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Nahost-Experte Michael Lüders
"Die Türkei spielt ein doppeltes Spiel"

Der Nahost-Experte Michael Lüders hegt Zweifel, dass das Selbstmordattentat in Istanbul tatsächlich von einem IS-Kämpfer verübt worden ist. Es sei weitaus plausibler, von einem kurdischen Hintergrund auszugehen. Angesichts des erbarmungslosen Kampfes gegen die kurdische Zivilbevölkerung liege ein Racheakt nahe, sagte er im DLF.

Michael Lüders im Gespräch mit Dirk Müller |
    Der Nahost-Experte Michael Lüders
    Der Nahost-Experte Michael Lüders (imago stock & people)
    Die Informationspolitik der Türkei unmittelbar nach dem Anschlag in Istanbul macht den Nahost-Experten Michael Lüders misstrauisch. Es sei erstaunlich, dass man sehr schnell gewusst haben wolle, dass der Attentäter aus Syrien stamme und dem IS zuzordnen sei, man über die Opferzahlen aber nichts genaueres gewusst habe, sagte er im DLF.
    "Warum sollte der IS einen Terroranschlag dieser Art durchführen?", fragte sich Lüders. Die Türkei sei für die Terrormiliz einer der wichtigsten Verbündeten. Viele Kämpfer würden in der Türkei rekrutiert und große Mengen des Erdöls von der Türkei abgenommen. Deshalb spiele die türkische Regierung ein doppeltes Spiel. Nur theoretisch bekämpfe man den IS, inoffiziell und mit Unterstützung des türkischen Geheimdienstes mache man aber eigentlich gemeinsame Sache mit dem Islamischen Staat.
    Lüders: Türkische Politik ins Mark getroffen
    Lüders vermutet deshalb, dass der Anschlag einen kurdischen Hintergrund haben könnte. Die Türkei führe einen erbarmungslosen Krieg gegen die kurdische Zivilbevölkerung. Ohne Not habe man den Friedensprozess mit den Kurden aufgekündigt. Für Lüders ist deshalb ein Racheakt von kurdischer Seite als Hintergrund des Attentats plausibler. Dadurch, dass man Touristen ins Visier genommen habe, wolle man eine wichtige Devisenquelle der Türkei kappen. Damit habe man die türkische Politik ins Mark getroffen, nachdem zuvor schon nach dem Abschuss eines russischen Kampfbombers russische Touristen ausgeblieben seien.
    Entgegen offizieller Verlautbarungen stehe die Türkei im Kampf gegen den IS nicht an der Seite Europas und der USA. "Geopolitik ist oft ein Spiel mit gezinkten Karten", unterstrich Lüders. Die deutsche Außenpolitik lasse der Türkei aber offensichtlich die doppelte Strategie durchgehen, da man das Land zur Eindämmung der Flüchtlingsströme brauche. Der Kampf gegen den IS werde aber scheitern, wenn Länder wie die Türkei und Saudi-Arabien ein doppeltes Spiel betrieben.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Wir bleiben beim Terroranschlag in der Türkei, wir bleiben bei den Ereignissen in Istanbul. Wir sind nun verbunden mit dem Nahost- und Türkei-Experten Michael Lüders. Guten Morgen.
    Michael Lüders: Schönen guten Morgen! Hallo!
    "Auf den ersten Blick nicht sehr plausibel"
    Lüders: Herr Lüders, wir haben Klaus Remme eben gehört. IS und Kurden - ist der Terroranschlag ein IS-Anschlag?
    Lüders: Wir können darüber im Augenblick nur spekulieren. Aber es ist ja doch erstaunlich, dass die türkischen Sicherheitskräfte bereits wenige Minuten nach dem Anschlag wussten, dass es sich um einen Attentäter aus Syrien, geschickt vom Islamischen Staat gehandelt habe, während es gleichzeitig Stunden gedauert hat, bis die Identität der Toten geklärt war. Das alleine sollte etwas misstrauisch machen. Die Türkei hat zwei Fronten, an denen sie kämpft: gegen die Kurden im Südosten der Türkei und offiziell auch gegen den Islamischen Staat. De facto aber arbeitet die Türkei sehr eng mit dem Islamischen Staat zusammen. Bis heute gibt es Rekrutierungsbüros desselbigen etwa in Istanbul. Das meiste Erdöl, das der Islamische Staat verkauft, geht in Richtung Türkei. Warum sollte der Islamische Staat einen Terroranschlag dieser Art durchführen? Es ist natürlich theoretisch dem Islamischen Staat zuzutrauen. Er hat ja in der Vergangenheit oft genug Terroranschläge begangen. Aber warum sollte er jetzt seine Geschäftsbeziehungen in Richtung Türkei beschädigen? Das klingt zumindest auf den ersten Blick nicht sehr plausibel.
