Sandra Schulz: Palästinenserpräsident Abbas hat bei den Vereinten Nationen mit der Aufkündigung der Oslo-Verträge mit Israel gedroht. Hat er damit gedroht, oder hat er das Abkommen sogar schon faktisch aufgekündigt? Das ist jetzt die Frage. Die Palästinenser seien nicht länger an die Abkommen gebunden, wenn diese von Israel nicht eingehalten würden, sagte Abbas gestern bei der Generaldebatte in der UN-Vollversammlung in New York.
Mitgehört hat der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor. Guten Morgen.
Avi Primor: Guten Morgen!
Schulz: Wie interpretieren Sie die Worte von Palästinenser-Präsident Abbas?
Primor: Verzweiflung, ich halte das für Verzweiflung. Es geht ihm schlecht. Erstens geht es den Palästinensern schlecht, es geht dem Friedensprozess schlecht und es geht ihm persönlich schlecht. Der Mann sieht nicht, wie er aus der Klemme rauskommen kann. Er verliert seine Beliebtheit in seiner Bevölkerung, weil er keine Ergebnisse hat, und mit der heutigen Regierung in Israel kann er auch nicht mehr zurechtkommen. Das ist ein Schrei aus Verzweiflung, aber ich glaube nicht, dass er wirklich die Absicht hat, die palästinensische Autonomie aufzugeben.
"Die israelische Regierung will alles so halten, wie es ist"
Schulz: Wenn Sie sagen, das ist ein Hilferuf, wie muss Israel dann reagieren? Einem Hilferufenden muss man helfen?
Primor: Israel hat Interesse an der palästinensischen Behörde, weil sonst muss Israel sich selber mit den verschiedenen Alltagsproblemen der palästinensischen Bevölkerung beschäftigen, und das will Israel nicht. Aber echte Zugeständnisse machen will Israel auch nicht. Die heutige Regierung will eher weitere Siedlungen bauen und Teile der Gebiete vorbereiten für eine eventuelle Annektierung. Kein Mensch wird das offiziell sagen, aber das ist so in der Tat und das wissen die Palästinenser. Infolgedessen ist für die heutige israelische Regierung das Einzige, das sie interessiert, nichts zu machen, alles so halten wie es ist. Und wenn es Verhandlungen mit den Palästinensern geben soll, dann soll es eben so sein, warum nicht, aber von Zugeständnissen ist keine Frage.
Schulz: Aber warum ist das so? Der Status quo, der ist doch eigentlich kaum auszuhalten.
Primor: Es ist kein Status quo. Das ist eben das Problem. Und das behauptet ja Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Er sagt, was heißt Status quo, es wird nichts geändert. - Doch! Jeden Tag werden neue Tatsachen vor Ort geschaffen. Das heißt, man baut Siedlungen oder man erweitert Siedlungen und man bereitet die Annektierung eines Teils des Westjordanlandes vor, und das ist kein Status quo. Also jeder sieht das anders und deshalb ist auch Mahmud Abbas verzweifelt. Er versteht ja auch, dass er, wie schon gesagt, seine Beliebtheit in seiner eigenen Bevölkerung verliert. Die Jugend unter den Palästinensern will einen neuen Aufstand, will eine neue Intifada haben. Er ist sehr unter Druck. Es gibt schon große Unordnungen, kann man das so höflich sagen, in Jerusalem und er weiß, dass das sicher erweitert wird.
"Es gibt keinen Druck mehr auf Israel und die Palästinenser"
Schulz: Gewalt kann man es auch nennen. - Gibt es überhaupt noch was aufzukündigen an diesem Friedensabkommen? Der Frieden kommt ja eigentlich gar nirgendwo anders mehr vor als überhaupt im Namen dieses Abkommens.
Primor: Das Problem ist, es gibt auch keinen Druck mehr auf Israel, aber auch nicht auf die Palästinenser aus der Außenwelt. Die Außenwelt ist heute mit anderen Sachen beschäftigt. Auch die arabische Welt interessiert sich heute für die Palästinenser gar nicht. Sie haben die eigenen Probleme in den arabischen Staaten, die zerfallen, und mit der russischen Bombardierung in Syrien. Das sind die Sachen, die heute die Bevölkerungen im Nahen Osten einschließlich in Israel beschäftigen. Netanjahu wird heute eine Rede vor der UNO-Vollversammlung halten und wird wahrscheinlich wie meistens wieder von dem Iran sprechen, sein Lieblingsthema, und das ist auch eine Ablenkung gewissermaßen, aber er wird auch natürlich gegen den Palästinenserpräsidenten schimpfen, wie er es schon versprochen hat, weil er behauptet, dass seine Rede eine Verleumdungsrede war.
Schulz: Der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Avi Primor, hier heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk. Danke Ihnen ganz herzlich.
Primor: Danke Ihnen.
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