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Nahost-Experte zur Befriedung Syriens
"Es braucht wohl eine Salamitaktik"

Der Krieg in Syrien sei längst kein Bürgerkrieg mehr, sondern ein Stellvertreterkrieg mit ganz vielen Fronten, sagte Nahost-Experte Michael Lüders im Dlf. Die einzelnen Interessengruppen würden sich in einem Maße überlappen, dass es schwierig sei, mit einfachen Lösungen zu arbeiten.

Michael Lüders im Gespräch mit Christiane Kaess |
    Die Nationalflaggen der Türkei, Frankreichs, Deutschlands und Russlands.
    Bei der Syrien-Konferenz in Istanbul stehen vor allem zwei Themenpunkte auf der Tagesordnung: die Lage in der Provinz Idlib und der Wiederaufbau des Landes (imago)
    Christiane Kaess: Und am Telefon ist jetzt Michael Lüders, er ist Nahostexperte. Guten Tag, Herr Lüders!
    Michael Lüders: Schönen guten Tag, Frau Kaess, hallo!
    Kaess: Die einzige Region also, in der Assad die Macht noch nicht zurückerobert hat, ist Idlib, und es soll noch mehrere Zehntausend Kämpfer dort geben und viele Flüchtlinge, wir haben es gerade gehört. Im Moment ist es dort relativ ruhig. Welche Perspektive sehen Sie für die Region?
    Lüders: Es bleibt schwierig, denn es überlagern sich hier so unterschiedliche Interessenseinflüsse. Auf der einen Seite will natürlich die syrische Regierung, das dortige Regime und die Russen ihre Macht konsolidieren in Syrien, auf der anderen Seite ist man nicht interessiert an einem Massaker an der Zivilbevölkerung. Aber was soll jetzt geschehen mit diesen radikalen Aufständischen, 10.000 bis 15.000 Mann nach wie vor unter Waffen? Sie sind im Grunde genommen Überbleibsel einer Strategie des Regimewechsels in Syrien, die maßgeblich von der Türkei, den Golfstaaten und den USA befeuert wurde. Dieser Regimewechsel ist gescheitert und diese 10.000 bis 15.000 radikalen Kämpfer wissen jetzt nicht, wo sie hinsollen. Am liebsten würden sie in die Türkei emigrieren, aber das können sie nicht, das lässt die türkische Regierung nicht zu.
    Kapitulation oder Showdown
    Kaess: Welche Lösung könnte es dann für diese Menschen geben?
    Lüders: Ganz schwierig, es gibt im Grunde genommen keine. Entweder kapitulieren sie, geben sie auf, oder es kommt am Ende doch zu einem Showdown. Vielleicht nicht in der Größenordnung, wie man das immer wieder zu Recht befürchtet hat, aber es ist nicht vorstellbar, dass das syrische Regime und die Russen sich mit diesen Leuten auf Dauer arrangieren werden. Es kommt irgendwann zum Showdown. Die Frage ist auch, woher sollen sie ihre Waffen nach wie vor bekommen? Die Waffenlieferungen aus der Türkei sind unterbrochen worden, sie haben militärisch gesehen keine Chance, aber sie könnten natürlich in einem letzten Akt der Verzweiflung den Untergang der Region insgesamt herbeizuführen suchen. Das ist völlig offen, wie es also in Idlib gegenwärtig weitergeht.
    Kaess: Aber Herr Lüders, wenn ich Sie richtig verstehe, dann sehen Sie nicht die Möglichkeit, dass das Assad-Regime sagen wird, wir akzeptieren das, dass wir keine Macht mehr über Idlib haben?