    Müller: Das würde ich Sie auch dann gerade fragen wollen. Jetzt haben Sie die Frage selbst gestellt. Jetzt frage ich aber noch einmal, vielleicht in dem Kontext: Warum dieser Anschlag, wenn dem so ist, dass die Türkei den IS unterstützt? Warum dieser Anschlag? War es vielleicht "nur" ein Anschlag gegen Deutsche?
    Lüders: Ich glaube, dass sich dieser Anschlag in erster Linie gegen die türkische Regierung, gegen die türkische Politik gerichtet hat. Es ist ein Anschlag, der bewusst Touristen ins Ziel genommen hat. Ob nun vorsätzlich Deutsche aus Opfer auserkoren waren, das können wir nicht beurteilen. Aber es ist ganz klar, dass der Attentäter oder die Attentäter hier den Tourismus treffen wollten, eine wichtige Devisenquelle für die Türkei. Die Russen haben für dieses Jahr alle touristischen Aktivitäten in Richtung Türkei abgesagt wegen des Abschusses eines russischen Kampfflugzeuges durch die Türkei. Wenn nun auch die Deutschen, die wichtigste touristische Reisegruppe in Richtung Türkei, ihre Reisen stornieren, dann bekommt die Türkei ein ernsthaftes Problem, und das war sicherlich genau auch das, was diese Attentäter erreichen wollten, dass der Tourismus kollabiert.
    "Terroranschlag könnte Racheakt von Kurden sein"
    Müller: Wir haben gestern Abend im Deutschlandfunk ja schon darüber gesprochen, auch gestern Nachmittag mit Ihnen. Jetzt hat man ein bisschen Zeit gehabt, die neuen Informationen, die Hinweise noch einmal zu sortieren. Sie schließen auch eine kurdische Motivation, einen kurdischen Hintergrund nach wie vor nicht aus?
    Lüders: Nein, auf gar keine Weise. Denn diemittlerweile wieder im Südosten der Türkei, nicht allein gegen die PKK, sondern man kann sagen gegen die kurdische Zivilbevölkerung insbesondere. Ganze Städte werden unter Mörserbeschuss genommen, Cizre etwa oder die Altstadt von Diyarbakir. Das alles ist eine sehr unerfreuliche Entwicklung. Die türkische Regierung hat ohne Not im Sommer vorigen Jahres den Friedensprozess mit der PKK, mit den Kurden aufgekündigt und ich kann mir vorstellen, dass es sich bei diesem Terroranschlag um einen Racheakt von Kurden gehalten hat. Das muss nicht notwendigerweise die PKK selber gewesen sein; das ist eher unwahrscheinlich, dass sie dieses tun würde. Aber auf jeden Fall sind Racheaktionen nicht auszuschließen. Es bedarf ja nicht viel, um einen solchen Terroranschlag durchzuführen. Es reichen einzelne Personen, die wissen, wie man mit Sprengstoff umgeht.
    Eine kurdische Flagge weht während einer Demonstration für eine Aufhebung des PKK-Verbots am 21.02.2015 in Berlin
    "Die türkische Regierung führt einen doch erbarmungslosen Krieg gegen die Kurden", betonte Lüders. (IMAGO/Markus Heine)
    Müller: Nun gibt es ja, Herr Lüders, international, auch in Deutschland viel Sympathie für die Kurden, auch für den Kampf der Kurden oder für das politische Ansehen der Kurden, unabhängiger zu werden, mehr Rechte zu bekommen. Jetzt muss ich wiederum fragen: Warum sollten die Kurden daran Interesse haben, ausländische Touristen in die Luft zu jagen?
