungen für bestimmte Teile der Bevölkerung schlichtweg nicht sinnvoll sind und nicht finanzierbar sind. Deswegen rudert sie jetzt ein bisschen zurück. Aber dahinter steckt ja keine echte Erkenntnis. Es wird ja nur geschoben. Es wird ja nicht gesagt, dass man auf absehbare Zeit – und genau das wird der Fall sein – erkennt, dass Steuersenkungen nicht finanzierbar sind. Und deswegen halte ich das für ein taktisches Manöver vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl, um wirklich den negativen Trend gegen die FDP ein bisschen abzufedern. Aber jeder merkt doch, dass 16 Milliarden 16 Milliarden sind und dass die auch 2012 nicht für Steuergeschenke übrig sind, sondern dass wir lieber Schulden zurückfahren sollten und Schlaglöcher stopfen sollten. Und deswegen ist das von meiner Seite aus alter Wein in neuen Schläuchen.
Heckmann: Frau Nahles, seit fast einem halben Jahr ist Sigmar Gabriel Chef der SPD. Sie sind Generalsekretärin seitdem. Was ist eigentlich aus Ihrem Versprechen eines Aufbruchs geworden? Denn wenn man sich vorstellt, alles spricht vom Fehlstart der derzeitigen Bundesregierung, und die SPD, die kommt in keiner einzigen Umfrage über 26 Prozent. Die Union ist bei zehn Punkten mehr.
Nahles: Also, wir haben hier sehr wohl Aufbruchstimmung im wichtigsten Landesverband der SPD. Das ist immer noch Nordrhein-Westfalen. Wir haben eine Chance, hier Rot-Grün wirklich auch zu schaffen, also eine richtige Alternative auch mit Mehrheiten zu versehen. Das wäre wirklich ein großes Signal. Aber richtig ist auch, dass die Wählerinnen und Wähler, die uns ihr Vertrauen entzogen haben im letzten Jahr, noch lange nicht alle zurückgewonnen wurden. Und das wird auch noch eine Weile dauern auf der Bundesebene, denn da sind nun mal noch eine Reihe von Menschen, die jetzt sagen: 'Na, gucken wir mal, haben die wirklich etwas dazugelernt, sind die bereit, auch Korrekturen zu machen?' Ich glaube, da ist noch viel Vertrauensarbeit notwendig. Aber mein Eindruck ist, dass wir uns da auf der richtigen Spur bewegen. Und meine Erwartung war nie, dass wir das nach einem halben Jahr alles erledigt haben.
Heckmann: Oskar Lafontaine, der scheidende Chef der Linken, steht der Zusammenarbeit mit der SPD ja jetzt nicht mehr im Weg. Werden wir nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen das Tabu fallen sehen, nämlich die Zusammenarbeit mit den Linken im Westen?
Nahles: Ich muss sagen, dass ich große Zweifel hege, ob ich mich damit abfinden möchte, dass die Linken im Westen sich auf dem Niveau etablieren, wie das in den letzten Jahren bei den Umfragen und bei den Wahlen teilweise der Fall war.
Heckmann: Vielleicht ist es ein Faktum.
Nahles: Es kann sein, es kann aber auch sein, dass ihre kontinuierliche Weigerung, sich einer Realpolitik gegenüber zu öffnen, auch bei den Bürgerinnen und Bürgern durchfällt auf Dauer, zum Beispiel die Vorschläge hier im Land, das Wahlprogramm der Linken zur Verstaatlichung von allem, was nicht niet- und nagelfest ist, das ist doch jenseits von einem vernünftigen Politikansatz. Oder auch das neue Grundsatzprogramm der Linken auf der Bundesebene hat mich doch sehr enttäuscht, weil hier offensichtlich eben nicht Regierungsbeteiligung angestrebt wird.
Heckmann: Sie hätten sich etwas anderes gewünscht? Das hört sich danach an, ob Sie sich schon mit der Existenz der Linken in der Tat abgefunden hätten und nicht mehr versuchen würden, sie klein zu halten.
Nahles: Das glauben Sie aber mal nicht. Das ist ein politischer Gegner, der aus meiner Sicht, wenn man ihn hier in Nordrhein-Westfalen bei der Landtagswahl unterstützen würde, auf jeden Fall schon den Nachteil hätte, dass man die Stimme verschenkt, weil – wie gesagt – die gar nicht regieren wollen. Deswegen sollte man eben anders entscheiden. Zum Zweiten, ich komme aus Rheinland-Pfalz, wir haben im nächsten Jahr Landtagswahl, wir werden wirklich überall versuchen, die Linkspartei unter fünf Prozent zu drücken. Im Westen ist das meiner Meinung nach möglich.