    Lüders: Nein, das ist völlig ausgeschlossen. Idlib ist eine strategisch wichtige Region, die letzte unter den bevölkerungsreichen Regionen in Syrien, die noch nicht unter der Kontrolle des Regimes stehen. Und Damaskus wird darauf bestehen, auch dieses Stück Land zurückzuerobern. Das ist auch aus strategischen Gründen sehr wichtig, weil hier die wichtigen Versorgungsrouten vom Mittelmeer in Richtung türkischer Grenze verlaufen. Auf Dauer wird dieser Zustand also nicht beibehalten werden können. Idlib ist aber nur ein Teil des Problems, das wir insgesamt haben in Syrien. Die Kämpfe zur Konsolidierung der Macht von Assad sind im Wesentlichen abgeschlossen. Aber natürlich, die verschiedenen Mächte, die von außen einwirken auf diesen Konflikt, wollen ihre Macht konsolidieren beziehungsweise verhindern, dass Russland und der Iran nun die mächtigen Akteure von außen werden in Syrien. Und von daher zeichnen sich ja schon neue Konfliktlinien weit über Idlib hinaus ab, vor allem deswegen, weil Israel und der Iran zunehmend einen Stellvertreterkrieg führen auf syrischem Boden, aber auch die USA und Russland.
    Pufferzone um Idlib
    Kaess: Lassen Sie uns noch mal ganz kurz bei der Frage zu Idlib bleiben. Sie haben jetzt gerade schon geschildert die verschiedenen Akteure, und Damaskus ist ja durchaus von diesen Akteuren abhängig. Es gibt im Moment diese Pufferzone um Idlib herum und die wird kontrolliert von der türkischen Armee und russischer Militärpolizei. Wie lange werden die Türkei und Russland denn diesen Status quo erhalten?
    Lüders: Lüders: Das weiß im Augenblick niemand. Ich vermute, dass die russische Seite der türkischen signalisiert, wir erwarten von euch, dass ihr dieses Problem löst. Denn diese Dschihadisten verfügen überwiegend über Waffen, die sie aus der Türkei erhalten haben. Und insoweit haben sie natürlich die Möglichkeit, die Türken, gegen diese Dschihadisten vorzugehen oder auch ihnen ein Angebot zu machen in der Sorte, dass sie in bestimmten Lagern im Südosten der Türkei oder wo auch immer untergebracht werden. Aber es ist im Augenblick wirklich so, dass keine Partei weiß, was man mit diesen Leuten tun soll. Es gibt für diese Bevölkerungsgruppe keine Zukunft.
    Kaess: Schauen wir dann auf das Ringen um einen politischen Prozess in Syrien. Wir haben das gerade gehört in dem Beitrag, es sollte eigentlich bis Ende Oktober ein Verfassungskomitee stehen, das dann die Grundlage für Wahlen in Syrien erarbeiten soll. Und Damaskus ist hier gegen den Einfluss der Vereinten Nationen bei diesem Prozess. Sehen Sie dafür dennoch eine Chance?
    Lüders: Nur dann, wenn Russland massiv Druck ausübt auf das Regime in Damaskus. Und das Problem ist, dass natürlich Russland und Iran ein Interesse daran haben, dass dieses Regime am Leben bleibt. Die westlichen Staaten, allen voran die USA, wollen aber nach wie vor einen Regimewechsel herbeiführen. Und wie kann man jetzt eine Lösung finden für die Syrer selbst? Das ist deswegen sehr schwierig, weil der Krieg in Syrien längst kein Bürgerkrieg mehr ist, sondern zu einem Stellvertreterkrieg mit ganz vielen Fronten sich verwandelt und fortentwickelt hat, sodass es schwierig ist, mit einfachen Lösungen zu arbeiten. Es braucht wohl eine Salamitaktik. Die Befriedung der Region peu à peu verschiedener Landesteile, die Frage einer Verfassung und freier Wahlen ist sehr schwierig. Denn das Problem ist, dass Syrien ein multiethnischer, ein multireligiöser Staat ist, und die religiöse Minderheit der Alawiten, die gerade einmal zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, sie kontrollieren die Macht. Wenn es also wirklich freie Wahlen gäbe in Syrien oder eine verfassungsgebende Versammlung, dann würden sie diese Macht zwangsläufig verlieren. Und die Bevölkerungsmehrheit der Sunniten, die etwa 60 Prozent der Bevölkerung ausmacht, sie wären dann die neuen Machthaber. Das wäre zwar im Interesse westlicher Einflussnahme in Syrien, aber eben nicht von Russland, Iran und dem syrischen Regime. Im Grunde genommen ist das die Quadratur des Kreises und niemand weiß, wie das hier weitergeht.