    Lüders: Ich glaube auch nicht, dass die politisch Verantwortlichen auf Seiten der Kurden eine solche Aktion befürworten würden. Aber wenn man zu einer Familie gehört, die die eigenen Angehörigen verloren hat in Folge des Bombardements in den letzten Wochen und Monaten, dann kann es natürlich zu Kurzschlusshandlungen kommen. Wir müssen klar und deutlich sagen: Wir wissen nicht die genauen Hintergründe dieses Terroranschlages. Jede Spur ist denkbar. Aber man sollte doch zumindest Fragen stellen mit Blick auf den Islamischen Staat. Es erscheint nicht unbedingt plausibel und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Islamische Staat diesen, seinen wichtigsten Verbündeten, die Türkei, dermaßen ins Visier nehmen würde. Ich glaube, dass es da noch andere Kanäle gibt, die wir aber möglicherweise nie freilegen werden, weil sicherlich auch die Regierung in Ankara nicht interessiert sein wird, das alles zu offenbaren. Ich glaube auch nicht, dass man von türkischer Seite jemals bekennen würde, selbst wenn dem so sein sollte, dass hier eine Spur in Richtung Kurden führt, denn das würde ja bedeuten, dass der Anti-Terror-Kampf, der vermeintliche der Türkei gegen die Kurden, nicht erfolgreich wäre.
    "Türkei bekämpft Islamischen Staat nur theoretisch"
    Müller: Viele von uns und von den Hörern werden jetzt verwirrt sein, wenn wir dem folgen, was Sie sagen, auch was Sevim Dagdelen jetzt gesagt hat. Das heißt, die Türkei ist im Kampf gegen den IS gar nicht mit uns in einem Boot?
    Lüders: Nein, das ist sie auf gar keinen Fall. Das tut sie auf rhetorischer Ebene, dass sie den Islamischen Staat bekämpft. De facto aber macht sie mit ihm, machen die Geheimdienste der Türkei gemeinsame Sache mit dem islamischen Staat, und zwar deswegen, weil der Islamische Staat aus Sicht der türkischen Regierung, der Geheimdienste gebraucht wird, benutzt wird als Rammbock gegen die Kurden im Norden Syriens, die eng mit der PKK leiert sind. Es ist also der Versuch der Türkei, mit Hilfe des Islamischen Staates die Kurden zu schwächen. Rhetorisch bekämpft man den Islamischen Staat. Amerikanische Flugzeuge und andere dürfen vom türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik Stellungen des Islamischen Staates bombardieren. Es ist also eine doppelte Strategie, die die Türkei hier verfolgt. Aber sie ist nicht offen und ganz gewiss nicht mit derselben Vehemenz daran beteiligt, den islamischen Staat zu bekämpfen, wie das die westlichen Staaten, neuerdings auch Russland tut. Es ist hier ein doppeltes Spiel, das Ankara spielt. Das weiß man auch in den westlichen Hauptstädten. Man lässt aber die Türkei gewähren, weil man die Türkei braucht als ein Land, das idealerweise noch mehr Flüchtlinge aufnimmt und den Flüchtlingsstrom in Richtung Europäische Union unterbindet.
    "Geopolitik als Spiel mit gezinkten Karten"
    Müller: Ist das Betrug an der Öffentlichkeit in Deutschland?
    Lüders: Es ist eine sehr gefährliche Politik, die die Regierung Erdogan betreibt.
    Müller: Ich meine jetzt die deutsche Politik. Wenn Frank-Walter Steinmeier das alles weiß, was Sie jetzt sagen, dann belügt er die Öffentlichkeit?
    Lüders: Na ja, Politik, Geopolitik zumal ist vielfach ein Spiel mit gezinkten Karten und die Interessen, die hier verfolgt werden, werden selten in der Öffentlichkeit diskutiert. Es gibt hier unterschiedliche Ebenen der Interessenslagen und es gibt in der westlichen Politik, in der europäischen Politik, auch in den Überzeugungen vieler Berliner Politiker den Eindruck, lass die Türkei machen was sie will, das ist uns alles recht, solange diese Flüchtlingsfrage, das für uns wichtigste innenpolitische Thema, irgendwie erleichtert wird durch eine konstruktive Politik der Türkei in Sachen Flüchtlinge. Das überlagert alles andere. Aber wenn man die Sache nüchtern betrachtet, muss man sagen, der Kampf gegen den Islamischen Staat wird auch deswegen scheitern, weil Länder wie die Türkei oder Saudi-Arabien ein doppeltes Spiel spielen.
    Müller: Der Nahost- und Türkei-Experte Michael Lüders heute Morgen bei uns zu Gast. Vielen Dank und Ihnen noch einen schönen Tag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.