Heckmann: Hannelore Kraft hält sich eine Zusammenarbeit mit der Linken de facto offen. Sie schließt es nicht offiziell aus. Denken Sie nicht, dass eine solche Strategie nicht auch viele SPD-Wähler verunsichert?
Nahles: Hannelore Kraft erklärt, dass sie eine verantwortliche Regierung bilden wird. Und darauf verlassen wir uns mal, denn ich glaube ihr das. Ich weiß, dass sie so denkt.
Heckmann: Pardon, wenn die Linke nicht regierungsfähig ist, dann könnte sie ja auch sagen, sie schließt es aus.
Nahles: Wir haben eine klare Position, dass die Landesparteien über ihre Koalitionspräferenzen auf Landesebene entscheiden. Das sage ich als SPD-Generalsekretärin, und ich meine das auch ernst. Ich glaube, dass Hannelore Kraft nach dem 9. Mai hier eine verantwortliche Politik machen wird und eine verantwortliche Regierungsbildung betreiben wird. Und eines kann man sagen: Die Linkspartei will in Nordrhein-Westfalen nicht regieren. Jede Stimme für sie ist eine verlorene.
Heckmann: Sie hören das Interview der Woche mit Andrea Nahles hier im Deutschlandfunk. Frau Nahles, zum Abschluss eine Frage an Sie als bekennende Katholikin. Morgen vor fünf Jahren wurde Kardinal Ratzinger zum Papst gewählt. Benedikt XVI steuert die katholische Kirche derzeit durch eine schwere Krise. Ich denke, das kann man sagen vor dem Hintergrund des Missbrauchskandals. Ist es eigentlich in diesen Tagen für Sie schwer, sich als Katholikin zu definieren?
Nahles: Nein, aber ich finde vieles, was in den letzten Wochen ans Licht gekommen ist, bedrückend. Dass es hier offensichtlich über Jahrzehnte systematische Vertuschung gegeben hat, belastet also wirklich jeden, mit dem ich in den letzten Wochen darüber gesprochen habe. Und trotzdem sage ich, gerade jetzt sollten sich aktive, auch jüngere Katholiken einmischen. Sie sollten, wenn sie Kritik haben, die auch artikulieren. Das ist in einer Krisensituation oft das einzig Gute, was man machen kann, um Sachen auch voranzutreiben. Ich komme aus dem Bistum Trier, wo Stephan Ackermann, der Bischof von Trier, beauftragt ist mit der Aufklärung der Missbrauchsfälle. Und was ich beobachte, ist, dass die das mit großem Ernst auch betreiben. Wir haben da jetzt eine Hotline, die wird regelrecht überlaufen und es wird sehr ernst daran gearbeitet. Also ich sage mal, es kann auch eine Chance sein, wirklich an dieser Front auch noch mal ein Stück weit mehr Glaubwürdigkeit auch für die katholische Kirche zu gewinnen, weil – vieles war eben unter dem Deckel, vieles ist auch unter den Teppich gekehrt worden in den letzten Jahrzehnten, und das ist möglicherweise eine Chance, da ehrlicher zu sein und das Ganze aufzuarbeiten.
Heckmann: Ein ganz kurzes Wort: Bilanz des Papstes?
Nahles: Ich glaube, er ist ein großer Theologe. Ob er ein großer Menschenfischer ist, das wage ich mal in ein gewisses Fragezeichen einzukleiden. Aber ich denke, dass er in jedem Fall bemüht ist, dieses große Schiff katholische Kirche, wo über eine Milliarde Menschen sich zugehörig fühlen, so verantwortlich wie möglich durch schwierige Gewässer zu führen. Er hat auch sehr klare Worte gefunden an die irischen Bischöfe, weil es dort ja auch erhebliche Missstände und massive Missbrauchsfälle gegeben hat. Also, ich denke, dass man jetzt auch sehen muss, wie das in den nächsten Jahren weitergeht. Auch gerade jetzt in diesen Wochen ist er natürlich sehr gefordert, dass eben auch die sich immer ausweitenden Missbrauchsfälle auch weiter sauber aufgeklärt werden. Ich denke nicht, dass Papst Benedikt einer ist, der große Reformen einleiten wird in der katholischen Kirche. Das erwarte ich zumindest nicht.
Heckmann: Frau Nahles, ich bedanke mich für das Gespräch.