    Die sogenannte Astana-Gruppe
    Kaess: Sie sprechen von diesen verschiedenen Fronten. Es gibt ja auch so etwas wie eine Rivalität, so nenne ich es mal, um die verschiedenen Lösungsansätze, denn Moskau setzt ja diesem Verfassungskomitee, das entstehen soll, seinen eigenen Prozess entgegen, diese sogenannte Astana-Gruppe. Warum gibt es diese Rivalität um die verschiedenen Lösungsansätze von den Akteuren, die von außen da miteinwirken?
    Lüders: Weil Syrien eine wesentliche geopolitische Rolle in der Region des Nahen und Mittleren Ostens spielt. Hier geht es um Transportwege für Erdöl und Erdgaskorridore, hier geht es vor allem aber auch um die sich abzeichnende Konfrontation mit dem Iran seitens der USA, Israels und Saudi-Arabiens. Hier ist Syrien ebenfalls ein wichtiges Land, denn Damaskus ist der einzige Verbündete Irans in der Region. Diese verschiedenen Interessensgruppen überlappen sich in einem Maße, dass es eine einfache Lösung nicht geben kann. In der Vergangenheit haben die USA versucht, und mit ihnen die Europäische Union, über die Vereinten Nationen eine Friedenslösung für Syrien zu finden mit dem Ziel, Assad von der Macht zu entfernen. Davon kann mittlerweile nicht mehr die Rede sein, er wird an der Macht bleiben aufgrund der militärischen Lage vor Ort. Parallel dazu haben die Russen versucht, gemeinsam mit der Türkei und dem Iran, den sogenannten Astana-Friedensprozess einzuleiten. Das bedeutet, eine Friedenslösung zu finden unter Wahrung der Macht der religiösen Minderheit der Alawiten und des Regimes von Baschar al-Assad. Wie gesagt, es ist eine sehr schwierige Situation. Würde es wirklich freie Wahlen geben, sind die Alawiten ihre Macht los und sie haben große Angst, dass es dann zu Vergeltungsmaßnahmen, zu Massakern kommt ihnen gegenüber. Und das erklärt den großen Rückhalt, den das Regime Assad unter den Alawiten nach wie vor genießt, auch unter den übrigen religiösen Minderheiten, darunter den Christen, weil sie alle Angst haben, dass möglicherweise in Zukunft radikale Sunniten die Macht übernehmen könnten.
    Kaess: Sagen Sie uns noch kurz zum Schluss, Herr Lüders: Jetzt ist es ja so, dass Russland Deutschland und Frankreich in den Wiederaufbau miteinbeziehen will. Wird das darauf hinauslaufen, dass Deutschland und Frankreich die Kosten tragen, oder ist das auch eine Chance, mitzureden?
    Lüders: Zunächst einmal ist es bemerkenswert, dass Russland, Deutschland und Frankreich gemeinsam über die Zukunft Syriens verhandeln, miteinander reden, und zwar in Istanbul. Das ist ein starkes Signal, auch ein Signal der Niederlage, wenn man will, in Richtung Washington. Denn der entscheidende Akteur, von außen einwirkend auf Syrien, ist im Augenblick Russland, nicht die USA. Und letztendlich wird die Europäische Union sich am Wiederaufbau in Syrien beteiligen, aus eigenem Interesse auch, um zu verhindern, dass noch mehr Flüchtlinge kommen. Dass die Europäer hierfür einen Preis verlangen, versteht sich von selbst. Aber umgekehrt muss man sagen, dass ja auch die westliche Politik erheblich dazu beigetragen hat, Syrien zu zerstören, ebenso wie die russische und die iranische. Insoweit wäre es eigentlich nur, in Anführungsstrichen, gerecht, wenn auch alle Akteure von außen sich nun am Wiederaufbau beteiligen, wobei die große Frage bleibt: Wie geht es politisch weiter?
    Kaess: Die Einschätzung des Nahostexperten Michael Lüders, vielen Dank für das Gespräch heute Mittag!
    Lüders: Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.